Das Kesselinger Tal ist ein Stück Ermland in der Eifel. Es hat eine bewegte Geschichte: Vor dem Zweiten Weltkrieg mussten Menschen ihre Heimat für einen Luftwaffenübungsplatz verlassen. Nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen wurde Vertriebene aus dem Ermland hier angesiedelt. Ein Besuch von Gisbert Kuhn.
Juli/August 2024 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1442
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© Markus Volk/Adope Stock

Die Ahr, im malerischen Eifel-Städtchen Blankenheim entspringend, ist ein linker Nebenfluss des Rheins. Sie mündet bei Remagen in den großen Strom. Die steilen Hänge an den Ufern mit ihren von der Sonne erwärmten Schieferböden lassen vor allem hervorragende Rotweine reifen. Nur wenige Kilometer von dem bei Ausflüglerinnen und Ausflüglern beliebten Örtchen Altenahr entfernt, flussaufwärts Richtung Nürburgring, zeigt am Ortsende der Gemeinde Ahrbrück ein Wegweiser links nach Kesseling.

Der Pfeil markiert den Eingang in ein nahezu verstecktes, etwa 15 Kilometer langes Seitental. Ein mäanderndes Bächlein plätschert munter durch grüne Weideflächen und saftige Heuwiesen. Hie und da ein kleines, blitzsauberes Dörfchen und höchst ansehnliche Bauernhöfe mit stattlichem Viehbestand. Das Ganze ist links und rechts eingerahmt von schroffen, bis zu rund 600 Meter hohen Felshängen. Kurz: Das Kesselinger Tal ist sehr pittoresk und ein beliebtes Ziel für Wandernde.

Welch ein Unterschied zu jenem 13.  April 1950, als in dem noch den Namen Brück/Ahr tragenden Bahnhof ein Son-derzug mit 65 Familien einlief. Auf den angehängten 22 Wagen zudem zwölf Pferde, allerlei Hausrat, Brennmaterial und ein paar alte landwirtschaftliche Geräte. Es waren Menschen aus Ostpreußen. Genauer gesagt: aus dem Ermland, dem an das Frische Haff stoßenden einzigen katholischen Teil im äußersten Nordosten des einstigen Deutschen Reichs. Sie waren, nur mit dem Allernötigsten versehen, im eisigen Winter 1945 vor der Roten Armee geflüchtet, von dieser trotzdem überrollt worden und nach unsäglichen Strapazen und nicht selten grässlichen Erlebnissen zumeist in Schleswig-Holstein oder Niedersachsen gelandet. Bei dortigen Bauern oder in großen Lagern notdürftig untergebracht, blickten sie hilflos, nahezu ohne Habe, orientierungslos und entsprechend ohne Hoffnung, einer ungewissen Zukunft im zerstörten Nachkriegsdeutschland entgegen.

Wiederansiedlung in der Eifel

Zur selben Zeit war einige hundert Kilometer weiter südlich, im neu gebildeten Bundesland Rheinland-Pfalz, ein einzigartiges Siedlungsprojekt ausgearbeitet worden – ein Plan zur Wiederansiedlung. Im Zentrum stand dabei jenes kleine Seitental in der Eifel, ein rund 10 000 Hektar umfassendes Gelände. Gegen Ende der 1930er Jahre hatte NS-Reichsminister Hermann Göring das dünn besiedelte Gebiet unweit der berühmten Rennstrecke Nürburgring als Übungsareal für seine Luftwaffe beansprucht. 400 Familien, insgesamt 2 400 Menschen, mussten deswegen von 1937 bis 1939 samt ihrem Vieh und anderem Besitz das Tal verlassen. Damit waren elf Dörfer und Weiler der Zerstörung und dem Verfall preisgegeben.

Vom Jagdgebiet zum Bauernland

Nach dem Krieg, am 13. November 1946, gab der damalige französische Gouverneur für die ehemaligen preußischen Regierungsbezirke Trier und Koblenz, Claude Hettier de Boislambert, die von ihm zuvor als privates Jagdgebiet genutzte Talschaft zur landwirtschaftlichen Neuerschließung frei. Das war praktisch der Startschuss für eine ebenso abenteuerliche wie für die deutsche Nachkriegszeit einmalige Leistung: die größte landsmannschaftlich geschlossene Ansied-lung von geflüchteten Bäuerinnen und Bauern aus dem Osten.

Artur und Christine Marienfeld (beide Jahrgang 1942) gehören zu den wenigen noch lebenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der Pionierzeit in der Eifel. Wenn das Ehepaar in dem kleinen Weiler Oberheckenbach heute in alten Fotoalben blättert, werden die Erinnerungen an die Überlebenskämpfe in den ersten Nachkriegsjahren wieder wach. An die Aufbaujahre, an die Mühen, um den versteppten, verginsterten und verbuschten Boden wieder in eine Kultur-landschaft zu verwandeln. Artur Marienfeld war erst 1953 nach einem Umweg über Niedersachsen und die Pfalz als Zwölfjähriger ins Kesselinger Tal gekommen. Er und seine ebenfalls aus dem Ermland stammende Frau kennen die Geschichten aus der »Gründerzeit« auswendig.

Auf dem Deutschen Katholikentag 1949 in Bochum hatte durch Zufall der ebenfalls aus dem Ermland stammende Pfarrer Johannes Preuß, damals Caritas-Direktor von Schleswig-Holstein, von dem Projekt in der Eifel erfahren und sofort Verhandlungen mit den dortigen Behörden aufgenommen. Tatsächlich reiste bereits im darauffolgenden Februar eine Delegation von siedlungswilligen ermländischen Bauern zur »Vorbesichtigung« an die Ahr. Ihre Eindrücke müssen niederschmetternd gewesen sein. Aus der alten Heimat im Ermland war man weites, allenfalls hügeliges Land gewöhnt. Im engen Kesselinger Tal dagegen sind die Berge steil und die Böden steinig.

»Ich muss schon sagen, dass die Kommission vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens stand, ob man auf dem vorgesehenen Gelände siedeln sollte oder nicht«, beschrieb ein Teilnehmer der Delegation die Stimmung später. »Die Berge flößten uns Menschen aus dem Flachland Schrecken ein. Aus dem Rundfunk erfuhren wir zudem, dass der Luftwaffenübungsplatz schon immer Notstandsgebiet gewesen sei. Trotz der Berge, der sehr geringen Erträge des Bodens und der ungeheuer niedrigen Milchleistung der Kühe entschlossen wir uns im Hinblick auf die drückende Notlage unserer Landsleute, das Gebiet zu besiedeln. Oder richtiger: Eine entsprechende Empfehlung zu geben.«

Auf einer Versammlung in Neumünster erstattete die Vorausabteilung schließlich Bericht. »Wir beschrieben den Zustand des Landes und dessen Erträge. Ohne etwas zu beschönigen. Ja, wir versuchten sogar, es noch schlechter darzustellen, als es war, damit später niemand enttäuscht sein würde«, heißt es darin. Ungeachtet dessen meldeten sich sofort so viele Interessenten, dass nur etwa die Hälfte berücksichtigt werden konnte. Als am 3. April 1950 der Transport mit den 56 Familien in Brück/Ahr eintraf, herrschte allerdings alles andere als Fröhlichkeit. »Um Himmels willen, wo sind wir hier?« fragten die Männer, während viele Frauen das Gefühl hatten, von den Bergen erdrückt zu werden.

Um den Siedlern die Umgebung und ihre Situation »schmackhaft« zu machen, gab es staatliche Unterstützungen, Kredite mit niedrigen Zinsen und langer Laufzeit, dazu Gelder aus dem sogenannten Lastenausgleich, Saatgetreide und Dünger. Mitunter sogar laut bejubelte Überraschungen: 1951 zum Beispiel erreichte ein Transport mit siebzig Jersey-Kühen und zwei Bullen den Bahnhof in Brück an der Ahr. Christliche Vereinigungen in den USA hatten von der Not des ermländischen Landvolks gehört und beschlossen, ihnen den Anfang zu erleichtern und Geld für die »Lebendspenden« zu sammeln. Oder eine unerwartete Spende aus Schweden: zahlreiche der in dem skandinavischen Land typischen Holzhäuser.Das alles half, ohne Zweifel. Aber es bewahrte die Siedlerinnen und Siedler nicht vor wahrer Schwerstarbeit. Das Tal musste vollständig gerodet werden. Mit der Hand. Mehr noch, die anfallenden Tätigkeiten dienten ja nicht allein der Zukunft, sondern mussten auch noch das tägliche Überleben sichern.

Rodung, Wegebau, Ausschachten von Kellern und Jauchegruben, Trockenlegung von Nasswiesen, Bau von Wasser-leitungen, Kultivierung der gerodeten Flächen und Beseitigung der Ruinen früherer Häuser, deren Steine als Funda-mente für die neuen Heimstätten dienten. Der Lohn: Am 17. November 1950 konnten die ersten Siedlerinnen und Siedler einziehen. Mit Muskelkraft und Ideenreichtum wurde viel erreicht, dazu kam Gemeinsinn und Genossenschaftsgeist. Und Modernisierungen, auch wenn diese liebe Traditionen verdrängten. So existierte zwischen 1951 und 1953 ein Reiterverein. Dann ersetzte allmählich der Traktor das Pferd und mit diesem verschwanden auch die Reiter von den Feldern. Geschichte ist ebenfalls der »Ermländer Hof«, das Gasthaus mit Stammtisch in dem Örtchen Cassel am Ende des Tals.

Artur Marienfeld hatte 1967 in die Familie seiner Frau Christine eingeheiratet. Heute muss man schon sehr genau hinschauen, um noch Spuren aus der Aufbauzeit zu entdecken. Etwa das »Schwedenhaus«, das seither zahlreiche An- und Ausbauten erfuhr. Jetzt wohnt dort der Sohn der Marienfelds samt Familie. Der Hof wurde ihm von den Eltern bereits überschrieben. Sie betreiben erfolgreich Rinderzucht und Milchwirtschaft und nennen etwa 600 Stück Vieh ihr Eigen. Vater und Mutter haben sich gleich nebenan ein eigenes schmuckes Haus gebaut. Im Wohnzimmer stehen die Fotos mit den Erinnerungen an die alte Heimat.

Mehr als sieben Jahrzehnte nach Flucht und Vertreibung, Verzweiflung und Neuanfang gibt es für die Ermländer im Kesselinger Tal nicht mehr bloß ein »Damals« und ein »Heute«. Auch ein »Dazwischen« bildete sich heraus, eine Brücke, die »einst« mit »jetzt« verbindet. Erst waren es nur vereinzelte Besuche aus der Eifel »daheim« im Ermland. Anfangs beäugten die heutigen polnischen Bewohnerinnen und Bewohner die alten Ermländer misstrauisch. Aber mittlerweile gibt es einen regen, freundschaftlichen Austausch zwischen den »alten« und den »neuen« Ostpreußen. »Sie mögen es glauben oder nicht«, sagt Artur Marienfeld, »ich habe mir tatsächlich ernsthaft überlegt, ob wir nicht zurückgehen sollten.« Vor etwa zwanzig Jahren sei das gewesen. »Die polnischen Freunde hatten mir sogar versprochen, dass wir einen besonders guten Hof bekämen. Meine Frau wäre mitgegangen.« Aber es war der Sohn, der dem Vater die Augen öffnete. Er hatte gesagt: »Was soll ich im Ermland? Ich bin hier zuhause. Das ist meine Heimat, und die haben wir uns aufgebaut.« Das überzeugte auch Artur Marienfeld: »Natürlich hatte er Recht.«