Der Krieg in der Ukraine verändert das Leben der Forscher und Forscherinnen grundlegend. Dennoch wird ein Manuskript mit Übersetzungen ukrainischer Lyrik, das sich im Archiv von Professor Oswald Burghardt, einem wichtigen Förderer der ukrainisch-deutschen Kulturbeziehungen des zwanzigsten Jahrhunderts, befand, für die Veröffentlichung vorbereitet. Ein Werkstattbericht von Nataliia Vusatiuk aus Kiew/Kyjiw.
März 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1434
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Die Kyjiwer Neoklassiker in den 1920er Jahren. 2. Reihe v.l.nr.: Wiktor Petrow und Mykola Serow. 1. Reihe v.l.n.r.: Oswald Burghardt, Pawlo Fylypowytsch, Borys Jakubskyj, Maksym Rylskyj. © Zentrales Staatsarchiv und Museum für Literatur und Kunst der Ukraine

Während Anfang Februar 2022 in den Medien lebhaft ein möglicher Angriff Russlands auf die Ukraine diskutiert wurde, besprachen Andrii Portnov, Professor für Entangled History of Ukraine an der Europa-Universität Viadrina, der Literaturwissenschaftler und Übersetzer Wolfram Burghardt und ich ein gemeinsames Projekt. Die Idee: Das Manuskript Dichtung der Verdammten mit Übersetzungen von Oswald Burghardt, dem Vater Wolfram Burghardts, herauszugeben. Eine russische Invasion schien uns damals unsinnig und nicht zu erwarten.

Mit Herrn Wolfram Burghardt, der in Kanada lebt, korrespondiere ich seit etwa zehn Jahren. Das Thema unserer Gespräche ist immer das Leben und Werk seines Vaters Oswald Burghardt, eines berühmten »ukrainischen Neoklassikers«. Ich interessiere mich schon seit langem für die Neoklassiker: Ich habe bereits meine Magisterarbeit an der Kiew-Mohyla-Akademie über sie geschrieben, eine Anthologie ihrer Texte veröffentlicht und meine Dissertation ist der Literaturkritik der Neoklassiker gewidmet. Als dann aber im Herbst letzten Jahres, in einer schlimmen Phase des russischen Angriffskrieges, das Deutsche Kulturforum östliches Europa sich dafür entschied, die Idee zu unterstützen und ein Buch von Oswald Burghardt herauszugeben, begann das Projekt konkrete Gestalt anzunehmen.

Wer ist Oswald Burghardt? Der prominente deutsch-ukrainische Dichter, Prosaschriftsteller, Publizist, Übersetzer und Literaturkritiker, der unter dem Pseudonym Jurij Klen bekannt ist, wurde 1891 im Dorf Serbyniwci in Podolien als Sohn eines preußischen Kaufmanns und einer Deutschbaltin geboren. Burghardt studierte germanische, englische und slawische Philologie an der St.Wladimir-Universität, der heutigen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew. Später unterrichtete er an seiner Alma Mater und an der Universität Münster, der Deutschen Universität in Prag, der Ukrainischen Freien Universität Prag und der Universität Innsbruck. Er verteidigte seine Dissertation Die Leitmotive bei Leonid Andrejev 1940 in Münster. Er beherrschte zwölf Sprachen und übersetzte Das Nibelungenlied, Die Edda, Shakespeares Hamlet, die französischen Parnassiens, Symbolisten und Unanimisten ebenso wie Heim, Winkler, Hesse oder Rilke ins Ukrainische.

KK 1434 8 13 Vusatiuk Krieg Kyjiwer Neoklassiker 926x1200© Privatarchiv Wolfram Burghardt

Oswald Burghardt gehörte in den zwanziger Jahren zur Gruppe der ukrainischen Neoklassiker und damit zu den Vertretern der sogenannten »erschossenen Wiedergeburt«, jener Generation von ukrainischen Kulturschaffenden, die in den späten 1930er Jahren Opfer stalinistischer Repressionen wurden.

Den Kern der eigentlich zwölfköpfigen Gruppe bildeten fünf Dichter: Mykola Serow, Maksym Rylskyj, Mychajlo Draj-Chmara, Pawlo Fylypowytsch und Oswald Burghardt. Sie schrieben intellektuelle, intertextuell reiche Gedichte, die sich an einen gebildeten Leser richteten, sie liebten Sonette und sie behandelten Themen und Figuren der europäischen Kultur und Geschichte, insbesondere der griechisch-römischen Antike.

Die Neoklassiker schufen eine elitäre, urbane Literatur und versuchten, sich von den romantischen, folkloristischen Traditionen der ukrainischen Poesie ebenso wie von der proletarischen Literatur zu distanzieren. Die Neoklassiker sprachen von der Bedeutung der Orientierung am kulturellen Europa.

Seit den 1930er Jahren gab es in der ukrainischen Literatur nur einen von den sowjetischen Behörden geduldeten Stil, den sogenannten „sozialistischen Realismus“, und eine einzige legitimierte Methode der Literaturkritik, den Marxismus. Der ukrainische Neoklassizismus passte daher nicht in das sowjetische Paradigma und wurde bis in die 1960er Jahre verboten. Als Rylskyj 1931 kurzzeitig verhaftet wurde, erkannte Burghardt, der bereits unter der bolschewistischen Herrschaft inhaftiert gewesen war, dass Repressionen bevorstanden, und flüchtete mit seiner Familie aus der Sowjetukraine nach Deutschland. Seine Freunde, die in der Ukraine geblieben waren, wurden Opfer von Stalins Repressionen. Um ihr Andenken zu ehren, veröffentlichte Oswald Burghardt 1947 in München Erinnerungen an die Neoklassiker auf Ukrainisch und stellte im selben Jahr eine Anthologie Dichtung der Verdammten mit seinen eigenen Übersetzungen neoklassischer Gedichte ins Deutsche zusammen. Die Auswahl der Gedichte wird von einem kurzen Vorwort Burghardts und biografischen Essays zu den Neoklassikern begleitet. Burghardts Stimme in diesem Buchmanuskript ist die eines überlebenden Augenzeugen, der gegen das totalitäre System aussagte, das die ukrainische Kultur zerstörte. Oswald Burghardt starb im Krankenhaus in Augsburg an einer Lungenentzündung, bevor er sein Buch veröffentlichen konnte, das als Typoskript erhalten blieb. Das Original wird heute im Privatarchiv von Burghardts Sohn Wolfram in Kanada aufbewahrt. Eine Kopie befindet sich im Taras-Schewtschenko-Literaturinstitut der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine.

Meine Arbeit an der Veröffentlichung von Burghardts Buch verlief nicht einfach. In der Nacht des russischen Angriffs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 war ich in Kiew und wurde im Morgengrauen von Explosionen geweckt. Ein paar Straßen von meinem Haus entfernt schlugen Teile einer russischen Rakete in ein Hochhaus ein. Am nächsten Tag flüchtete ich mit meiner Familie in ein Dorf südlich der Stadt. Einen Monat lang versteckten wir uns im Keller vor den russischen Flugzeugen. Der Norden von Kiew wurde besetzt: Das russische Militär erschoss und vergewaltigte Zivilistinnen und Zivilisten. Wir hatten Glück. Ende August kehrte ich in die Hauptstadt zurück.

Wie lebt man in der Stadt, wenn das eigene Land im Krieg ist? Am ersten Tag des Krieges klebte ich alle Fenster in meiner Wohnung mit Klebeband ab und bedeckte sie mit Teppichen, damit wir im Falle einer Druckwelle nicht durch Glassplitter verletzt werden. Ich speicherte alle Arbeitsmaterialien auf mehrere elektronische Medien und sandte Kopien von Dokumenten an Verwandte. Es dauert 15 Minuten von unserer Wohnung zum nächsten halbwegs sicheren Unterschlupf, dem Keller einer Kirche. Bis zum nächsten wirklich sicheren Zufluchtsort, einer U-Bahn-Station, gehen wir 45 Minuten. Bei massiven russischen Angriffen mit Drohnen und Raketen laufen meine Familie und ich meistens in den Keller. Wenn man nicht in den Schutzraum rennen kann, gilt die Regel der »zwei Wände«: Man soll sich zumindest im Badezimmer oder im Flur, eine Wand von der Außenwand entfernt, verstecken.

Der Strom ausgefallen, die Fenster abgedunkelt: Nataliia Vusatiuk arbeitet mit einer Powerbank und Taschenlampe an ihrem Manuskript. Foto: © Andrii VusatiukDer Strom ausgefallen, die Fenster abgedunkelt: Nataliia Vusatiuk arbeitet mit einer Powerbank und Taschenlampe an ihrem Manuskript. Foto: © Andrii Vusatiuk

Unter den Bedingungen des Krieges ist es schwierig, den Tagesablauf zu organisieren. Die ersten Stromausfälle begannen im Oktober nach dem russischen Beschuss der ukrainischen Energieanlagen. Die Ukrainer scherzen, dass Stromausfälle das beste Zeitmanagement bedeuten, weil sich alle beeilen müssen. Wenn das Licht angeht, kann man mehrere Stunden lang arbeiten, kochen, alle Geräte aufladen, das Kind zum Online-Unterricht anmelden und einkaufen gehen. Auch Wasser sollte man abfüllen, denn die Wasserhähne können plötzlich trocken bleiben. Einmal waren wir 36 Stunden lang ohne Strom.

Zu Beginn der Stromausfälle gab es kei­ne Notfallpläne: Wenn also um zwei Uhr nachts plötzlich das Licht anging, musste ich sofort aufstehen und mich an den Computer setzen. Denn niemand wusste, ob der Strom auch noch am Morgen angeschaltet sein würde. Mittlerweile helfen wir uns mit Powerbanks und LED-Lampen aus. Es ist auch essenziell, Zugang zu mehreren Internetanbietern zu haben – ich selbst habe gleich drei, denn man kann nie wissen, welcher gerade funktioniert, wenn man Internet braucht.

Wie ist wissenschaftliches Arbeiten während des Krieges möglich? Auf jeden Fall ist es eine gute Möglichkeit, der Kriegsrealität zu entfliehen und sich nicht von den Nachrichten verrückt machen zu lassen. Mein Glück ist, dass meine persönlichen Kriegserfahrungen bisher ziemlich »leicht« waren.

Für die Arbeit am Vorwort des Buches habe ich nach Archivmaterial zu Burghardt gesucht. Burghardt verlor die ersten Manuskripte seiner Gedichte und Aufzeichnungen, als er aus der Verbannung in Nordrussland zurückkehrte, wo er während des Ersten Weltkriegs interniert worden war. Während der Fahrt auf dem Dach des Eisenbahnwagens wurde ihm das Gepäck mit seinen Dokumenten und Manuskripten gestohlen. Das zweite Mal wurden Burghardts Papiere 1921 von der Polizei beschlagnahmt, als er in einer kleinen Stadt unweit von Kiew verhaftet wurde. Damals hatte er auf der Flucht vor der Hungersnot in Kiew Deutsch und Französisch unterrichtet. Aufgrund unbegründeter Anschuldigungen, an der Organisation von Aufständen gegen die sowjetische Regierung beteiligt gewesen zu sein, musste Burghardt für einen Monat ins Gefängnis, von wo aus fast alle Verhafteten zur Erschießung gebracht wurden. Burghardt verlor sein Eigentum zum dritten Mal, als er 1945 von Prag nach Tirol flüchtete. Damals fühlte er sich, wie »Adam, als er nackt vor den Toren des Paradieses stand und nach Wegen in eine ferne und unbekannte Welt suchen musste«. Glücklicherweise sind einige seiner Materialien dennoch erhalten geblieben. In den Kiewer Archiven konnte ich seine persönlichen Unterlagen aus der Studenten- und Doktorandenzeit finden, darunter Bewerbungen, Kopien von Geburts- und Taufurkunden, Gedichte und Übersetzungen. Seit Kriegsbeginn sind die meisten Archive aus Sicherheitsgründen geschlossen, bieten aber Dienstleistungen aus der Ferne an. So senden sie auf Anfrage elektronische Kopien von Quellen. Die Sicherheitsmaßnahmen sind nicht grundlos: Eine russische Rakete beschädigte die Wernadskyj-Nationalbibliothek, das ehemalige Erste Kiewer Gymnasium, das Burghardt selbst besucht hatte, und das Gebäude der Kiewer Universität, an der fast alle Neoklassiker studiert und unterrichtet hatten.

Die geografische Ausdehnung meiner Archivrecherchen ist nicht auf die Ukraine beschränkt. Einige seltene Manuskripte von Burghardts wissenschaftlichen Arbeiten werden in den Archiven der Ukrainischen Freien Akademie der Wissenschaften in New York aufbewahrt. Andrii Portnov fand Burghardts Dokumente in den Universitätsarchiven von Münster, Heidelberg und München. Ich habe viele Materialien und wertvolle Informationen auch von Burghardts Sohn aus Kanada erhalten.

Mit dem Angriff auf die Ukraine wiederholt sich die Geschichte. Denn in der Tat gibt es viele Parallelen zwischen den aktuellen Ereignissen und dem, was einst in der Ukraine geschah. Die Hinrichtungen von Gefangenen und die Folterungen in den Kellern der bolschewistischen Gefängnisse, die Burghardt in seinen Aufsätzen über die 1920er und 1930er Jahre beschrieb, ähneln den Folterkammern, die sich heute auf dem von russischen Truppen besetzten ukrainischen Gebiet befinden. Vor hundert Jahren vertraten die ukrainischen Neoklassiker den Leitgedanken von der Orientierung am kulturellen Europa, was die sowjetischen Behörden irritierte. Heute geht es in dem Krieg nicht nur um das kulturelle, sondern auch um das politische Erbe Europas. Mir scheint jedoch, dass sich die Geschichte nicht einfach wiederholt, sondern weitergeht: Es geht um die mehrere hundert Jahre währende Geschichte der Befreiung der Ukraine aus der imperialen Abhängigkeit von seinem Nachbarn Russland. Gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schrieb Oswald Burghardt in einem Brief an seine Schwester: »Möchte es nur nicht ein langer Krieg werden!« Seine Erwartungen wurden leider nicht erfüllt. Wie wird es jetzt sein?

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KK 1434 TitelCoverDer Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1434 | März 202
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mit dem Schwerpunktthema: 
Handel: Zwischen Hanse und Big Business

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