Einst lebten viele Deutsche in Usbekistan und prägten Dörfer und Regionen mit ihren eigenen Sitten und Traditionen. Seit dem Niedergang der Bergwerke und dem Massenexodus in und nach den 1990er Jahren verwaisten die deutschen Siedlungen jedoch weitgehend. Heute stemmt sich eine kleine, aber immer stärker werdende Gemeinschaft gegen das Vergessen. Von Svetlana Kim-Pacher
März/April 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1428
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Durch Usbekistan führte einst die berühmte und älteste Handelsroute der Welt, die Seidenstraße. Mit der Deportation der Deutschen wurden viele von ihnen auch in Usbekistan angesiedelt. © Shchipkova Elena/AdobeStock

Wer heute in der usbekischen Hauptstadt Taschkent dem Denkmal des Militärführers Timur oder Tamerlan einen Besuch abstattet und durch die nahe Allee spaziert, könnte plötzlich von deutschen Kirchenliedern überrascht werden. Etwa: Geh aus, mein Herz, und suche Freud’. Sichtbar wird dann ein neugotisches Kirchlein aus gelblichem Sandziegel, wie man es sonst nur im baltischen Teil Europas erwarten würde. Vermutlich ist dies eine architektonische Reminiszenz an die baltischen Wurzeln vieler Deutscher, die im 17. Jahrhundert nach Taschkent, Samarkand oder Buchara kamen. Und wer die Kirche betritt, könnte einen Chor vorfinden, aus Jung und Alt bestehend, die allesamt in deutscher Sprache singen und plaudern.

Sie alle sind Mitglieder der »Wiedergeburt« – so der Name des deutschen Kulturzentrums in Taschkent. Elena Mironowa ist die Leiterin des Zentrums und sagt: »Jedes Jahr wird die Arbeit des Kulturzentrums aktiver und intensiver.« Dies sei eine Folge der zurückgehenden Zahlen der Deutschen in Usbekistan. »Um uns als Ethnie zu erhalten und nicht komplett zu assimilieren, müssen wir daran arbeiten«, erklärt Mironowa und veranschaulicht das Schrumpfen der Diaspora an folgenden Daten: 40 000 Personen waren es noch im Jahr 1980, heute leben nur noch 8 000 Deutsche in Usbekistan. Offiziell weisen sogar nur mehr 4 500 Personen explizit die deutsche Nationalität in ihren usbekischen Reisepässen auf. »Heutzutage verstehen wir, wie wichtig die Mobilisierung der Gemeindemitglieder und die soziale Teilnahme ist, um sich nicht zu verlieren, um sich nicht zu vergessen«, sagt Mironowa.

Die deutsche Gemeinde setzt sich aus Menschen aus unterschiedlichsten Regionen zusammen, die während unterschiedlichster historischer Perioden eingewandert sind. Die erste Einwanderung der Deutschen in das Fürstentum Chiwa beginnt gegen Ende des 17. Jahrhunderts. In der Oasenstadt Chiwa gibt es heute ein Museum, das dieser ersten deutschen Siedlung gewidmet ist und allerlei persönliche Gegenstände und Fotos enthält. Später folgten deutsche Facharbeiter wie Dolmetscher, Architekten und Wissenschaftler, die ursprünglich ins zaristische Russland kamen. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts siedelten sie auf dem Territorium des heutigen Usbekistan. Im Ersten Weltkrieg gerieten zudem viele Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee in Turkestan, einer nicht fest umrissenen zentralasiatischen Region, die von 1918 bis 1924 auch eine Sowjetrepublik war, in Gefangenschaft. Teilweise sind ihre Nachfahren heute noch in Usbekistan zu finden. Eine kürzlich entstandene Dokumentation über die Kriegsgefangenen in Turkestan weist auf oft obskure Migrationswege hin. Ab 1940 schwappte die größte Welle zwangsumgesiedelter Wolgadeutscher nach Usbekistan. Sie alle waren Opfer von Stalins Deportationen, die auch viele weitere Völker, wie etwa ethnische Koreaner (Koryo-saram), Kaukasier oder Krim-Tataren betrafen.

Evangelisch-lutherische Kirche in Taschkent. © BKDREvangelisch-lutherische Kirche in Taschkent. © BKDR

»Ein großer Teil der Bauarbeiter im sowjetischen Usbekistan waren Deutsche«, erzählt Elena Mironowa. »Sie wurden bei Schwerstarbeiten, etwa in den Minen, eingesetzt.« In manchen Vorstädten und Kolchosen nahe Taschkent sind auch heute noch auffällig viele deutsche Nachnamen zu finden. In Angren trifft man beispielsweise die Familien Pfeifer, Zert, Pauly oder Schuhmacher an. Deutsch wird aber nicht mehr gesprochen. Zwar gab es früher in Usbekistan zahlreiche Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache – 1934 gab es 13 solcher Lehranstalten, auch drei deutsche Arbeitervereine und drei deutsche Bibliotheken –, aber nach einer intensiven Russifizierungspolitik blieb die Sprache nur unter den Ältesten erhalten.

Zu diesen letzten Sprachkundigen zählt auch eines der ältesten und zugleich aktivsten Chor-Mitglieder der »Wiedergeburt«, eine 83-jährige »Babuschka«, also zu Deutsch »Großmutter«, wie sie sich selbst beschreibt. Vom Zusammensingen ist sie begeistert, so kann sie ihre Muttersprache an die jüngere Generation weitergeben. Bei dem jüngsten Chormitglied handelt es sich um ein dreijähriges Kind, das voll Freude in den deutschen Spielklub »Hans Hase« geht. Vierzig Lehrer und Lehrerinnen unterrichten bei der »Wiedergeburt« in Taschkent und den weiteren drei Filialen in Buchara, Fergana und Samarkand. Zurzeit lernen 600 Personen Deutsch.

Das Kulturzentrum zielt nicht nur auf die Weitergabe der Sprache, sondern fördert generell einen kulturellen Austausch durch gemeinsame Aktivitäten. Neben dem Chor und dem Spielklub für die Kleinsten gibt es auch Tanzkurse. Auch eine Sommerakademie mit Lehrern und Lehrerinnen aus Deutschland wird regelmäßig veranstaltet. Und am Tag der Unabhängigkeit, Mustakilli, am 1. September, werden jährlich die deutschen Nationalspeisen und -trachten präsentiert. Hinzu kommen wissenschaftliche Konferenzen und Exkursionen zu den Spuren der Deutschen in Usbekistan.

»Die Begegnung zwischen den zwei Kulturen, der östlich-usbekischen und der europäisch-deutschen, ist immer interessant. Man erinnert sich an vergangene historische Episoden, und lässt eine neue, eigene Geschichte entstehen. Nicht nur die Erhaltung der deutschen Identität, sondern auch der Austausch der Kulturen gehört zu den Kernzielen unserer Arbeit«, sagt Mironowa.

Die Erinnerung nach der Präsenz

Allerdings gelingt nicht überall eine »Wiedergeburt« der einstigen deutschen Präsenz. In Krasnogorsk, einer einst deutschen Siedlung aus der Sowjetzeit nahe der Hauptstadt Taschkent, bleibt das deutsche Erbe nur Erinnerung. Wie viele der genannten Orte verfügte auch Krasnogorsk über reiche Ressourcen unter der Erde, in diesem Fall eine Uranquelle, in der einst viele Deutsche gearbeitet haben. Das Bergbaustädtchen blühte dadurch wirtschaftlich, politisch und kulturell auf. Krasnogorsk verfügte über einen kleinen See, der als beliebter Ort von Fischern und spielenden Kindern galt. In der Nähe des Sees gediehen Weintrauben und Weingärten so prächtig, dass sie oft mit der italienischen Toskana verglichen wurden. Dank dem warm-frischen Bergklima wurden in Krasnogorsk besonders gerne Datschas für die Ferien und Wochenenden gebaut. Eine wahre Blüte – einst. Nach dem Zerfall der Sowjetunion aber schlossen die Bergbauanlagen, und die Bevölkerung in Krasnogorsk ging rasant zurück. Ein paar Ältere versammeln sich heutzutage regelmäßig zum Schachspiel mit ihren Nachbarn, wenige Kinder spielen Fußball, aber sonst regt sich nur mehr wenig Gemeinschaft – vor allem keine deutsche. 

Die »Wiedergeburt« ist nicht die einzige Organisation zur Pflege des deutschen Kulturerbes in Usbekistan. Wer nun von Tamerlans Grab und dem Kirchlein weitergeht, könnte am Museum der unterdrückten Völker vorbeispazieren, in dem auch die Deutschen erwähnt werden. Zudem findet sich unweit davon eine deutsch-usbekische Freundschaftsgesellschaft, ferner ein Goethe-Institut, eine Präsenz der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie eine der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Aber ein besonders zentraler Bestandteil der deutschen Gemeinschaft in Usbekistan bleibt die evangelisch-lutherische Kirche in Taschkent. Kaum ein anderer Ort bietet den verbliebenen Deutschen eine so starke und regelmäßige Gemeinschaft wie sie. Freilich, die Blütezeit, in der die 1896 vom Architekten Alexeï Benois erbaute Kirche bis zu 2 000 Gemeindemitglieder zählte, ist lange vorbei. Dennoch scheinen inzwischen auch die schlimmsten Zeiten überstanden zu sein, etwa als sie während der Kriege als Lagerhaus oder später als Übungssaal des Opernkonservatoriums genutzt wurde.

1991 wurde die Kirche renoviert und kehrte zu ihrer ursprünglichen Funktion zurück – auch dies eine »Wiedergeburt«. Die Orgelmusik, der Kirchenchor und die Gottesdienste bestärken allsonntäglich den gemeinschaftlichen Geist von 200 Gläubigen. Bisher wird der Gottesdienst der evangelischen Kirche noch sowohl auf Russisch als auch auf Deutsch abgehalten und auch die Lieder werden in beiden Sprachen gesungen. Somit können auch jene Angehörige der ethnisch deutschen Minderheit, die das Deutsche nicht mehr so gut beherrschen, in derselben Gemeinschaft eine Heimat finden, vor allem zu Ostern, wiederum als Symbol der Wiedergeburt.