Jährlich besetzt das Deutsche Kulturforum östliches Europa den Posten einer Stadtschreiberin bzw. eines Stadtschreibers im östlichen Europa. Etwa fünf Monate lang gilt es dann, sich mit dem historischen Kulturerbe des Ortes und der Region literarisch auseinanderzusetzen, über spannende Begegnungen und Erlebnisse zu berichten, Sehenswertes zu zeigen, Kontakte zu knüpfen – kurzum: am kulturellen Leben teilzunehmen. In diesem Jahr stand Dorpat/Tartu als eine der drei Europäischen Kulturhauptstädte 2024 auf dem Fahrplan. Und gereist ist Katrin Groth, Journalistin aus Berlin. Sie zieht ein Fazit ihres Stipendiums.
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Für das rosafarbene Ratsgebäude von Dorpat/Tartu machte der aus Rostock stammende Architekt Johann Heinrich Bartholomäus Walther den Entwurf. Der holländische Frühklassizismus diente ihm als Leitbild. Der Bau wurde 1786 eingeweiht. © Markus Nowak

Bei Dorpat/Tartu hatte ich direkt dieses Bauchgefühl. Dieses diffus-wohlige Gefühl, das mir sagte: Hier kannste bleiben. Ich kannte die Stadt nur aus Texten, war nie in Estland gewesen, geschweige denn im Baltikum. Und doch war da dieses Gefühl.

Ich war nach fünf Tagen in sechs verschiedenen Zügen und fünf überquerten Ländergrenzen in Dorpat angekommen, hatte meine Reisetasche auf den Bahnsteig gewuchtet. Es regnete in Strömen. An einer Ampel fiel mein Blick auf den Zettel, der in Folie verpackt um den Pfahl gewickelt war. Falling in love felt like coming home but in a place you have never been, stand da. »Sich verlieben ist wie Heimzukehren an einen Ort, wo man noch nie war.« War das ein Zeichen? Ich musste lächeln.

Dorpat ist eine alte Stadt, die älteste des Baltikums, wenn man die offiziellen Zahlen heranzieht. Um 1030 wird sie wohl erstmals erwähnt. Kriege, Brände und wechselnde Machthaber haben ihr Gesichtund ihren Namen – Tarbatu, Tērbata, Dorpat, Dörpt, Derpt, Tartu, Jurjew – ständig verändert. Zugleich ist Dorpat aber auch eine junge Stadt: Die Universität mache sie besonders, sie halte Dorpat ewig jung, hatte Bürgermeister Urmas Klaas mir beim Besuch im Rathaus gesagt. Jedes Jahr kommen neue Menschen, das war schon vor mehr als 200 Jahren so.

An der Entstehung der Universität lässt sich viel über die Geschichte der Stadt ablesen. Etwa, dass Deutsch die Sprache der oberen Gesellschaftsschicht, die Sprache der Deutschbalten und Bildungssprache war. Sozial aufsteigen hieß in Estland lange »Deutsch werden«. Oder die Russifizierungsversuche, als 1894 die russischen Herrscher erst ein orthodoxes Kreuz und acht Jahre später eine zwiebelförmige Kuppel aufs Uni-Dach setzten. Oder, als 1941 die Nationalsozialisten, die Estland besetzten, die Uni in Tarnfarben anmalten.

Heute weht die estnische Fahne auf dem Hauptgebäude. Blau, Schwarz und Weiß. Und dort nach oben, auf den Dachboden der Universität, stiefle ich im Sommer dieses Jahres.

Mit jedem Stockwerk wird die Treppe schmaler, knarzt das Holz ein bisschen mehr, bis ich vor einer Tür stehe, dahinter: der Dachboden. Tür auf, Tür zu, Dämmerlicht. Dunkle Holzbalken, die das Dach tragen, ein Weg aus Brettern, noch eine Tür. Dahinter ein Raum. Zwei Minifenster, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, in der Ecke ein Plumpsklo. Der Raum gerade so groß, dass man darin herumtigern kann.

Die Wände sind mit Sprüchen und Bildern bekritzelt. Da steht zum Beispiel: »Ein Fehler ist im Schöpfungsplan, dass man im Schlaf nicht trinken kann.«

Im 19. Jahrhundert war dieser Raum oder vielmehr die Zeit, die die Studenten hier verbringen mussten, als Erziehungsmaßnahme gedacht. Hier oben, unterm Dach der Uni, war eine Art Arrestzelle für Studenten-Vergehen: der Karzer.

Und der Strafenkatalog war lang. Unbezahlte Schulden: ein bis zwei Tage Karzer; im Park auf dem Domberg reiten: fünf Tage Karzer; Duellieren: drei Wochen Karzer. Das Uni-Gericht, dass die Urteile fällte, funktionierte unabhängig vom städtischen Gericht. Der spätere Uni-Rektor Friedrich Wilhelm Parrot saß wegen »Aufhetzens zur Schlägerei« ein, Dichter Kristjan Jaak Petersen, weil er sich abends in der Stadt »herumgetrieben hatte«, und der spätere Professor für Kunst und Philologie, Ludwig Mercklin, weil er gezecht hatte.

Vor lauter Langeweile wurden manche Studenten kreativ, bemalten die Wände, einer widmete dem Karzer ein Gedicht: »Da du ein Freund der Einsamkeit – Und fliehst des Lebens Sport – So stehe stehts für dich bereit – ein still verschwiegener Ort.«

Seit die in den Wirren des 17. Jahrhunderts untergegangene schwedische Universitätsgründung 1802 als Kaiserliche Landesuniversität Dorpat wiedereröffnet wurde, fand der Unterricht auf Deutsch statt. Im Hauptgebäude sind die Baupläne von damals ausgestellt, deutsch beschriftet. Draußen, an der Rückseite des Hauptgebäudes, sind im Sockel die Baujahre zu lesen. Von 1804 bis 1809, steht da in Stein gemeißelt.

Im 19. Jahrhundert war die Universität die einzige deutschsprachige im Russländischen Reich, und Ende der 1880er Jahre mit knapp 1 800 Studenten nach Moskau und St. Petersburg Russlands drittgrößte. Zwei der berühmtesten Absolventen sind Deutschbalten: Karl Ernst von Baer, der »Humboldt des Nordens« und Entdecker der menschlichen Eizelle, und der Nobelpreisträger für Chemie, Wilhelm Ostwald.

Frauen durften übrigens, wie fast überall in Europa, lange gar nicht an die Uni. 1905 erlaubte man ihnen, einigen Vorlesungen zuzuhören, aber erst 1915 konnten sie sich als Studentinnen einschreiben.

Von der Universität sind es nur ein paar Schritte bis zu Dorpats Ausgehmeile Rüütli, Ritterstraße heißt sie in alten Stadtplänen. Tagsüber reihen sich Cafés aneinander, abends verwandeln die sich in Clubs und Kneipen. An einem Nachmittag treffe ich hier Maarja Pärtna.

Wir sitzen im Hof des Café Krempel, ihrem Lieblingsplatz. Vor uns steht Kaffee, über uns ballen sich die Wolken. Maarja Pärtna ist Dichterin, Autorin und Dorpats estnische Stadtschreiberin. Sie hat in Dorpat studiert, und ist, wie so viele, geblieben. 2010 hat sie ihr Debüt Rohujuurte juures veröffentlicht, zu Deutsch: »An der Basis«. In ihren Texten, die in elf Sprachen übersetzt wurden, geht es um sozial-ökologische Themen, um Klimaangst und den Verlust von Biodiversität.

Aber was macht nun eigentlich eine Stadtschreiberin? Ich schaue Maarja Pärtna an, die mit ihrer großen runden Brille auf mich wie eine kluge Literatin wirkt. Endlich kann ich diese Frage einmal selbst stellen, statt sie zu beantworten. »Ich sage meist, dass ich auf der Suche nach Geschichte(n) bin«, sagt sie. Maarja Pärtna erzählt von Dorpat als Stadt der Literatur, als Teil des Unesco-Netzwerks kreativer Städte. Heidelberg gehört dazu, und Wilna/Vilnius, Odesa/Odessa, Barcelona, Bagdad und Beirut. Maarja Pärtna kümmert sich um Gast-Autorinnen, koordiniert Netzwerk-Veranstaltungen, reist.

Eigentlich habe sie sich mit der Idee beworben, ein Gedichtband zu schreiben. Maarja Pärtna lacht ein Lachen, dass irgendwo zwischen Entschuldigung und Enttäuschung schwingt. Erst zwei Wochen habe sie daran arbeiten können, seit sie im Januar als Stadtschreiberin angefangen hat. Aber bis Dezember ist ja noch Zeit.

»Ich bin eine langsame Schreiberin«, sagt Pärtna. Ich nicke, mir geht’s genauso. Und die romantische Vorstellung von der Literatin im Kaffeehaus? Maarja Pärtna schüttelt den Kopf. Sie braucht es ruhig, um kreativ zu sein. Am liebsten arbeite sie in der Uni-Bibliothek, eine Angewohnheit aus Studienzeiten, sagt sie. Und: »Wegen der bequemen Sessel.«

Schade, dass meine Stadtschreiberei nur den Sommer über dauerte.

Denn das ist Dorpat für mich: Ein nicht enden wollender Sommer und Tageslicht bis Mitternacht. Hunderte Jahre alte Holzhäuser und das Freiluftkino auf dem Rathausplatz. Mit fünf Leuten auf einer Holzschaukel schwingen und in einem hölzernen Cargoschiff wie im 17. Jahrhundert über den Embach/Emajõgi schippern. Tartu, das ist Kali (»Kwas«) trinken wie in Russland – ein malziges Getränk aus vergorenem Brot –, Zimtschnecken essen wie in Schweden und dunkles Roggenbrot backen, wie es das nur in Estland gibt.

Dorpat, das ist knallbunte Streetart und Karaoke, der Brunnen mit davor knutschenden Studenten und ein Kreativzentrum in einer ehemaligen Maschinenfabrik, mit einem Kater als Hausherr. Dorpat, das waren mehr als 1 000 Veranstaltungen im Kulturhauptstadtjahr.

»Arts of Survival«, Überlebenskünste, war das Motto dieses Jahres. Und manchmal wird das brutal real.

Ein sonniger Sommersonntag, die Innenstadt ist autofrei. An einem Tisch, auf dem sich Zeitschriften und Schnipsel stapeln, steht Viktoria Berezina. Sie ist Künstlerin, Kuratorin, Grafikdesignerin, kam vor knapp zwei Jahren in die Stadt. Sieben Monate hatte sie in Cherson ausgeharrt, ehe sie mit Mann und Bruder die Ukraine verließ. Jetzt zeigen eine Dorpater Galerie und das Kunstmuseum der Universität ihre Arbeiten. »Es ist toll hier, und sicher«, sagt Berezina, aber im Hinterkopf habe sie die Situation in der Ukraine. Ihre Eltern sind noch dort.

Gemeinsam mit anderen Ukrainerinnen und Ukrainern hat Viktoria an etwas gearbeitet, das sie »Kaleidoskop der Emotionen« nennen. Ein Netz, wie von einem Fußballtor, an das unzählige Stoffstücke geknotet sind. Fröhlich flattern die im Wind. Jedes Stück Stoff steht für eine Emotion. Helle Farben: positive Gefühle, dunkle Farben: negative. Seit 2023 hat sich die Gruppe getroffen und, angeleitet von einer Psychologin, über Gefühle gesprochen. Wie ist es, in einem sicheren Land zu leben, wenn zuhause Krieg ist? Wie baut man einen neuen Alltag auf? Wie hält man Angst aus? Was macht Mut?

Etwa 3 000 Menschen aus der Ukraine leben derzeit in Dorpat, wo Schilder den Weg zum nächsten Schutzraum weisen, Menschen sich Gedanken über einen möglichen Ernstfall machen und der Bürgermeister vor dem aggressiven Nachbarn warnt. Denn auch das ist Dorpat in diesem Sommer: Das Bewusstsein, dass Frieden, Sicherheit und Demokratie ein großes Privileg sind.

Der Stadtschreiberinnenblog von Katrin Groth: www.stadtschreiberin-dorpat.de