Nachdem die historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe Nikolaus Lenaus (1802-1850) inzwischen kurz vor dem Abschluss steht, legt der Lenau-Forscher Michael Ritter nun zum 200-jährigen Lenau-Jubiläum die erste ausführliche Biografie des großen Dichters vor. Wie der Verfasser im Vorwort bemerkt, gab es bereits zu Lebzeiten des Dichters Bemühungen, die düstere Lebensgeschichte Lenaus niederzuschreiben. Doch auch die biografischen Skizzen, die um die Jahrhundertwende, also zum 50. Todestag, erschienen, „gehen über ein oberflächliches Skizzieren der Lebensstationen [...] nicht hinaus“ (S. 10). Die bisherigen Darstellungen, so Ritter etwas holprig, „bieten kein detaillierteres Bild über den Dichter, sein Leben, sein Schaffen und manche der zeitgeschichtlichen und kulturhistorischen Zusammenhänge“ (S. 10).
Entsprechend hoch sind die Erwartungen an die nun vorliegende Darstellung, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sie von einem ausgewiesenen Lenau-Spezialisten verantwortet wird, der die beträchtliche Literatur zum Thema bestens kennt. Sein Ziel formuliert Ritter selbst wie folgt: „Diese Biografie will sich [...] nicht eine erneute literaturhistorische Einordnung der Dichterpersönlichkeit Lenaus zum Ziel setzen, sondern dem Menschen Lenau nachspüren, seinem Lebensweg, seinem Charakter, seiner Persönlichkeit, seinen Eigenheiten, aber natürlich auch generell seinem dichterischen Werk einen entsprechenden Raum geben, der notwendig ist, um die dahinter stehende Person kennen zu lernen“ (S. 11). Und dieses Ziel erreicht Ritter, besonders was das „Nachspüren“ betrifft, in hohem Maße. Der Leser wird weitgehend chronologisch (leider mit einigen vermeidbaren Wiederholungen) durch das insgesamt recht freudlose, wenn auch ereignisreiche Leben des Melancholikers von der Kindheit im Banat bis zu seinem frühen Tod in einer „Privatirrenanstalt“ in Oberdöbling bei Wien geführt. Ritter wertet die Quellen (Briefe, autobiografische Aufzeichnungen und Zeugnisse von Zeitgenossen) akribisch aus und enthält dem Leser kaum ein recherchiertes Detail des Lebensweges seines Helden vor. Mithilfe von Registern der erwähnten Namen und Orte sind die vielfältigen persönlichen Kontakte Lenaus und seine rastlose Reisetätigkeit zu erschließen. Gerade für den sporadischen Leser, der den Zugang zur Biografie Lenaus über die Register sucht, ist jedoch die chronologische Orientierung im Buch nicht immer einfach. Entsprechende Jahreszahlen im Kolumnentitel wären hier eine nützliche Hilfe gewesen. Dennoch ist das Buch ein hilfreiches Kompendium nicht nur zur Biographie Lenaus, sondern für jeden, der Informationen zum literarischen Leben der Zeit sucht.
Wer eine gut lesbare, wenn nicht spannende Erzählung von Lenaus Lebensweg erwartet, wird dagegen etwas enttäuscht sein. In der Fülle der erwähnten Details ist ein roter Faden jenseits der Chronologie (die zudem häufig zugunsten kleinerer Exkurse verlassen wird) nicht zu erkennen. Ein strukturierendes Thema hätte möglicherweise das dichterische Werk Lenaus abgeben können. Den Versen des Dichters, die allein ja das Erscheinen einer so ausführlichen Biografie begründen können, wird in dem Buch jedoch ausgesprochen wenig Platz eingeräumt. Dies muss wohl bei aller Hochachtung für die Leistung des Verfassers als wesentliches Minus dieser Biografie vermerkt werden. Der Leser erhält letztlich nicht viel mehr als eine mechanische Aufreihung von biografischen Einzeldaten, deren sinnhafte Verknüpfung ausbleibt. Die lange Reihe von verschiedenen Krankheitsanfällen, Reisen und amourösen Katastrophen sind allein nicht tragfähig für eine Biografie dieses doch recht bedeutenden Umfangs. Völlig ungeklärt bleibt die Frage nach der poetischen Umsetzung dieser für sich genommen ausschließlich grauenvollen Lebensgeschichte – die Frage nach der künstlerischen Sublimierung, die schließlich die Faszination des Dichters Lenau auch heute noch ausmacht. Die wenigen zitierten Fragmente von Gedichten scheinen leider nicht ganz fehlerfrei zu sein, wie Stichproben zeigten: vgl. etwa die auf S. 228 zitierten Zeilen aus „Beethovens Büste“ mit zwei groben, das Versmaß entstellenden Abschreibfehlern!. Solche Peinlichkeiten sollte ein Lektor zu vermeiden wissen. Mit der auf S. 230 erwähnten Beethovenschen „Teufelssonate“ op. 47 ist sicher die vorher bereits mehrmals richtig bezeichnete Kreutzersonate gemeint. Überhaupt hätte ein gründliches Lektorat, auf das der Verlag offenbar verzichtet hat, den Lesegenuss wesentlich erhöhen können. Stilistische Ungeschicklichkeiten, umgangssprachliche Fehlgriffe, inhaltliche Wiederholungen sind vielleicht gewöhnliche Befunde in umfangreichen Manuskripten. In einem gedruckten Buch sind sie nicht nur ärgerlich, sondern vermeidbar, aber eben nur, wenn das Manuskript professionell lektoriert wird. Damit ist die Chance, die Biografie des großen Banater Dichters einem breiteren Publikum in literarisch ansprechender Form näher zu bringen, nicht wirklich genutzt worden.
Die Rezension ist in Folge 1/2003 der Südostdeutschen Vierteljahresblätter (München) erschienen.