Die Biedermann-Villa in Łódź (Lodz), eine der vielen Erinnerungen an das »polnische Manchester«, wo Polen, Deutsche und Juden zusammenlebten und arbeiteten, war im Juni 2004 Tagungsort der Thalia Germanica, einer wissenschaftlichen Vereinigung, die 1982 im estnischen Tallinn gegründet und bislang vom kanadischen Professor Laurence Kitching, danach vom Dramaturgen des Vanemuine-Theaters Tartu, Evald Kampus, geleitet wurde. Die Referenten aus acht Ländern hatten sich die Schwerpunkte geteilt: die Theaterwissenschaftler und Germanisten aus Lodz, Bydgoszcz (Bromberg), Toruń (Thorn), Gdańsk (Danzig) und Poznań (Posen) beschäftigten sich mit dem deutschen Theater auf dem Gebiet des heutigen Polen. Die übrigen Referenten waren bestrebt, Beziehungen von Theaterleuten aus Ostmittel- und Osteuropa zu Polen herzustellen oder spezifische Entwicklungen im 20. Jahrhundert herauszuarbeiten, die mit Minderheitenkultur, Zensur und den politischen Zwangsmechanismen zu tun hatten.
Die Organisatorinnen der Tagung in Łódź, Małgorzata Leyko, Inhaberin des Lehrstuhls für Drama und Theater, sowie ihre Mitarbeiterin Karolina Prykowska-Michalak und der Germanist Artur Pelka setzten sich mit Einzelfragen zum deutschen Theater in Łódź auseinander. Karolina Prykowska-Michalak untersuchte die Tätigkeit des Laientheaters in Łódź im 20. Jahrhundert, Artur Pelka stellte die Dienstzeit des äußerst aktiven Theaterdirektors Adolf Klein (1909–1914) in Lodz dar. Dass man zum Beispiel Stücke bevorzugte, in denen Juden auftraten (Gutzkows Uriel Acosta, Herzls Das neue Ghetto) war eine Besonderheit der Zeit, in der die deutschen und jüdischen Textilunternehmer einvernehmlich miteinander planten und das gesellschaftliche Leben mit gestalteten. Małgorzata Leyko beschäftigte sich mit dem deutschen Theater in Lodz von 1939–1944, als die Gleichschaltung erfolgte und man beispielsweise Schillers Wilhelm Tell nicht mehr aufführen durfte, weil dort ein Anschlag auf einen österreichischen Vogt stattfand. Wie sehr die Theaterleitung – trotz der politischen Bevormundung – qualitativ anspruchsvolle Aufführungen auf die Bühne brachte, bevor das Theater in der allgemeinen Katastrophe verschwand, wird von Małgorzata Leyko eingehend beschrieben.
Aber es ging nicht nur um die NS-Zeit, sondern es begann mit den frühen Traditionen deutschen Theaters in Danzig, die Piotr Kąkol aufgrund neu entdeckter Dokumente zur Wanderbühne anders interpretierte, als man das gewohnt war. In ganz Europa gab es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung des vom Wohlstandsbürgertum getragenen deutschen Theaters. Das war in Bromberg und Posen nicht anders. In ihren Überblicken zur Geschichte des deutschen Theaters in diesen beiden Städten haben Elżbieta Nowikiewicz beziehungsweise Marek Rajch eine sehr reichhaltiges Faktenmaterial zusammengetragen. In Posen war das Nebeneinander von deutschem und polnischem Theater – wie bei jedem Konkurrenzunternehmen – spannend, in Bromberg gab es ein Zusammenwirken mit Ensembles, die auch in Posen auftraten. Diese Beziehungen sind noch heute Ausdruck der Bildungsgrundlagen, die im gleichen Kulturraum zwar vielfältig aber in mancher Hinsicht vergleichbar waren.
Auch in der Untersuchung von Marek Podliasak über die deutsche Bühne Thorn in den Jahren 1922–1939 ging es um Beziehungen zu anderen Städten, in denen die Thorner Gastspiele gaben. Allerdings stand in den dreißiger Jahren die Theaterkunst im Schatten politischer Auseinandersetzungen, und die Konflikte waren – auch bei besten Absichten – nicht immer vermeidbar.
Auf Beziehungen zu Polen gingen die Beiträge von Evald Kampus (Tartu) und Horst Fassel (Tübingen) ein. Kampus präsentierte die außerordentlich vielseitige Tätigkeit des gebürtigen Polen Joseph Zmigrodski (1858–1936) in Tartu, dessen Aufstieg und Fall für das städtische Theaterleben nicht ohne Folgen war. Horst Fassel untersuchte das Exilwerk des Wiener Dramatikers Franz Theodor Csokor, der zuerst in Polen, dann in Rumänien, zuletzt in Jugoslawien Zuflucht vor den Nazis und eine Möglichkeit suchte, seinen Beruf als Theaterfachmann fortzusetzen. Wie durch den Druck der Ereignisse viele Projekte scheiterten, wie der Kontakt zu den deutschen Minderheitengruppen zum Teil unterblieb und wie die Unterstützung durch polnische, rumänische und serbische Kollegen Csokors Spätwerk mit griechischen Mythen und Symbolen ermöglichte, ist nachlesbar.
Auf die städtische Bühnenkunst wird oft eingegangen. Wie diese ihre eigenen Funktionsmechanismen schuf und ausbaute, hat vor allem Paul Ulrich (Berlin) dargelegt. In einer Zusammenarbeit mit Hedvig Belitska-Scholtz (Budapest) hat er – als erster – die fast unüberschaubare Zahl der Theatergesetze durchgearbeitet und die Erkenntnisse gebündelt: wie exakt die Institution Theater organisiert war, entgegen den landläufigen Vorurteilen, wie viele Sicherungsmechanismen eingebaut waren (die Schauspieler durften sich beispielsweise die Rollentexte nur beim Bibliothekar entleihen), wird erörtert. Welche Rolle die Souffleure im Theaterbetrieb des 19. Jahrhunderts spielten, hat Ulrich – gemeinsam mit Eszter Kovács (Klausenburg), die Fallbeispiele aus Siebenbürgen lieferte – in einem zweiten Beitrag ermittelt. Die »Theaterjournale«, die von den Souffleure herausgegeben wurden, sind noch heute eine recht verlässliche Grundlage zur Kenntnis der Spielplangestaltung.
Zwei Beiträge aus England, von zwei jungen Theaterwissenschaftlern, Laura Bradley (Oxford) und Anselm Heinrich (Hull), setzen sich mit den Folgen politischer Zwangsinstrumentarien auf das deutsche Theater aus: Heinrich geht es um deutsches Exiltheater in Großbritannien, Bradley untersucht die Rolle der Zensur bei der Inszenierung von Sieben gegen Theben am Berliner Ensemble (und steht damit außerhalb der traditionellen Thematik der Thalia Germanica). Brigitte Dalinger (Wien) hat sich mit den vielfältigen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem jiddischen Theater auseinandergesetzt und damit ein wichtiges Kapitel der Theatergeschichte Ostmittel- und Südosteuropas angesprochen. »Bessere« Zeiten hat schließlich William Grange von der University of Nebraska im Visier: Er stellte die Gastspiele von Marie Geistinger in den USA (1880) dar.
Das Themenangebot dieser »kleinen« Tagung der Thalia Germanica (die regelmäßig alle 2 Jahre stattfindende Tagung war 2003 in Riga abgehalten worden) ist – wie immer – beträchtlich. Und wie oft (so auch 2000 im siebenbürgischen Klausenburg, wo es um Theater und Politik. Deutsche Minderheitentheater in Südosteuropa ging) standen die politischen Aspekte für die Institution Theater, die Dramatiker, die Zuschauer im Vordergrund, die das Funktionieren der deutschen Theater beträchtlich beeinflussten. Dass dabei oft das 20. Jahrhundert gewählt wird, als die NS-Diktatur – entgegen ihren Behauptungen, sich für die deutsche Kunst zu engagieren – das Ende langjähriger Kulturtraditionen bewirkte, ist auch diesem Sammelband zu entnehmen. Wie deutsche Theater, die neben polnischen, estnischen, ungarischen, rumänischen Theatern existierten, zunächst durch Gleichschaltung, danach durch Liquidierung aufgrund der Kollaboration mit den NS-Machthabern verschwanden, auch wenn die Künstler selbst sich bloß um die Ausübung ihrer Kunst und um gehaltvolle Darbietungen gekümmert hatten, wird an den Einzelbeispielen belegt.
Die Herausgabe des Bandes 6 der Thalia-Germanica-Reihe wurde vom Lehrstuhl für Drama und Untheater der Universität Łódź und vom Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen ermöglicht. Die drei Herausgeber haben sich dabei offenbar vorzüglich ergänzt und ihre jeweiligen Arbeitsschwerpunkte auch in den Aufbau dieses Buches eingebracht. Für Polen war es ein Novum, weil sich dieses Land mit seiner reichen Theatertradition den Fachleuten aus anderen europäischen Ländern so kompakt wie möglich präsentieren konnte. Da die meisten ReferentenInnen junge ausländische Wissenschaftler (oft Germanisten) sind, die unvoreingenommen an die Forschungsthemen herantreten, sind die Resultate – sehr viele erste einschlägige und detailgenaue Informationen über die jeweiligen Stadt- oder Minderheitentheater – anregend. Man muss hoffen, dass der Dialog aufgrund vertiefteren Wirkens fortgesetzt werden kann. Was die Thalia Germanica schon begonnen hatte, regionale und thematische Ansätze zu fördern, ist diesmal geschehen, und die deutsch-polnischen Kulturbeziehungen sind es wert, weitere Diskussionsforen dafür einzuplanen. Das gilt zweifelsohne auch für die übrigen Themen, denn schon 2006 soll im rumänischen Hermannstadt, wo es noch heute eine deutsche Abteilung des dortigen Staatstheaters gibt, die nächste Tagung stattfinden und Schwerpunkte setzen.
- www.uni.lodz.pl
Der Lehrstuhl für Drama und Theater der Universität Łódź