Von den östlichen Sudeten über die Mährische Pforte bis zu den Beskiden, einer der westlichsten Ketten der Karpaten, ziehen sich die historischen schlesischen Gebiete innerhalb der Grenzen der Tschechischen Republik. Der Landstrich, in dem traditionell mehrere Völker und Sprachen zu Hause waren, hat nach den gewaltigen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts nur in einem geringen Umfang seinen multiethnischen Charakter bewahrt. Von Dawid Smolorz und Renate Zöller
September/Oktober 2024 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1443
1
Mit der Teilung Schlesiens wurde der Fluss Olsa, tschechisch Olše und polnisch Olza, zur Grenze. Überqueren kann man sie etwas über die Die »Brücke der Freundschaft« in Teschen. © Mazur Travel/Adobe Stock

»Ja, so in etwa sah es wirklich noch in der Guten Stube bei meinen Großeltern aus«, freut sich Jana Schlossarková und lehnt sich entspannt im gepolsterten Ohrensessel zurück. Möbel, gehäkelte Deckchen und sogar ein Grammophon hat das »Museum des Hultschiner Ländchens« in Hultschin/Hlučín zusammengetragen, um einen Eindruck zu vermitteln, wie die Menschen hier früher gelebt haben. Schlossarková ist Dichterin und sozusagen die Archivarin der Hultschiner Mundart, einer Mischung aus Tschechisch, Polnisch und Deutsch. »Francek spadnul z dacha, zlomil se genig. Tuž přijelo retunksauto, vzalo Francka mit. Francek musi operovač. Francek hat kajn geld a tož musi krepirovač fon der šénen welt«, singt sie. Grob übersetzt heißt das »Francek fiel vom Dach, er brach sich das Genick. Also kam das Rettungsauto und nahm Francek mit. Francek muss operiert werden. Francek hat kein Geld, also muss er krepieren von der schönen Welt.«

Jana Schlossarková im Museum des Hultschiner Ländchens aus dem Nähkästchen plaudert, versammeln sich die Mitarbeiter und lauschen ihr gerne. Foto: © Renate ZöllerJana Schlossarková im Museum des Hultschiner Ländchens aus dem Nähkästchen plaudert, versammeln sich die Mitarbeiter und lauschen ihr gerne. Foto: © Renate Zöller

Was immer sie in ihrem Heimatort Hultschin an Kinderliedern oder lustigen Anekdoten, aber auch an nachdenklichen Überlieferungen aufschnappte, hat Schlossarková aufgeschrieben und in zahlreichen Büchern veröffentlicht. Das ist keineswegs selbstverständlich. »Vor 1989 wäre es unmöglich gewesen, meine Bücher zu veröffentlichen«, sagt sie. Erst nach der Samtenen Revolution wuchs das Interesse an der Minderheit der Hultschiner. Dann aber gab es einen regelrechten Hype um die heute 83-Jährige. »Leute sprachen mich auf der Straße an, um mir ihre Geschichten zu erzählen, damit ich sie aufschreibe und sie nicht verloren gehen.« Heute ist Schlossarková eine der Letzten, die den Dialekt noch beherrscht. Das Interesse ist zwar groß, aber im Alltag verschwinden die alten Traditionen.

Das Hultschiner Ländchen gehört zur weitgehend uneinheitlichen, ja zufälligen Ansammlung von Gebieten, die heute als Mährisch Schlesien bezeichnet werden. Im 18. Jahrhundert wurden sie von dem nördlichen (früher preußischen, heute polnischen) Teil der Region durch Staatsgrenzen getrennt. In den Kriegen gegen Österreich eroberte Preußen fast das gesamte Schlesien, so dass nur ein relativ schmaler südlicher Streifen unter der Verwaltung Wiens verblieb. Darin lagen zwei größere Städte: Troppau/Opava und Teschen/Cieszyn bzw. tschechisch Těšín. Wie die meisten mitteleuropäischen Regionen war auch dieser Landstrich multiethnisch. Der Westen, der Teile des ehemaligen Neisser Bistumslandes mit Freiwaldau/Jeseník und dem Sommersitz der Breslauer Bischöfe Jauernig/Javorník umfasste, war deutschsprachig, die Mitte überwiegend tschechischsprachig, im Osten sprach die Landbevölkerung wiederum mehrheitlich einen lokalen polnischen Dialekt.

Nach dem Zerfall der Donaumonarchie 1918 war der frisch entstandene tschechoslowakische Staat bestrebt, nicht nur das bisher österreichische Schlesien vollständig unter eigener Kontrolle zu behalten, sondern aus strategischen und wirtschaftlichen Gründen auch Gebiete im bis dahin zum Deutschen Reich gehörenden Teil Oberschlesiens zu gewinnen. Diese Pläne wurden allerdings nur von bescheidenem Erfolg gekrönt. In Versailles erhielt Prag lediglich ein kleines Fragment des deutschen Landkreises Ratibor, das sogenannte Hultschiner Ländchen, dessen Einwohner zwar überwiegend einen mährischen Dialekt sprachen, aber eine starke preußische Gesinnung hatten und »das Reich« als ihre Heimat betrachteten. Auch nach 1920 empfanden sie sich nicht als Tschechen. Aber die Möglichkeit, ihren Willen in einer Volksabstimmung zum Ausdruck zu bringen, blieb ihnen verwehrt.

Das im äußersten Osten des ehemaligen Österreichisch-Schlesien gelegene mehrheitlich polnischsprachige Teschener Schlesien wurde wiederum nach einer heftigen, teilweise bewaffneten Auseinandersetzung 1920 durch den Vertrag von Spa ungefähr zur Hälfte zwischen Polen und der Tschechoslowakei aufgeteilt. Die nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Staatsgrenzen sind hier bis heute geblieben. Über Jahrhunderte waren Troppau und Teschen die größten urbanen Zentren des Landstrichs, der heute als Mährisch Schlesien bezeichnet wird. Erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erwuchs ihnen eine Konkurrenz in Form mehrerer, meist junger Industrieorte, die sich am Ende zu der mährisch-schlesischen Doppelstadt (Mährisch) Ostrau/Ostrava zusammenschlossen. Troppau, das trotz der Zerstörungen in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs mit seiner eleganten Architektur und seinem Ambiente immer wieder beeindruckt, hatte in der Habsburgermonarchie den Rang der Hauptstadt des Kronlandes Schlesien. Das sieht und spürt man bis heute. Unter anderem wegen der großzügig entworfenen öffentlichen Gebäude macht der knapp 60 000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Ort beinahe einen großstädtischen Eindruck.

Die frühere Herzogstadt Teschen ist in dieser Hinsicht anders, und zwar nicht nur, weil sie im Gegensatz zu Troppau 1945 keine Kriegsschäden erlitt. Charakteristisch für die auf mehreren Hügeln gelegene Altstadt sind malerische schmale Gassen, und unter den vielen Baudenkmälern verdient die Jesuskirche besondere Erwähnung. Das riesige Gotteshaus entstand im frühen 18. Jahrhundert, nach der Unterzeichnung der Altranstädter Konvention, als eine der sechs Gnadenkirchen in Schlesien und war jahrzehntelang die einzige evangelische Kirche Oberschlesiens. Teschen hat darüber hinaus ein weiteres besonderes Merkmal. Seit 1920 verläuft nämlich quer durch die Stadt, entlang des Flusses Olsa, eine Staatsgrenze. Das historische Zentrum liegt in Polen, der westliche Teil der in der Habsburgerepoche erbauten Innenstadt mit dem in der Zwischenkriegszeit angelegten Marktplatz gehört dagegen zur Tschechischen Republik. Grund für diese kuriose Grenzführung, die weder die sprachlichen noch die ethnischen Verhältnisse widerspiegelte, war der während der Konferenz von Spa durch die Vertreter des Völkerbunds umgesetzte Gedanke, die wichtige Kaschau-Oderberger Bahn vollständig bei der Tschechoslowakei zu belassen. Jahrzehntelang, auch in der sozialistischen Realität, war die Grenze ein Hindernis, das die Kontakte zwischen Menschen von beiden Olsa-Ufern stark beeinträchtigte. Dies änderte sich erst nach dem Fall des Kommunismus. Heute ist die Grenze gar keine Barriere mehr, da sowohl Tschechien als auch Polen seit 2007 dem Schengen-Raum angehören.

Auch in Ostrau haben die Grenzen eine gewisse symbolische Bedeutung, wobei in diesem Fall nicht Staats-, sondern regionale Grenzen gemeint sind. Denn den Kern der Stadt bildet das frühere Mährisch Ostrau, das eben in Mähren liegt. Es bildet einen Keil, der tief in die schlesischen Gebiete hineinragt und von drei Seiten von Schlesien umgeben ist. Durch mehrere Eingemeindungen entstand im 20. Jahrhundert ein sich über die regionalen Grenzen hinaus erstreckendes urbanes Zentrum, das mit seinen knapp 300 000 Einwohnerinnen und Einwohnern heute das drittgrößte der Tschechischen Republik ist.

Jahrzehntelang prägten Fördertürme und Hochöfen der Hüttenwerke das Bild der Stadt und ihrer Umgebung, da das zwischen Ostrau und Karwin/Karviná gelegene Kohlerevier das größte Industriegebiet der Tschechoslowakei war. Seit der politischen Wende in Mitteleuropa arbeitet die Stadt konsequent an ihrem neuen Image. Mittlerweile assoziieren viele Menschen die mährisch-schlesische Metropole nicht mehr mit Bergbau und Hüttenwesen, sondern mit dem multifunktionalen Kultur- und Wissenschaftszentrum Dolní Vítkovice, das auf dem Gelände eines riesengroßen Industriekomplexes entstand, und mit der weit über die Grenzen Tschechiens hinaus bekannten Straße Stodolní, die aufgrund ihrer unzähligen Klubs, Bars und Restaurants oft als »Straße, die nie schläft«, bezeichnet wird.

Die Rotunde der Heiligen Nikolaus und Wenzel in Teschen gehört zu den wichtigsten Sakralbauten vorromanischer Zeit im östlichen Mitteleuropa. Sie ist auch auf der polnischen Banknote für 20,– Złoty abgebildet. Foto: © Renate ZöllerDie Rotunde der Heiligen Nikolaus und Wenzel in Teschen gehört zu den wichtigsten Sakralbauten vorromanischer Zeit im östlichen Mitteleuropa. Sie ist auch auf der polnischen Banknote für 20,– Złoty abgebildet. Foto: © Renate Zöller

Die ethnische und die sprachliche Vielfalt ist in jenem Umfang, in dem sie über Jahrhunderte in diesen Gebieten bekannt war, heute Geschichte. Infolge des Zweiten Weltkriegs wurde sie zerstört. Im Hultschiner Ländchen hatte die Bevölkerung die Besetzung durch die Nationalsozialisten zu großen Teilen freudig begrüßt. »Plötzlich gab es Arbeit für die Hultschiner«, erzählt Schlossarková. Ihre Mutter wurde zur Landarbeit in den Westen geschickt – dafür bekam sie Essen und Geld. Und sie sah, dass dort die Straßen besser unterhalten waren, überall funktionierte die Versorgung mit Wasser und Strom. »Viele Leute hofften, dass der Lebensstandard unter Hitler auch hier besser werden würde.«

Stattdessen vernichtete die nationalsozialistische Politik Hitler-Deutschlands die jüdische Gemeinschaft, die sich größtenteils mit dem deutschen Kulturkreis identifiziert hatte. Die meisten Deutschen mussten wiederum infolge der Beschlüsse der Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg die Region verlassen. Somit erlebten weite Teile Mährisch Schlesiens einen kompletten Bevölkerungsaustausch. Anstelle der vertriebenen Deutschen wurden Tschechen aus dem Landesinneren und aus dem von der Sowjetunion annektierten Wolhynien sowie Slowaken und Roma angesiedelt. Etwa vierzig Jahre lang waren auch Griechen ein Element des dortigen Nationalitätenmosaiks, da die Tschechoslowakei nach dem Bürgerkrieg in Griechenland Ende der 1940er Jahre eine Gruppe von Kommunisten und Sympathisanten linker Gruppierungen aus diesem Land aufgenommen hatte.

Im östlichen Teil Mährisch Schlesiens ist die polnische bzw. polnischsprachige Bevölkerung zu Hause. Die Unterscheidung hat ihren Grund, denn die Muttersprache wirkt sich nicht immer automatisch auf die nationale Identität aus – dieses Phänomen lässt sich am Beispiel des Ortes Hertschawa/Hrčava gut illustrieren. Das komplett polnischsprachige 200-Seelen-Dorf wurde 1920 Polen zugesprochen. Daraufhin unterschrieben alle erwachsenen Einwohner eine Petition, in der sie aus praktischen Gründen (leichterer Zugang zu Ämtern und Läden) auf eine Korrektur der Grenze pochten. Ihrem Wunsch hat die internationale Grenzkommission entsprochen, so dass Hertschawa ein Jahr später vorläufig und 1924 endgültig an die Tschechoslowakei angeschlossen wurde.

Die Zahl der Einwohner Mährisch Schlesiens, die sich als Polen fühlen, sank in den vergangenen Jahrzehnten bedeutend. Noch in den 1960er Jahren bekannten sich dort etwa 60 000 Bürgerinnen und Bürger zur polnischen Nationalität. Bei der Volkszählung von 2021 gaben aber nur noch knapp 26000 »polnisch« als Volkszugehörigkeit an. Die polnische Minderheit ist dennoch gut organisiert und verfügt über ein eigenes Schulwesen. In mehreren Städten und Gemeinden, in denen der polnische Anteil mindestens zehn Prozent beträgt, stehen zweisprachige Ortstafeln. Auch sind einige Bahnhöfe in der Region zweisprachig beschildert. Verwaltungsmäßig liegt Mährisch Schlesien heute innerhalb der Grenzen zweier Bezirke: von Olmütz/Olomoucký kraj und Mährisch Schlesien/Moravskoslezský kraj. Beide setzen sich aus schlesischen sowie mährischen Gebieten zusammen.

Erwähnenswert ist auch, dass – obwohl die Tschechische Republik heute keinen föderalen Aufbau hat – in ihrem Staatswappen neben dem böhmischen Löwen und dem rot-weiß geschachten mährischen Adler auch der schwarze schlesische Adler zu sehen ist. Damit wird an die Tradition der drei Länder der böhmischen Krone angeknüpft.

Für Jana Schlossarková ist das ganz selbstverständlich. Wird sie nach ihrer Identität gefragt, muss sie nicht lange nachdenken. Im Ausland bezeichnet sie sich als Tschechin, in Tschechien als Mährerin, in Mähren als Schlesierin. In ihrem Herzen aber, gesteht sie verschmitzt lächelnd, ist sie Hultschinerin.

_____________________________________________________

KK 1443 TitelCoverDer Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1443 | September/Oktober 2024

mit dem Schwerpunktthema: 
Von Weinbergen zu Hochöfen – Mähren