Ruhig ist es an diesem Sonntagmorgen. Im Fluss Pūhoi (Te Reo Maori: »langsames Wasser«) spiegeln sich die Strahlen der Morgensonne wider. Die Hauptstraße des gleichnamigen Orts, an der vereinzelt weiße Holzhäuser mit ziegelroten Dächern stehen, ist menschenleer. Die Sonnenschirme beim Pub sind nicht aufgespannt, die Fensterläden der Handvoll Souvenir-Geschäfte und des Immobilienmaklers geschlossen. Nur der Tante-Emma-Laden des 600-Seelen-Dorfs versorgt bereits Frühaufsteher mit Kaffee sowie Croissants, und vor der katholischen Kirche St. Peter und Paul sind Autos geparkt. Keine 45 Kilometer trennen Pūhoi von der neuseeländischen Metropole Auckland. Doch dazwischen liegen Welten. Sein Anderssein ist tief in der Geschichte des Orts verwurzelt und wird bis heute von engagierten (Wahl-)Pūhoivianerinnen wie Pūhoivianern zu bewahren versucht.
Weder Armut noch Hunger noch Winter gebe es in Neuseeland. Zudem erhalte jeder erwachsene Einwanderer 16 Hektar kostenloses Land, Kinder bekämen die Hälfte. Mit diesen Versprechen sorgte ein Brief 1863 in der egerländischen Ortschaft Staab/Stod, etwa zwanzig Kilometer südwestlich von Pilsen/Plzeň, für Aufsehen. Geschrieben hatte ihn Martin Krippner, ein ehemaliger Offizier der österreichischen Armee aus dem benachbarten Ort Mantau/Mantov. Er war zwei Jahre zuvor mit seiner englischen Frau Emily, den beiden Söhnen und den Familien Pankratz und Scheidler ans andere Ende der Welt gezogen. Dass die Ausgewanderten mit ihrer Landwirtschaft bei Orewa, etwa elf Kilometer südlich des heutigen Pūhoi, gescheitert waren, das war im Brief allerdings nicht zu lesen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es sich bei dem kostenlosen Land nur um unwirtliches Regenwaldgebiet handelte. Stattdessen schilderte Krippner die neue Heimat in den schillerndsten Farben und stieß damit bei der Dorfbevölkerung auf offene Ohren. Als schließlich auch die Familien Pankratz und Scheidler in Briefen von der Kolonie schwärmten, waren letzte Zweifel wie weggeblasen: Am 26. Februar 1863 machten sich 83 Männer und Frauen aus dem winterlichen Staab auf nach Neuseeland. Der jüngste selbstständige Auswanderer war erst zwölf Jahre alt.
Von Prag ging es mit dem Zug zum Hafen in Hamburg-Altona und per Segelboot nach Gravesend. Dort wartete das Schiff »War Spirit«, das 107 Tage das Zuhause der aus Böhmen stammenden Menschen und weiterer Emigrierender aus England, Schottland sowie Irland werden sollte. Auf der beschwerlichen Schiffsreise wurden zwei Babys geboren und sie forderte auch ein Menschenleben: Lorenz Turnwald, Vater von fünf Kindern, wurde während eines Sturms in der Tasmanischen See unter Holzbalken begraben. Dass beim Unglück die Küste Neuseelands bereits in Sicht war, hätte als schlechtes Omen gedeutet werden können. Genauso wie der drohende Krieg zwischen der Kolonialregierung und den indigenen Maori der Region Waikato, der in Auckland zu spüren war. Innerhalb weniger Tage wurden die Immigrierten auf einem Segelkutter Richtung Norden zur Mündung des Pūhoi-Flusses transportiert. Von dort brachten sie der Maori-Häuptling Te Hemera Tauhia und Kapitän Krippner mit Kanus zur Endstation ihrer 124-tägigen Reise: Pūhoi.
Bitteres Erwachen
Hätte sie auf dem Wasser laufen können, wäre sie heimgegangen, soll eine Siedlerin bei der Ankunft in der Nacht des 29. Juni 1863 gesagt haben. Statt des versprochenen Paradieses erwarteten die mittlerweile 84-köpfige Gruppe zwei kleine Schuppen, jeweils 28 Quadratmeter groß, aus den Blättern der einheimischen Nikau-Palme. Das Erwachen am nasskalten Wintermorgen war um nichts besser: Rundherum war bloß Wald. »Die Bäume wachsen fast ohne Äste bis zu einer Höhe von 40 bis 80 Fuß. Der gesamte Raum ist mit 6 bis 20 Fuß hohen Baumfarnen, etwa gleich großen Nikau-Palmen und einer immensen Vielfalt an Bäumen und Sträuchern gefüllt«, hatte ein Vermesser ein Jahr zuvor das Areal für unbrauchbar erklärt, »das Ganze ist mit Schlingpflanzen aller Größen verflochten, die horizontal über die anderen Sträucher wachsen und alles zu einem undurchlässigen Dickicht zusammenbinden.«
Warum die Menschen aus Böhmen ausgerechnet in dieser unwirtlichen Region angesiedelt wurden, ist unklar. Warum sie geblieben sind, ist hingegen verständlich: Sie hatten keine Wahl. Im Gegensatz zu anderen Ausgewanderten hatten die Pūhoi-Pioniere die Reisekosten aus eigener Tasche bezahlt. Jetzt mussten sich die neuen Grundstücksbesitzer mit dem wenigen Hab und Gut, ein paar Geräten, ohne Waffen und ohne Kenntnis der englischen Sprache zurechtfinden. Mit Äxten und bloßen Händen begannen sie, die Berghänge zu roden, um auf dem frei gewordenen Land Kartoffeln, Weizen und Gemüse anzubauen. Bis zur ersten Ernte ernährten sie sich von dem, was der Wald hergab: Sie aßen die Nikau-Palme, die heute das Wappen Pūhois ziert, das Mark von Ponga-Farnen, jagten Vögel und Wildschweine, fingen Aale, Krabben und Fische im Fluss und schöpften wilden Honig aus Baumhöhlen. Dennoch schrammten viele in der Anfangszeit knapp am Hungertod vorbei.
Ihre Rettung kam in Form des Maori-Häuptlings Te Hemera Tauhia, der nicht nur Melonen, Pfirsiche, Kumara – die neuseeländische Süßkartoffel – und Fleisch brachte, sondern ihnen auch zeigte, was der Busch an Essbarem bot. Auch Kapitän Krippner hatte seine Landsleute nicht vergessen: Dank seiner Kontakte verkauften sie Feuerholz und später Schindeln für Dächer, Zaunpfähle oder Eisenbahnschwellen nach Auckland, das nur durch einen eintägigen Fußmarsch oder durch eine mehr als vierstündige Bootsreise von Pūhoi aus zu erreichen war. Zudem handelten die Siedler mit Totara-Stämmen, zerlegten Kauri-Bäume für Hausblöcke und Pfähle, zersägten die Rimu-Nadelbäume zu Brennholz und sammelten Holzohrpilze von toten Bäumen für den chinesischen Markt. Ausreichend Geld verdienen konnten die Siedler aber erst Anfang der 1870er Jahre, als sie beim Bau neuer Straßen, Brücken und Eisenbahnen anheuerten.
In den Briefen nach Europa war von diesem Überlebenskampf kaum zu lesen. Im Gegenteil: »Dies ist ein wunderbares Land, das von Milch und Honig überquillt. Ein schönes, ja herrliches Klima!«, schwärmte Kapitän Krippner, »sehr wenig Regen, aber zu jeder Jahreszeit ausreichend, sodass die Bauern ihre Ernte anbauen können. Die Ersten sind sicher angekommen und gedeihen jetzt unbeschreiblich dank all der Gratis-Zuschüsse. Sie müssen nicht hart arbeiten. Sie können sich von Wildschweinen und Tauben ernähren, und Wildbienen liefern all den Honig, den sie sich wünschen können.« Angesichts dieser paradiesischen Aussichten kamen 1866, 1872, 1875 und 1876 weitere Deutsche aus Staad und den Nachbarorten nach Pūhoi. Ihnen war das Glück gewogener als den Pionierinnen und Pionieren, übernahm doch diesmal die Regierung Neuseelands die Kosten der Schiffspassage. Zudem hatte sich der Ort zu einer »blühenden, pulsierenden deutschen Siedlung« entwickelt, wie The Weekly News vom 1. Juli 1876 schrieb, in der »Vieh, Pferde und Schafe gemütlich auf den üppigen Weiden und den Hügellandschaften grasen, die durch anhaltende Beharrlichkeit und Fleiß der Natur abgerungen wurden.« Ein Dorf mit zwei Schulen, geleitet von Kapitän Krippner und seiner Frau, einem Postamt, einer Versammlungshalle, einigen Geschäften und Hotels war entstanden – und mittendrin die katholische Kirche St. Peter und Paul, die den Schutzpatronen des Ankunftstags der ersten Siedler, dem 29. Juni, gewidmet ist.
Bierselige Geschichten
»Wir haben unseren Glauben gehabt, und uns gegenseitig geholfen«, erinnert Jenny Schollum an die Standardantwort, wenn die ersten Siedler nach dem Rezept ihres Überlebenswillens gefragt wurden. Heute werde die 1880 gebaute Kirche mit ihren 22 bunten Glasfenstern, eine exakte Kopie der Littitzer/Litice Kirche bei Pilsen, weniger von den Nachkommen der vierzig Pionierfamilien – den Bayers, Fischers, Schischkas und Wenzlicks – besucht. Die Kirchgemeinde bestehe vor allem aus Nichteinheimischen, weiß die Altenpflegerin, die 1970 in die Pionierfamilie Schollum eingeheiratet hat. »Sie lieben die historische Atmosphäre.« Diese Liebe kann sie nachvollziehen, hat sie doch über die Hälfte ihres Lebens dem Erhalt der böhmischen Geschichte und Kultur gewidmet.
Während heute Gedenksteine an der Landestelle der ersten Siedlerinnen und Siedler und an der Brücke Erinnerungsorte sind, war die Kultur der europäischen Vorfahren in Schollums ersten Jahren in Pūhoi noch vielerorts lebendig. »Der offensichtlichste Teil war die Musik«, erzählt die 71-Jährige, die in der Pūhoi Historical Society und im Bohemian Settlers Museum engagiert ist. »Es gab eine alte Blasmusikkapelle, in der das Knopfakkordeon, der Dudelsack und die Fiddle gespielt wurden.« Die Musik und böhmische Tänze wie der Umadum oder der D’bairisch Durl waren für die Auswanderer die ersehnte Ablenkung von der harten Realität. Entsprechend legendär waren die nächtelangen Feste, bei denen auch jede Menge Alkohol geflossen sein muss. »Sie haben ihr Bier geliebt«, weiß Schollum aus Geschichten der ersten Siedler, die von ihren Pferden nach Hause gebracht werden mussten.
Ganz nach böhmischem Vorbild wird auch in Pūhoi bestes Bier gebraut, das sich in ganz Neuseeland einen Namen gemacht hat. Foto: © Doris Neubauer
Kitschige Bierkrüge in den Regalen, Schwarz-Weiß-Fotos und Flaggen an den Wänden – wer das 1879 etablierte Pūhoi Pub & Hotel betritt, begibt sich auf eine Zeitreise in diese legendäre Vergangenheit. Bis die Covid-Pandemie buchstäblich den Zapfhahn abdrehte, wurde in dieser letzten historischen Kneipe der Südhalbkugel auch tschechisches Importbier eingeschenkt. Seit November 2020 können Besucher hingegen Pūhoi Beer bestellen.
»Ich habe mich immer gewundert, dass in Pūhoi kein böhmisches Pils gebraut wurde«, erzählt Gründer Scott Rice, der 2014 von Auckland in den Ort gezogen ist. Als neue Besitzer den Pub übernahmen, packte der findige Eventveranstalter die Gelegenheit beim Schopf. »Mit einem Meisterbrauer haben wir aus tschechischem und neuseeländischem Hopfen das Rezept zusammengestellt«, berichtet er. Das Konzept ging auf: Mittlerweile ist das mehrfach ausgezeichnete Bier nicht nur im Pūhoi-Pub zu finden, sondern im gesamten Inselstaat zu kaufen. »Unser Bier bringt den Namen Pūhoi auf die Bierdose und hält somit die böhmische Geschichte Pūhois lebendig.«
»Die Musik ist nicht tot«
Während das von den Böhmen inspirierte Bier Neuseeland erobert, sind die traditionellen Polka-Rhythmen nur noch bei den alljährlichen Feierlichkeiten am Sonntag um den 29. Juni zu hören. Dann packen die Frauen die weißen Blusen mit den riesigen Puffärmeln, die bestickten Mieder und die bunten, schwingenden Röcke aus. Die Männer tragen die schwarzen Kniebundhosen und die kurzen braunen Jacken ihrer Vorfahren. Handgestrickte Socken bedecken die Haut vom Schuh bis zum Knie.
»Die Musik, die Kostüme und das Wissen sind noch da«, meint Schollum, die bis vor einigen Jahren die treibende Kraft im Tanzverein war: »Wir sind dabei, sie wiederzubeleben.« So versuche der Musikprofessor Roger Buckton gemeinsam mit dem Germanisten und Historiker Dr. Ralf Heimrath und mit Hilfe von Judith Williams, die 1976 die Pūhoi Historical Society gegründet hat, derzeit dreißig traditionelle Lieder und Kinderreime zu Papier zu bringen. »Phonetisch, damit die Menschen sie verstehen und auch nachsingen können«, erklärt Jenny Schollum. Denn kaum jemand spreche heute den Egerländer Dialekt der böhmischen Pūhoi-Pioniere, . »In Pūhoi we say ›Way gates‹«, erinnert ein Schild in der winzigen Bibliothek am Fluss daran, wie die ersten Siedlerinnen und Siedler gesprochen haben: »Wie geht’s?« Diese Begrüßung höre man im Ort nur noch selten, meint Sandra Mohl. Die Deutsch-Mexikanerin arbeitet ehrenamtlich in der Pūhoi Town Library, die mit ihren rund 6 000 Büchern zu einer der kleinsten Bibliotheken Neuseelands zählt. Vor eineinhalb Jahren hat es sie mit ihrem Ehemann nach Pūhoi verschlagen. Es war ein Glücksfall, denn: »Hier leben die freundlichsten Menschen«, schwärmt Mohl: »Jeder hilft jedem.« So wie es schon die ersten Siedlerinnen und Siedler aus Böhmen getan haben.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1432 | November 2022
mit dem Schwerpunktthema:
Auswanderung: neues Leben in Übersee