Es waren einmal Apotheker, Heilkundige und Mönche. Sie experimentierten mit erlesenen Kräutern und heraus kamen zuweilen kultige Getränke. Was heute vielerorts auf den Tisch, pardon: ins Glas kommt, war oft ursprünglich als Medizin vorgesehen. In vielen Fällen galten die alkoholischen Elixiere als wahre Wundermittel, die gegen alle möglichen Beschwerden helfen sollten – von Verdauungsproblemen bis hin zu allgemeinen Schwächezuständen. Die gesundheitlichen Nebenwirkungen des hohen Alkoholgehalts wurden dabei lange ausgeblendet.
Doch im Laufe der Jahre wandelte sich ihre Rolle: Was einst als medizinisches Heilmittel verabreicht wurde, entwickelte sich nach und nach zu einem Genussmittel. Der herbe Geschmack von Kräutern, die damit einhergehenden Aromen und auch die Wirkung machten diese Liköre nicht nur in Apotheken, sondern auch in Wirtshäusern und Gaststuben populär. Ob als Digestif nach dem Essen oder als besonderes Getränk bei Feierlichkeiten – Spirituosen wurden bald zu nicht mehr wegzudenkenden Bestandteilen der Trinkkultur auch des östlichen Europa. Und viele von ihnen überdauerten nicht nur Flucht und Vertreibung, sondern feierten nach ihrer »Übersiedlung« westlich von Oder- und Neiße eine zweite, wenn auch oft weniger pompöse »Renaissance«.
Da ist etwa der Stonsdorfer. Einem schlesischen Witz zufolge wird der rötlich schimmernde Kräuterschnaps sogar von Gott getrunken. Dies bedarf noch einer Prüfung, jedenfalls war die Gegend um Stonsdorf im niederschlesischen Riesengebirge bekannt für die Erzeugung von Kräutertinkturen. Die sonnigen Gebirgszüge und die schattigen Talschluchten beförderten das Wachstum von Wurzeln, Moosen, Kräutern, Beeren und Früchten aller Art, die von Kräutersammlern zusammengetragen wurden. Der Brauereigeselle Christian Gottlieb Koerner war es Anfang des 19. Jahrhunderts, der diese mit seinen in Paris gelernten Destillationsmethoden auf ein neues »Level« stellte: Aus der herkömmlichen Medizin wurde der bitter schmeckende Likör. Unter seinem Sohn Wilhelm stellte sich ein großer geschäftlicher Erfolg ein, 1868 wurde die Firma ins benachbarte Cunnersdorf verlegt, 1897 erfolgte die erste und 1908 eine weitere Markeneintragung als Koerner's Echt Stonsdorfer Bitter, die bis heute gültig ist.
Nach Flucht und Vertreibung 1945 wurde das Unternehmen in Harksheide, heute einem Stadtteil von Norderstedt, in Schleswig-Holstein wieder aufgebaut, 1999 übernahm die Berentzen-Gruppe die Produktion des 32-prozentigen Likörs. Stonsdorfer heißt heute nicht nur der weiterhin produzierte Kräuterbitter, der Name stand auch Pate bei der Benennung eines Gewerbegebiets in Norderstedt und zudem ist es zu einem Gattungsbegriff einer Vielzahl von ähnlich schmeckenden Likören geworden.
Einen ganz anderen Geschmack hat dagegen das Danziger Goldwasser, er riecht etwas scharf, schmeckt jedoch süßlich, würzig und fruchtig und das trotz oder wegen des höheren Alkoholgehalts von vierzig Volumenprozent. Dafür verantwortlich sind Destillate von Kardamom, Koriander, Zitronenschalen, aber auch Kümmel und Zimt. Die Rezeptur blickt auf eine vierhundertjährige Tradition zurück: Der niederländische Mennonit Ambrosius Vermöllen gründete 1598 eine Spirituosen-Fabrik im Danziger Haus Der Lachs und stellte unter diesem Namen Liköre her. 1606 soll hier das Goldwasser erfunden worden sein und das ist wortwörtlich gemeint: in dem Likör schwimmen 22-karätige Goldblättchen.
Rund um den Ursprung kursieren mehrere Legenden, eine besagt, dass die Heilwirkung der Kräuterextrakte durch Gold verstärkt werde. Eine andere wiederum, das edle Metall im »Wasser« stamme vom kunsthandwerklichen Vergolden etwa von Möbeln: Die Vergolder tauchten angeblich ihre Pinsel in Alkohol, wobei winzige Goldreste zurückblieben. Diese glitzernde Flüssigkeit wurde dann auf Trinkstärke verdünnt und mit Gewürzen verfeinert, um das bekannte Goldwasser herzustellen. So oder so ließ das Edelmetall in der Flasche diese nicht nur glänzen, sondern machte den hochprozentigen Likör zum noblen Gesellschaftsgetränk, das angeblich zum Lieblingslikör von Katharina der Großen wurde.
Der Lachs und die Spirituosenfabrik wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört und die Produktion nach Kriegsende sowohl in Niedersachsen als auch in Polen von dem staatlichen Spirituosenbetrieb Polmos aufgenommen. In Polen hergestellt wird auch »Krupnik«, ein aus Ostpreußen stammender Likör aus Honig, diversen Gewürzen und Hochprozentigem. In Litauen wiederum heißt er »Meschkinnes«, abgeleitet vom Wort meška für Bär und hier lässt sich seine Verbindung zu seinem ostpreußischen Pendant erkennen, dem »Bärenfang«. Krupnik und Meschkinnes sollen im 16. Jahrhundert ein beliebtes Getränk des Adelsstandes, der Szlachta, in der Rzeczpospolita, der Polnisch-Litauischen Union, gewesen sein. In Ostpreußen soll Honiglikör bereits 15. Jahrhundert existiert haben. Angeblich half ein junger Mann einem alten Imker, der selbst nicht mehr klettern konnte, dabei, den Honig aus den Bäumen zu sammeln. Um keinen Ärger mit Bären zu bekommen, die ebenfalls nach dem Honig suchten, gab er ihnen vergorenen Honig, damit sie betrunken wurden und einschliefen. So konnte der junge Mann in Ruhe ernten. Und der Honiglikör bekam seinen Namen »Bärenfang«.
Wie genau der Bärenfang hergestellt wird, dazu kursieren unzählige Rezepte. Gern wird er zu Hause zubereitet: Meist aus Blütenhonig, da die Verwendung von Waldhonig eine bittere Note verursachen kann. Einer der ersten kommerziellen Hersteller von Bärenfang war die Firma »Teucke & König« aus Königsberg. Von der Ostsee stammt auch ein weiterer hochprozentiger Likör: der Rigaer Schwarze Balsam oder Rīgas Melnais balzams, wie er auf Lettisch heißt. Dem Trunk von schwarzer Farbe und bittersüßem Geschmack mit seinen 24 geheimen Zutaten wird bis heute eine verdauungsfördernde Wirkung und zahlreiche medizinische Eigenschaften zugesprochen. Entstanden ist er Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich der Rigaer Apotheker Abraham Kunze an einem Kräutergemisch versuchte, das Kaiserin Katharina der Großen, die gerade in Riga weilte, nach längerer Krankheit wieder auf die Beine geholfen haben soll. Vielleicht war es auch nur der Schock des hohen Alkoholgehalts? Immerhin hat klassischer Balsam 45 »Umdrehungen« und wird daher heute gern als Grundlage für verschiedene Cocktails genutzt. Zudem stellt die Brennerei in Riga heute auch andere Geschmackssorten her, wie etwa Schwarze Johannisbeere, Kirsche oder mit Mint- und Schokoladengeschmack.
Die kreativen Cocktails machen auch den Besuch der Becher-Bar alljährlich zu einem der Highlights auf dem Filmfestival in Karlsbad/Karlovy Vary. Hier wird dem Kräuterbitter Becherovka nachdrücklich jeglicher Verdacht, nach Medizin zu schmecken, ausgetrieben. »Be-ton« (Becherovka mit Tonic Water) ist dabei noch die unspektakulärste Variante. Die Filmfans erholen sich vom Überfluss an Champagner bei einem Cocktail »La Bohème«: Becherovka mit Pfirsichsaft, dazu ein Schuss Earl Grey-Tee und Zitronensaft, garniert mit Zimtpulver und einem Apfelschnitz. Oder bei einem Glas »Roter Platz«, Becherovka aufgepeppt mit Himbeerpüree und frischem Rosmarin.
Dabei wurde Becherovka von dem Apotheker Josef Vitur Becher ausdrücklich als Heilmittel gegen Magenkrankheiten entwickelt. Seit 1794 experimentierte er mit dem Brennen von Spirituosen, die er in seiner Apotheke »Haus der drei Lerchen« verkaufte. Mit dem englischen Arzt Christian Frobrig, der im Jahr 1805 Prinz Maximilian Friedrich von Plettenberg als Leibarzt zu dessen Kur in Karlsbad begleitete, diskutierte Becher die Wirkung von Kräutern. Frobrig sollte die Gespräche so anregend gefunden haben, dass er bei seiner Abreise Becher ein Rezept hinterließ, aus dem dieser den Carlsbader English Bitter kreierte. Rund zwanzig unterschiedliche Kräuter beinhaltet das heute »Becherovka« genannte Getränk. Angeblich kennen auch heute nur zwei Personen den gesamten Produktionsprozess und mischen einmal pro Woche in der »Kräuterkammer« die dafür verwendeten Kräuter und Gewürze. Das war nicht immer so, aber dazu später.
Bechers Magenbitter war beliebt, aber der Durchbruch kam erst durch seinen Sohn Johann Nepomuk, der die Brennerei 1838 übernahm. Johann Becher ließ eine Fabrik bauen und begann den »Becher Carlsbad Bitter Liqueur« in großem Stil zu verkaufen, nicht nur in Böhmen, sondern bis nach England, in die Türkei, sogar nach Ägypten und in die USA. Die Geschäfte blühten. Bis zum Zweiten Weltkrieg.
Hansfred Gustav Becher, der einzige männliche Erbe, fiel an der Front und seine Schwester Hedda Becher übernahm 1941 die Geschäfte. Der gute Ruf des Magenbitters half ihr nicht. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Unternehmen von der neu entstehenden sozialistischen Tschechoslowakischen Republik verstaatlicht und die Firmenchefin gezwungen, das Rezept preiszugeben. Während in Karlsbad eine stark verkleinerte Belegschaft die Produktion weiterführte, wurde die ganze Familie Becher aus dem Land getrieben. Das Becherovka-Rezept nahm Hedda allerdings im Kopf mit und produzierte parallel zu den Tschechen ab 1949 in der »Johann Becher OHG Likörfabrik« den »Becherbitter«.
1984 kaufte Emil Underberg die Likörfabrik auf und setzte sich mit den Tschechen in Verbindung. Ab dann wurden die beiden Firmenstränge, der tschechische und der deutsche, wieder zusammengeführt. Und heute feiert sich das Unternehmen als »böhmisches Nationalgetränk«, Johann Becher wird kurzerhand zum tschechschen Honza und nach der Firmenübernahme durch Hedda 1941 überschlägt der Kalender zur Firmenhistorie großzügig die Folgejahre und fährt mit der »Erfindung« des Longdrinks »Beton« auf der Expo in Montreal im Jahre 1967 fort. Seiner Beliebtheit bei den Deutschen tut diese Geschichtsvergessenheit keinen Abbruch – Deutschland ist einer der wichtigsten Importeure, man findet Becherovka in jedem gut sortierten Supermarkt.
Ebenso, wie Unicum aus Ungarn. »Dr. Zwack, das ist ein Unikum!«, soll der österreichische Kaiser und König von Ungarn Joseph II. ausgerufen haben, als sein Hofarzt ihm ein Gläschen des Kräuterlikörs gegen seine Magenprobleme gereicht hatte. Das Rezept mit mehr als vierzig Kräutern soll der Hofarzt an seinen Sohm Joseph Zwack weitergegeben haben, der 1840 in Budapest die Firma Zwack gründete. Die Parallelen zur Historie des Becherovka sind frappierend. Nicht nur, dass Zwack 1821 in Battelau/Batelov im Kreis Iglau/Jihlava geboren wurde. Unicum war schnell so beliebt, dass er 1883 ein Patent auf die Marke beantragte und 1892 eine Fabrik in der Soroksári-Straße bauen ließ, wo der Magenbitter bis heute hergestellt wird. Aber auch hier endete die Geschichte vorerst mit dem Zweiten Weltkrieg.
Die Likörfabrik wurde bei der Bombardierung Budapests weitgehend zerstört. Nach dem Krieg begann die Familie mit dem Wiederaufbau – aber auch hier wurde das Unternehmen 1948 verstaatlicht und Béla Zwack wurde vom Eigentümer zum Mitarbeiter der Firma. Im Gegensatz zu Hedda Becher gelang es ihm aber, den Machthabern ein falsches Likörrezept unterzujubeln. Das Originalrezept nahm sein Bruder János auf seiner Flucht über Wien in die USA mit. Dort verklagte er Ungarn und konnte durchsetzen, dass Ungarn der Verkauf des dort produzierten Kräuterlikörs unter dem Namen Unicum verboten wurde – zumindest in den Westen. 1955 konnten auch Béla und seine Frau auswandern, 1958 begann die Familie in Italien wieder mit der Produktion von Unicum.
1988 kam auch hier wieder Emil Underberg ins Spiel, der Peter Zwack – mittlerweile Firmeneigentümer in fünfter Generation – half, die Fabrik in Budapest zurückzukaufen. Seit 1992 wird wieder vor Ort produziert. Und wie der Becherovka in Tschechien gilt auch der Unicum in Ungarn als Nationalgetränk. Wie er allerdings hergestellt wird, das weiß angeblich immer noch ausschließlich die Familie Zwack, die bis heute das Unternehmen leitet. Dieser Erfolg durch die Jahrzehnte soll Peter Zwack zum Slogan der Firma inspiriert haben: Csak pozitívan (Bleibe positiv).
Markus Nowak und Renate Zöller