Für einen Spaziergang auf Franz Kafkas Spuren in Prag schlägt Petr Brod als Treffpunkt die Mariensäule auf dem Altstädter Ring vor, sozusagen den Mittelpunkt von Franz Kafkas Leben. Von hier aus ist der Radius, in dem er sich die meiste Zeit seines Lebens bewegt hat, überschaubar. »Dieser enge Kreis bestimmt mein ganzes Leben«, soll er selbst gesagt haben.
Nur das winzige Häuschen in der Goldenen Gasse der Burg, das er jahrelang als Schreibstube nutzte, um dem Lärm der Stadt zu entkommen, liegt etwas weiter weg. Und für das Kafka-Museum fand sich 2005 nur noch auf der Kleinseite Platz, in der Herget-Ziegelei, die Kafka allerdings vermutlich nie betreten hatte.
Petr Brod, Journalist und unermüdlicher Vermittler für die tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen, sieht Kafka als eine wichtige Identifikationsfigur für die heutige jüdische Gemeinde in Prag: »Er ist eines der Wahrzeichen des jüdischen Prag, jemand, der sich immer dazu bekannt hat, Jude zu sein und sogar zionistische Neigungen gezeigt hat. Heute ist er vermutlich der bekannteste Schriftsteller der Welt. Für die jüdische Gemeinde hier ist er ein Quell des Stolzes.«
Der 72-Jährige schlendert auf die Mitte des Altstädter Rings und schaut um sich: Seit 1915 befindet sich auf dem Platz ein Denkmal für Jan Hus und seine Mitstreiter. Die Mariensäule, ursprünglich 1650, nach dem Dreißigjährigen Krieg, von Kaiser Ferdinand III. aus Dank für die Rettung Prags vor einem schwedischen Heer gestiftet, wurde 1918 von tschechischen Nationalisten zerstört und 2020 wiedererrichtet. Hässlich findet Brod sie, aber so sei der Zustand wiederher-gestellt, in dem Franz Kafka »seinen« Altstädter Ring als erwachsener Mann gesehen habe.
Petr Brod vor der Kafka-Statue © Renate ZöllerUnverändert dominiert auch das Kinsky-Palais, ein prächtiger Barockbau, die Ostseite des Platzes. Und das war für Kafka in gleich mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Brod weist auf die beiden großen Fenster unten rechts. Hier war das Galanteriewarengeschäft von Hermann Kafka, Franz’ Vater. Und für ihn arbeitete der Großvater von Petr Brod einst als Handelsgehilfe. Petr Brod ist nicht direkt mit Max Brod, Kafkas bestem Freund, verwandt, aber durch den Großvater bewegte sich auch seine Familie im Dunstkreis des Schriftstellers. In dem Gebäude war auch Kafkas Schule, das Altstädter Gymnasium, untergebracht, in dem auf Deutsch – und der deutsche Literaturkanon – unterrichtet wurde. Zu guter Letzt verkündete Klement Gottwald vom Balkon dieses Gebäudes die kommunistische Machtübernahme. Die spielte für die Rezeption Kafkas eine enorme Rolle.
»Die Kommunisten waren ursprünglich nicht antisemitisch eingestellt, an der Geburt dieser Bewegung waren ja viele Persönlichkeiten jüdischer Herkunft beteiligt«, sagt Brod. Trotzdem entwickelte Stalin ihnen gegenüber ein tiefes Misstrauen. Sichtbar war das in den 1950er Jahren in den Schauprozessen, denen vor allem jüdische Menschen zum Opfer fielen. Kafka wurde tabuisiert, sicher auch wegen seiner grotesken Überzeichnung von hierarchisch-bürokratischen Machtsystemen. Die hatte nämlich durchaus das Potential, Widerstand gegen den Sozialismus zu fördern. Eine erste Kafka-Konferenz 1963, initiiert vom Germanisten Eduard Goldstücker, wird sogar als einer der Auslöser des Prager Frühlings und der Demokratisierungsbestrebungen gesehen. So war das Anbringen der Gedenktafel am Geburtshaus Kafkas, zu dem Brod mittlerweile geschlendert ist, in den 1960er Jahren noch eine gefährliche Herausforderung und ein politisches Statement. Auch Brods Vater Leo hatte dazu beigetragen. Er habe sich den Kafkas verpflichtet gefühlt, glaubt Brod, und offenbar hat er dieses Pflichtgefühl auch an seinen Sohn weitergegeben.
Ebenso wie der Journalist und Schriftsteller František Kraus, ein Bekannter Kafkas aus dem sogenannten Prager Kreis. Sein Sohn Tomáš Kraus war lange Sekretär der Föderation der jüdischen Gemeinden der Tschechischen Republik und ist derzeit sehr bemüht, der schwächelnden Prager Franz-Kafka-Gesellschaft (Společnost Franze Kafky) wieder auf die Beine zu helfen. Der 70-Jährige erwartet seinen Freund Brod schon in der Široká-Straße vor der Buchhandlung der Gesellschaft. Sehr bald nachdem Václav Havel auf einem anderen Balkon, auf dem Wenzelsplatz, den Fall des kommunistischen Regimes verkündet hatte, wurde diese noch im November 1989 gegründet und Kraus war schon damals involviert. Seither hat sie das gesamte Werk Kafkas auf Tschechisch herausgebracht. Sie hat 2003 ein erstes Kafka-Denkmal gestiftet, das den Schriftsteller auf den Schultern eines leeren Mantels reitend zeigt. Und sie schuf einen renommierten Literaturpreis, der gleich mehrfach Literaturschaffenden verliehen wurde, die kurz darauf den Nobelpreis erhielten. Derzeit hakt es bei der Finanzierung und zu allem Überfluss läuft auch noch der bisher günstige Mietvertrag aus. Zur Rettung der Gesellschaft hat Kraus einen Verlag ins Haus geholt, der sich neben der (Wieder-)Auflage weiterer Prager jüdischer (und damit oft deutschsprachiger) Autoren längerfristig auch der Organisation der Gesellschaft annehmen soll. Denn beiden, Brod und Kraus, ist bewusst: Ein Generationenwechsel steht bevor und es gilt heute, ihre Verbundenheit mit Kafka an Jüngere weiterzugeben.
So, wie das beispielsweise gerade Jan Linka tut, Lehrer am Erzbischöflichen Gymnasium in Prag-Vinohrady, den ehemaligen königlichen Weinbergen. Auf dem Lehrplan steht Der Prozess nicht, aber er gehöre, findet Linka, mit zu den wichtigsten Büchern überhaupt, eine seinerzeit unerhörte Neuerung, die die Literatur weltweit beeinflusst habe. Er bedauert, dass die sozialistische Tschechoslowakei den Autor als Teil der deutschen Gesellschaft schmähte und er in seiner eigenen Schulzeit Kafka nur privat las. Linka hält das Buch Kompendium německé literatury českých zemí (Handbuch der deutschen Literatur Prags und der Böhmischen Länder) in den Händen, herausgegeben von Peter Becher und anderen. Endlich würden die deutschsprachigen Prager Literaten in den Universitäten nicht mehr national, sondern regional eingeordnet. Diese Sicht wolle er auch in die Schule tragen. »Franz Kafka ist für mich vor allem Prager«, sagt er: »Wir müssen uns mit ihm als einem wichtigen Teil unserer Kultur auseinandersetzen.« Seine Schüler, erzählt er, seien ganz begeistert und viele hätten bereits mit der Lektüre begonnen.
Die Kafka Band © Václav Jirásek»Kafka ist doch eine ungeheure Ausnahmeerscheinung, dass er noch hundert Jahre nach seinem Tod eine solche Faszination ausstrahlt«, schwärmt der Schriftsteller Jaroslav Rudiš. Ihn begeistert vor allem die klare, einfache Sprache, in komplizierte Sätze verbaut. Die inspiriere ihn und seinen Freund, den Musiker und Comic-Künstler Jaromír Švejdík, Künstlername Jaromir99, zu Musik. Gemeinsam gründeten sie 2013 die Kafka Band. Švejdík hatte für den amerikanischen Schriftsteller David Mairowitz die Graphic Novel The Castle gestaltet. Bei einer Ausstellung der Zeichnungen präsentierten Rudiš und er erstmals gemeinsam Songs, deren Texte auf Auszüge aus Kafkas Werk zurückgehen. Seither sind drei Alben erschienen, zuletzt im September 2023 Der Prozess. Die Band hatte zunächst in Deutschland Erfolg, aber auch in Tschechien. Über 700 Menschen waren auf dem letzten Konzert im Prager Palác Akropolis. Das Erfolgsrezept? Rudiš und Švejdík singen die Texte abwechselnd auf Deutsch und auf Tschechisch und betonen so, dass Kafka eine Bereicherung für beide Kulturen ist. Vor allem aber eröffnen sie nach vielen Jahren kluger Analysen über Kafkas Werk eine neue Perspektive: »Wir haben jede Menge Spaß!«, schwärmt Rudiš.
Kafka als Spaßfaktor, das zieht auch beim ganz jungen Publikum des Theaters Am Geländer (Divadlo Na zábradlí) bei dem Stück Franz a kavka (»Franz und die Dohle«). Die Eingangshalle wimmelt von Kindern ab vier Jahren, als drei Schauspielerinnen singend die Treppe heruntersteigen, um sie in den Saal zu geleiten. Was ist das Wichtigste an Franz Kafka? Sein Kopf. Riesig sitzt er auf den Schultern einer Schauspielerin, ein Pappmaché-Kafka mit traurigen Augen, schmalem Mund und leicht zerbeultem Hut, der nie spricht und nur im Weg herumzustehen scheint. Ein unheimlicher Geselle, düster und traurig. Es gibt aber noch einen zweiten Kafka im Stück. Der ist klein, eine Puppe, die von den drei Schwestern Elli, Valli und Ottla im Spiel mitgerissen wird. Viel Spaß scheint der kleine große Bruder dabei allerdings nicht zu haben. Ständig sagt er: »Ich habe Angst. Ich habe vor sehr vielen Dingen Angst.« Dabei verspricht ihm seine Freundin, die Dohle mit dem Sprachfehler, ihm immer zur Hilfe zu kommen. Etwa, wenn die Schwestern auf der ganzen Bühne große Käfer verteilen, vor denen er sich verstecken will. Gar nicht trennen können sich die Kinder nach der Aufführung, jedes will und darf den kleinen Franz anfassen. Bleibt zu hoffen, dass sie später mit demselben Enthusiasmus zu den Büchern des Autors greifen.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1440 | März/April 2024
mit dem Schwerpunktthema:
Jüdisches Leben im östlichen Europa