Ob Scheunen, Häuser und Strom- oder Telefonmasten: Polen wird im Frühling und Sommer von tausenden Störchen bevölkert. Eine halbe Million Weißstörche soll es auf der Welt geben, ein großer Teil davon fliegt zum Brüten in das Land zwischen Oder und Bug. Ein kleines Dorf in Ostpreußen steuern jährlich besonders viele Störche an und machen es zu einer Touristenattraktion. Von Markus Nowak
Juli/August 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1430
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Blick auf Schewecken/Żywkowo © Markus Nowak

Die schmale Straße führt über weite Felder, auf denen Mähdrescher ihre Runden drehen. Fährt man an der letzten Abzweigung geradeaus, kommt man zur russischen Enklave Kaliningrad. Wäre die EU eine Scheibe, hier wäre sie zu Ende. Links dagegen geht es in das letzte Dorf Polens, Schewecken/Żywkowo. Die kleine Siedlung mit den Backsteinhäusern und hölzernen Gehöften ist typisch für Masuren, den wald- und seenreichen Landstrich im ehemaligen Ostpreußen. Die meisten Dorfbewohner sind aber eher ungewöhnlich: Auf zwei Beinen, aber sehr federreich. Störche.
»Wir haben 43 Storchenpaare in diesem Jahr«, zählt Adam Mądry stolz bei einem Besuch im Juni 2021 auf: »Auf 19 Menschen.« Wenn sie nach der Brut Ende August wieder wegfliegen, würden es rund zweihundert Störche sein, glaubt der Leiter der örtlichen Vogelschutzwarte. Etwa zehn Mal so viele Störche wie menschliche Einwohner – da muss die Minderheit der Mehrheit dienen, die menschlichen den fedrigen Bewohnern.

Und so steigt der 34-jährige Mądry in der Brutzeit der Adebare zwischen Ostern und Ende August regelmäßig in den Traktor, um die umliegenden Wiesen zu mähen. So kommen die Störche leichter an ihr Futter: Mäuse oder andere Nager dienen ihnen als Nahrung und nicht etwa Frösche, wie der Volksmund glaubt. Rund fünfzig Hektar Weidefläche, umgerechnet siebzig Fußballfelder, gehören zur polnischen Vogelschutzgesellschaft PTOP.

Wieso haben sich die fliegenden Gesellen ausgerechnet Schewecken ausgesucht? »Der Storch will Nahrung haben und diese gibt es hier im Überfluss«, setzt Mądry, dessen Name im Polnischen so viel wie »klug« bedeutet, zu einer Erklärung an. Rund um Schewecken gebe es noch viel unberührte Natur, wie in ganz Ostpreußen, das für große Wiesen und eine vielfältige Landschaft bekannt ist. »Da ein Sumpf, da ein Bach, da ein Wald«, ergänzt der Vogelschutz-Experte. Andernorts in Polen seien Höfe dazu übergegangen, Getreide anzubauen, statt Vieh zu halten. Da gehe Weidefläche verloren, das Mäuse- und Nager-Nahrungsreservoir der Störche. »Außerdem können die Störche auf die Unterstützung von uns Bewohnern zählen.« So werden hier bei Bedarf neue Plattformen für einen Horst gebaut oder andere Nester ausgemistet, damit die Scheunen nicht einstürzen. Schließlich kann ein Storchennest bis zu einer Tonne schwer werden. Manches Scheunendach muss bis zu vier Horste aushalten können.

Das Zusammenleben der fedrigen Bewohner Scheweckens mit den Menschen ist ein Geben und Nehmen. Längst haben einige Bauern auf »Agrotourismus« umgestellt, also »Ferien auf dem Bauernhof«. Denn mit den Adebaren kommen in der warmen Jahreszeit auch die Touristinnen und Touristen. Als »Storchendorf« ist der Ort mittlerweile polenweit bekannt. Die Vogelschutzwarte hat reagiert und eine zehn Meter hohe Empore errichten lassen. So kann man den Störchen »auf Augenhöhe« begegnen und direkt in die Horste schauen, sehen, wie die Eltern brüten oder später die Jungen ihre ersten Flugversuche unternehmen.

»Alltägliches«, sagt Irena Kur und lacht. Sie wohnt in einem benachbarten Bauernhaus und sagt, obwohl sie die Störche jeden Tag sehe, fasziniere sie der Anblick immer wieder aufs Neue. »Im Winter, bevor die Störche kommen, ist es im Dorf so ruhig. Erst ihre Ankunft begrüßt den Frühling«, sagt die Mittfünfzigerin. Dann wird es mitunter laut, das Klappern vom Scheunendach. Denn gleich vier Horste auf ihrem Grundstück werden in diesem Jahr von den fedrigen Zweibeinern bewohnt, auf dem Hof der Vogelschutzwarte sind es gar ein Dutzend.

Die Störche waren schon immer in Schewecken, während die heutigen menschlichen Bewohner erst seit drei bis vier Generationen in dem Dorf leben. Irenas Mutter Maria ist 86 Jahre alt und kann sich gut an die Zeit erinnern, als sie aus der Nähe der heutigen polnisch-ukrai­nischen Grenze 1947 in diesen früher deutsch besiedelten Ort deportiert wurde. Akcja Wisła, »Aktion Weichsel«, so nannte sich die von der kommunistischen Führung angelegte Zwangsumsiedlung ethnischer Ukrainer, Bojken und Lemken aus dem Südosten der Volksrepublik Polen in den Norden und Westen des Landes, die von der Propaganda als »Wiedergewonnene Gebiete« bezeichnet wurden. Die Deutschen hatten 1945 selbst im Zuge von Flucht und Vertreibung Ostpreußen verlassen müssen.

KK 1430 30 33 MN Klappern vom Scheunendach Bewohnerinnen 750x500Die 86-jährige Maria und ihre Tochter Irena wohnen in Schewecken. © Markus Nowak

»Als wir hierherkamen, waren die Höfe mit meterhohem Gras zugewachsen«, erinnert sich Maria an den Mai 1947, also zwei Jahre nach Kriegsende, nach Flucht und Vertreibung der Deutschen. »Die Störche sind aber geblieben und waren da, als wir kamen«, erinnert sich die 86-Jährige. »Wieso mussten sie diese Gebiete verlassen? Und wieso mussten wir auch raus?«, fragt nach fast achtzig Jahren Tochter Irena und hadert mit dem Schicksal der Familie sowie des ganzen Dorfes.

Gerade bei den älteren Einwohnern ist noch der ursprüngliche östliche Akzent im Polnischen hörbar, ein Teil der Familie wohne weiterhin in der heutigen Ukraine. Das Thema Zwangsumsiedlung in die einst deutsch besiedelten Gebiete war bis zur politischen Wende 1989 ein Tabu. Erst seitdem beschäftigen sich auch die Bewohnerin­nen und Bewohner des Dorfes öffentlich mit ihrer eigenen Geschichte. Immer wieder wurde die Familie von den einstigen deutschen Bewohnern ihres Hofes besucht und baute sogar freundschaftliche Beziehungen zu ihnen auf, erzählt Irena. Und nicht nur das: »Gott als Dank« steht seit dem Jahr 2000 auf einer Marmortafel an der kleinen griechisch-katholischen Kapelle auf Deutsch, Polnisch und Ukrainisch. Mit den Zugezogenen wurde auch der im Westen der Ukraine verbreitete griechisch-katholische Glau­be mitgebracht.

Eine Siedlung namens »Seweke« soll es schon im Mittelalter gegeben haben, wirklich belegt ist Schewecken seit 1785. Bis 1821 wohnten vier Dutzend Einwohnerinnen und Einwohner in dem ostpreußischen Dorf, bis 1928 stieg die Zahl auf 54. Im Zuge der »Aktion Weichsel«, die Umsiedlung aus der Ukraine, wuchs das Dorf auf über hundert Menschen in den 1980er Jahren an. Auch die Störche hatten daran »einen Anteil«, sagt Irena und lacht: »Es gab eine Zeit, da haben uns die Störche viele Kinder gebracht.« Mittlerweile seien die Dorfbewohner aber in die Jahre gekommen, die meisten jungen Leute in die Städte weggezogen, etwa nach Allenstein/Olsztyn, das rund eineinhalb Stunden mit dem Auto entfernt ist. »Wem sollen die Störche jetzt noch Kinder bringen?«

Das Kommen und Gehen – vielmehr Wegfliegen – der Störche beeinflusst auch ein Stück weit die Menschen, beobachtet Irena. »Jemand hat mal gesagt, wir haben nur zwei Jahreszeiten hier. Die Storchenzeit und eine Nicht-Storchenzeit«, lacht sie. Und wenn die Adebare dann im Spätsommer fort sind, wird es nicht nur ruhig im Dorf, dann seien sie auch traurig, sagt Irena, und ihre Mutter Maria stimmt zu.

Die Winter im nördlichen Polen gelten als lang und kalt, sie haben deshalb Verständnis dafür, dass die großen Vögel ins Warme zum Überwintern fliegen. »Aber«, konstatiert Irena, »einige meinen, sie fliegen nach Afrika nach Hause. Ich meine aber, sie sind bei uns zu Hause. Denn dort, wo man Kinder bekommt, ist man daheim.« Und das sei nun mal das Storchendorf Schewecken.

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1430: Juli/August 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1430 | Juli/August 2022
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mit dem Schwerpunktthema:
Wilde und gezähmte Tiere