Millionen Heimatvertriebenen hatte das Lastenausgleichsgesetz (LAG) im Mai 1952 Entschädigung für Vermögensverluste, Sozialrenten und Integrationshilfen von der Ausbildungsförderung bis zum Wohnungsbau zugesprochen. Die Vermögensbesitzer in der Bundesrepublik wurden gleichzeitig bis in das Jahr 1979 hinein zu Abgaben verpflichtet, um zumindest einen Großteil der Maßnahmen zu finanzieren. Zuschüsse von Bund und Ländern kamen hinzu. Laut LAG-Präambel sollte sich die Höhe der Leistungen an den »volkswirtschaftlichen Möglichkeiten« des Staates orientieren. Doch blieb das dem Ausgleichsfonds zur Verfügung stehende Geldvolumen über die Jahre im Wesentlichen gleich, während sich die Steuereinnahmen im Laufe des »Wirtschaftswunders« etwa vervierfachten.
Die zentrale politische Frage des Lastenausgleichs lautet: Weshalb haben die zahlreichen Verbesserungen des bis 1979 insgesamt 29 Mal novellierten Gesetzes bei weitem nicht mit der enormen Steigerung der bundesdeutschen Wirtschaftskraft Schritt gehalten? Wer das verstehen will, hat den Blick vor allem auch auf politische Konstellationen in der bundesdeutschen Parteiendemokratie zu richten, wobei der 8. LAG-Novelle 1957 ein besonderer Stellenwert zukommt. Für die sogenannte »Hauptentschädigung« (von verlorenem Immobilien- und Betriebsvermögen) war 1952 festgelegt worden: Erst bis zum März 1957, wenn auf dem Verwaltungsweg schon weiter geklärt sein sollte, welche Schäden in den vielen Millionen Fällen genau entstanden waren, würde definitiv entschieden werden, wie hoch die Leistungen letztlich ausfallen könnten. Das heißt, die Sache musste parlamentarisch noch vor der Bundestagswahl im Herbst 1957 beschlossen werden.
Seit 1953 hatten CDU und CSU im Parlament zwar die absolute Mehrheit der Mandate inne. Bundeskanzler Adenauer hatte sich aber bei der Regierungsbildung veranlasst gesehen, den Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) und andere kleinere Partner in die Koalition mit aufzunehmen, denn er brauchte für die anstehenden Generalverträge mit den Westmächten eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Diese kam 1955 auch zustande. Aber der BHE verlor dann die von ihm gestellten Bundesminister an die CDU und befand sich 1956/57, als die Entscheidung über den Fortgang des Lastenausgleichs anstand, nicht mehr in der Regierung, sondern bereits in der Opposition.
Über das Grenzdurchgangslager Friedland sind von der Eröffnung am 20. September 1945 mehr als vier Millionen Menschen in die westlichen Besatzungszonen und später in die Bundesrepublik gekommen. Über der Stadt Friedland steht das „Heimkehrerdenkmal“, ein aus vier 28 m hohen, stelenartigen Betonsegmenten bestehendes Mahnmal. ©Markus Nowak
Der erste große strategische Fehler des BHE hatte schon darin bestanden, dass er die Zustimmung zu den Westverträgen 1953 gab, ohne in den Koalitionsverhandlungen dafür zumindest eine hinreichend eindeutige Grundsatzentscheidung für eine wirklich massive Verbesserung des Lastenausgleichs zu erhalten – einschließlich der dazu nun einmal nötigen Erhöhung der Einnahmen des Ausgleichsfonds. Wie unentbehrlich eine derartige Vereinbarung eigentlich gewesen wäre, zeigte sich 1956/57: Der oppositionelle BHE schloss es aus taktischen Gründen kategorisch aus, den eigentlich in der Logik des Gesetzes liegenden Normalweg zur Erhöhung der Lastenausgleichsmittel zu beschreiten und eine stärkere Belastung zumindest des nach der Währungsreform 1948 hinzugekommenen Vermögens zu fordern.
Politische Heimatvertriebenen-Lobby schwach
Der arglistige CSU-Finanzminister Fritz Schäffer, so der Tenor der BHE-Argumentation, habe es in den Diskussionen vor der Verabschiedung des LAG verstanden, die nichtgeschädigte (abgabenpflichtige ein-heimische) Bevölkerung in einen Gegensatz zu den Lastenausgleichsempfängern zu bringen. Daher verlangte der BHE jetzt nicht eine Erhöhung der Vermögensabgaben, sondern trat dafür ein, dass die Mittel für die geforderten Leistungsverbesserungen direkt vom Staat aufgebracht würden. Das hätte bedeutet: höhere Zuschüsse von Bund und Ländern in den Ausgleichsfonds, etwa über die zusätzlich zu den Ver-mögensabgaben weiterhin erhobene Vermögenssteuer.
Doch diese reklamierten die Länder für sich und wollten sie nicht so ohne weiteres für die Kriegsfolgenbewältigung eingesetzt sehen, die sie als Aufgabe des Bundes sahen. Am Ende stand ein Kompromiss. Infolge der 8. Novelle 1957 erhielt der Ausgleichsfonds fortan dauerhaft immerhin 25 Prozent des Vermögenssteueraufkommens, so dass der Fonds künftig in einem gewissen, wenn auch bescheidenen Maß vom Wirtschaftsaufschwung profitierte. Die Frage bleibt aber doch, weshalb der 1952 ausgestellte »Besserungsschein« für den Lastenausgleich anno 1957 nicht deutlich umfänglicher eingelöst wurde. 75 Prozent des Vermögenssteueraufkommens hatten die Vertriebenensprecher mit gutem Grund gefordert, und nicht bloß 25 Prozent. Über die Jahre zusammengerechnet ging es da um einen zweistelligen Milliardenbetrag.
Weshalb ist auch später, etwa auf dem Wege höherer Bundeszuschüsse, nicht mehr Geld in den Lastenausgleich geflossen? Warum wurde für die Ostvertriebenen, darauf läuft diese Frage letztlich hinaus, kein höheres Maß an sozialer Gerechtigkeit erreicht? Die Antworten sind vielschichtig.
Da ist zum einen die Ohnmacht der Vertriebenen als gesellschaftliche Gruppe. Die Ostdeutschen waren im Westen immer nur eine Minderheit in einer Demokratie; zwar eine relativ große Minderheit, aber bei weitem nicht groß genug, um für die Volksparteien wichtiger zu sein als das Stimmenpotential der Einheimischen, die millionenfach Abgabenpflichtige waren. In Wirtschaft und Landwirtschaft oder als Hausbesitzer drängten diese eher auf Abgabensenkungen – und eben nicht auf eine Erhöhung der LAG-Leistungen.
Außerdem ist das Koalitionsverbot, das die Besatzungsmächte über die Vertriebenen verhängt hatten, in seiner Wirkung kaum zu überschätzen. Politische Zusammenschlüsse waren den Ostdeutschen bis 1949 verboten. Der BHE konnte sich als eigenes parteipolitisches Sprachrohr deshalb auch erst so spät gründen. Er blieb zeit seiner Existenz relativ schwach. Umso mehr aber fehlte es in den 1950er Jahren an einer großen, durchsetzungsstarken Vertriebenenorganisation. Es war sogar von einem »Eisernen Vorhang« zwischen den beiden Hauptkonkurrenten, dem ostpolitisch ausgerichteten Verband der Landsmannschaften und dem stärker sozialpolitisch aktiven Zentralverband der vertriebenen Deutschen, die Rede. Die Gründung des Bundes deutscher Vertriebener (BdV) in den Jahren 1957 bis 1959 erfolgte dann zu spät, um am Lastenausgleich noch ein größeres Rad zu drehen.
Obendrein waren die Vertriebenen auch in den maßgeblichen Parteien CDU, CSU und SPD deutlich unterproportional vertreten. Denn es traten einfach viel zu wenige Vertriebene in die Parteien ein. Viele hatten anderes, Existenzielleres zu tun, waren fern der Heimat noch mehr als die Einheimischen mit dem persönlichen Wiederaufbau beschäftigt. Das blieb nicht ohne Folgen. Die relativ wenigen Vertriebenenpolitiker, noch dazu nur selten mit einem Direktmandat ausgerüstet, priorisierten als Listenabgeordnete im Zweifel meist ihre Parteiloyalität vor ihrer Vertriebenenidentität. Manchen von der katholischen Soziallehre geprägten Vertriebenensprechern in CDU und CSU steckte zudem eher das Bemühen um politischen Ausgleich, nicht aber kompromisslose Interessenpolitik gleichsam in der DNA.
Die SPD zwischen den Stühlen
Und die SPD? Anfangs klassischer Anwalt der »Verdammten dieser Erde«, schien sie auch zur »Vertriebenenpartei der ersten Stunde« werden zu können. Die Sozialdemokraten sperrten sich aber gegen eigene Flüchtlingswahlkreise bei der ersten Bundestagswahl und bezogen auch in den frühen Phasen der Lastenausgleichsdebatte eine Position, die bei den meisten Vertriebenen wenig Anklang fand: Sie sträubten sich gegen einen »quotalen«, am tatsächlichen früheren Eigentum orientierten Lastenausgleich. Die SPD, so begründete dies der legendäre niedersächsische SPD-Sozialminister Heinrich Albertz, wolle in Westdeutschland nicht den »Spießbürger aus Breslau« wiederherstellen. Im Grunde erwachte die Sozialdemokratie in der Vertriebenenpolitik erst wieder richtig nach dem Ausscheiden des BHE aus dem Bundestag 1957 und vor allem nach der Godesberger Wendung zur Volkspartei 1959. In den folgenden Jahren, als SPD-Politiker wie Wenzel Jaksch und Reinhold Rehs BdV-Präsidenten waren, kümmerte man sich gezielt um das Vertriebenenmilieu. Die SPD forderte in dieser Phase zum Beispiel eine massive Erhöhung des Lastenausgleichs durch einen neuen jährlichen 500-Millionen-Zuschuss von Bund und Ländern. Aber das alles wurde durch die ostpolitische Umorientierung der SPD, die in den 1960er Jahren parallel dazu erfolgte, bald schon wieder konterkariert.
Einen weiteren kritischen Punkt markierte die Besetzung des Vertriebenenministerpostens in Bonn. Sie wirkte – um mit Clausewitz zu reden – nahezu permanent wie ein »System von Aushilfen«. Erst waren es – vor allem mit dem vergangenheitspolitisch angreifbaren Theodor Oberländer – nicht die richtigen Amtsinhaber, dann viel zu viele zu schnell wieder wechselnde. Und das führte zu einer schwachen Position des obersten Fürsprechers der Vertriebeneninteressen gegenüber einem stets starken Bundesfinanzminister, der ebenfalls andauernd und lange sogar in erster Linie für das LAG zuständig war. Selbst als das Amt ab 1961 von dem aus Niederschlesien stammenden FDP-Politiker Heinz Starke ausgeübt wurde, kam die natürliche Sparsamkeit seines Hauses gegenüber sozialpolitischen Wünschen des Vertriebenenministeriums stets zur Geltung.
Das erste Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer am Tag der ersten Bundestagswahl, dem 14. August 1949, verabschiedete später auch das Lastenausgleichgesetz. ©IMAGO / ZUMA/Keystone
Aus der Rückschau betrachtet wäre es also womöglich besser gewesen, wenn sich die Vertriebenen seit Mitte der 1950er Jahre weniger auf die »heimatpolitischen« Themen, also auf einen fast zwanzigjährigen Abwehrkampf gegen die Aufgabe der Rechtspositionen in Sachen Oder-Neiße-Linie und Münchner Abkommen, konzentriert hätten. Hätten sie ihre Kräfte stattdessen nicht ganz auf soziale Verbesserungen ausrichten können? Aber selbst in der Zeit der Ostverträge, als es hier zum letzten Mal ein »Fenster der Gelegenheiten« gab, konnten oder wollten sie sich aufgrund ihres zutiefst verletzten Rechtsempfindens zu einer solchen, letztlich »materialistischen«, Position nicht durchringen. Die Folge war schließlich, dass die Vertriebenen sowohl ihre Heimat als auch ihr Eigentum dort, soweit vorhanden, verloren. Die meisten erreichten nie eine auch nur annähernd dem Wert des Verlusts entsprechende Entschädigung.
Gerade der gewerbliche und der bäuerliche Mittelstand der früheren deutschen Staats- und Siedlungsgebiete im Osten erlitt in diesem Zusammenhang oft einen ganz erheblichen sozialen Statusverlust. 1970 gab es laut Mikrozensus noch immer signifikant weniger Selbständige und auch deutlich weniger Immobilienbesitzer unter den Vertriebenen. Die Erfolge der CDU/CSU im Vertriebenenmilieu mögen einen vor diesem Hintergrund verblüffen, schien letztlich doch auch die Union stärker an der einheimischen Mehrheit als an der vertriebenen Minderheit orientiert. Aber die Erfolge werden spätestens dann nachvollziehbar, wenn man sieht, wie wenig es anderen Kräften gelingen wollte, die erheblichen Räume zu nutzen, die ihnen CDU und CSU als Regierungsparteien mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in der Vertriebenensozialpolitik überließen.
Der erste Eindruck ist bekanntlich immer der wichtigste. Und hier hatten die Unionsparteien mit ihrem Engagement gegen das Koalitionsverbot der Vertriebenen und für eigene Flüchtlingswahlkreise bei der ersten Bundestagswahl 1949 einfach sehr vieles sehr richtig gemacht.
Einen weiteren Grund für das gute Abschneiden von CDU und CSU erläuterte ein »vertriebener Vermögensbesitzer« ein Jahr nach der nur halb gelungenen Novelle von 1957 in einem Brief an den Abgeordneten Herbert Czaja wie folgt: Es sei ein unhaltbarer Zustand, dass nur er und die anderen Vermögensbesitzer »auf eine zeitgerechte Entschädigung verzichten sollen«, während zum Beispiel die Ansprüche der ostdeutschen Beamten und der »nur Hausratgeschädigten längst in vollem Umfange anerkannt und honoriert« worden seien. Der faktisch enteignete Briefschreiber wusste jedoch auch, dass »nicht die Entschädigung für Verluste an ihrem zurückgelassenen Vermögen« die Vertriebenen für die CDU stimmen lassen würde, sondern etwas ganz anderes. Nämlich »die allgemeine Politik Adenauers und die Wirtschaftspolitik Erhards, an der wir [die Vertriebenen] in bescheidenem Umfange teilhaben«.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1430 | Juli/August 2022,
mit dem Schwerpunktthema:
Wilde und gezähmte Tiere