Als die Deutschen nach dem Krieg den sowjetisch besetzten Teil Ostpreußens verlassen mussten, blieben ruinöse Burgen, Kirchen und Befestigungen als typische Merkmale der Landschaft zurück. Eine junge Generation, meist in Königsberg/Kaliningrad geboren und mit diesen Ruinenbildern aufgewachsen, erkennt den historischen und kulturellen Wert dieser Bauten und will sie nach Kräften für die Zukunft retten. Dafür legen sie selbst Hand an. Svetlana Kolbanjowa war bei einem Arbeitseinsatz dabei.
März/April 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1428
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© ruin.keepers

Es ist ein typischer Herbstmorgen. Der graue Himmel kann sich nicht entscheiden, ob es regnen oder doch trocken bleiben soll. Ich stehe auf der Straße, Gummistiefel in der Tüte, eine Thermoskanne mit heißem Tee im Rucksack, und warte auf ein Auto, das mich abholen und zum Einsatzort bringen soll. Heute geht es zu einem denkwürdigen Ort, einer Ruine im Dorf Kurortnoje, früher Groß Wohnsdorf, etwa sechzig Kilometer von Königsberg/Kaliningrad entfernt. Bekannt ist sie vor allem durch Immanuel Kant, der mit den Rittergutsbesitzern, Familie von Schrötter, befreundet war und deren Domizil etliche Male besucht haben soll, um sich zu entspannen. Heute gehört die Burg der orthodoxen Kirche. Der Heimatforscher Wladimir Sozinow konnte aber einen langfristigen Pachtvertrag aushandeln und will die Anlage zu einem Museum ausbauen. Er braucht dringend Hilfe. Und so fahren wir hin, im Schlepptau ein Minibus beladen mit Inventar. Gegen elf Uhr sind etwa vierzig überwiegend junge Leute hier versammelt, einige mit kleinen Kindern. Viele grüßen sich herzlich, man kennt einander von den früheren Einsätzen.

Wer sich der Freiwilligen-Gruppe Ruin Keepers (dt. Bewahrer der Ruinen) anschließen will, braucht eigentlich nur etwas freie Zeit und einen Account in den sozialen Medien. Denn die Einsatzaktionen werden vor allem digital angekündigt. Die Ruin Keepers erkennt man an ihrem Logo. Es  zeigt die Umrisse eines Wehrturmes, die weißen Linien auf dem schwarzen Hintergrund verflechten sich zu einem Herz – sehr romantisch, es könnte gut zu einem Minnelieder-Buchtitel passen.

Romantik ist auch eine der wesentlichen Charaktereigenschaften von Wassilij Plitin, Gründer der Initiativgruppe. Sein Großvater war nach dem Zweiten Weltkrieg einer der russischen Neusiedler des früheren Ostpreußen. Wassilij gehört bereits der zweiten Generation »echter Kaliningrader« an, 1986 hier geboren und in einem Dorf zwischen Königsberg/Kaliningrad und Eylau/Bagrationowsk unweit von Tharau/Wladimirowo aufgewachsen. Der Name Wladimirowo ist zunächst nichtssagend, die frühere Ortsbezeichnung Tharau allerdings hat sehr wohl einen Klang. Jene Tharauer St. Katharinenkirche, in der der Vater des »Ännchen von Tharau« im 16. Jahrhundert als Pfarrer diente, besteht noch – wenn auch in einem kläglichen Zustand. In der Nachkriegszeit wurde sie – wie sehr viele einstige Gotteshäuser im sowje­tischen Teil Ostpreußens – zu einer Lagerhalle zweckentfremdet, später verwahrloste sie vollends. In den frühen 1990er Jahren wurden einige Versuche unternommen, die Kirche wiederzubeleben und Aufräumaktionen durch Heimatforscher organisiert.

Mit Freiwilligen die Kirche retten

Wassilij Plitin war damals noch zu jung, um sich daran zu beteiligen oder sich auch nur daran erinnern zu können. Aber im Sommer 2019 kam er auf die gleiche Idee: Freiwillige zusammenzurufen, um die verfallende Kirche in seinem Dorf zu retten. Mithilfe des Dorfmuseums organisierte er einen Subbotnik, einen freiwilligen Arbeitseinsatz an einem Sonnabend. Auch die Dorfverwaltung und der Gemeindevorsteher leisteten Unterstützung, ebenso die Dorfbewohnerinnen und -bewohner sowie viele Menschen aus Kaliningrad, die dem Aufruf folgten, das stattliche Gelände zu pflegen, Müll wegzutragen und den Wildwuchs um die Kirchenmauer herum zu beseitigen.

So fing es an. Das nächste Objakt, um das sich Wassilij kümmerte war eine Kirchenruine in Selenopolje, früher Borchersdorf. Das Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört, das Dach war eingefallen, der Turmhelm beschädigt. Doch an der Ostwand ist immer noch ein Wandmosaik zu sehen, das in den 1920er Jahren als ein Ehrenmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Dorfbewohner gestiftet worden war.
»Niemand wusste so richtig, was mit der Kirche geschehen soll. Also schaut man einfach darüber hinweg, bis die Kirchenmauern endgültig zusammenbrechen«, erklärt Wassilij Plitin. »Ich aber bin dafür, diese Ruine zu konservieren. Sie ist doch ein Denkmal der Geschichte!« Seiner Meinung nach darf sie nicht abgetragen werden, doch die vollständige und professionell durchgeführte Restaurierung würde sehr viel Geld kosten. »Und was vielleicht noch schwerer wiegt«, fügt er hinzu: »Sollte solch ein Gebäude wiederaufgebaut werden, wer kümmert sich dann weiterhin darum, wer könnte anschließend längerfristig als Träger auftreten?«

Die Kirchenbauten und Burgruinen im heute russischen Teil Ostpreußens sind seit 2010 fast ausnahmsweise der russisch-orthodoxen Kirche übereignet worden. Auch die Borchersdorfer Ruine ist Eigentum der russisch-orthodoxen Kirche. Allerdings wäre die Pfarrei nicht imstande, das benötigte Geld für eine Restaurierung aufzubringen. Das Wandmosaik ist mittlerweile so bekannt, dass viele kommen, um es zu besichtigen. In mehreren Anläufen wurde deshalb das anliegende Grundstück aufgeräumt, Gruben wurden zugeschüttet und somit der Zugang erleichtert.

»Ästhetik der Ruinen« nennt Plitin das. Können Bauwerke auch als Ruinen einen ästhetischen Wert haben? Plitin und seine Mitstreiter sind definitiv dieser Meinung. Und in vielen Fällen bleibt ohnehin nur die Möglichkeit, die Ruinen zur eigentlichen Attraktion zu machen. Besonders im Oblast Kaliningrad. »Schauen Sie, unsere Dörfer werden zunehmend leerer, die Bevölkerung zieht weg. Keiner würde diese Kirchen wieder im vollen Umfang nutzen«, gibt er zu bedenken. In einem Dorf, wo es nicht einmal eine normal funktionierende Gasversorgung oder Zentralheizung gibt, sei es unmöglich, für viel Geld eine Kirche wieder-aufzubauen, die anschließend leer steht. »Seien wir realistisch! Aber die Ruine mit wenig Aufwand zugänglich und für touristische Zwecke interessant zu machen, das ist gut möglich«, glaubt Plitin.

KK 1428 8 13 Kolbanjowa Ruin Keepers Kumehnen KLEINDie Aufräumaktion rund um die Kirchenruine in Kumehnen/Kumatschowo im Frühjahr 2021. © lexsmyliekoff/ruins.keepers

Und so geschah es. Und so geschieht es weiterhin. Das ganze Jahr 2020 hindurch, fast jeden Samstag, fuhren die Enthusiasten zu einem Objekt, das dringend ihre Hilfe brauchte. Inzwischen wurden etwa fünfzig Aufräumak­tionen durchgeführt, durchschnittlich nehmen etwa achtzig Freiwillige daran teil. In weniger als zwei Jahren entwickelte sich die Idee eines Einzelnen zu einer regelrechten Bewegung mit aktiv Teilnehmenden und Fördernden.

Die Aktion in Groß Wohnsdorf läuft bereits durch ein routiniertes Team. Von zu Hause haben wir Handschuhe, Müllsäcke, Harken mitgenommen, jemand sogar eine Kettensäge. Es ist ein Geschenk. Fremdenführer haben sie gespendet, als Dank dafür, dass sie ihre Reisegäste zu den neuen Objekten führen können. Einige Unternehmer haben die Ruin Keepers mit Ausrüstung versorgt, einer spendiert jedes Mal warmes Essen für die Freiwilligen. Mitfahrgelegenheiten werden gerne angeboten, falls man selbst kein Auto hat. Mit den Linienbussen sind die Orte der Arbeitseinsätze meist schwer zu erreichen. Wassilij Plitin, ausgebildeter Historiker, der seinen Unterhalt als Koch verdient, sucht die Objekte sehr sorgfältig aus, sammelt Informationen, regelt alle Formalitäten mit den Ortsbehörden und mit dem Denkmalschutz.

Bevor es losgeht, wird die Sicherheitstechnik erklärt. Als ungelernte Kräfte können wir nur die einfachsten Arbeiten verrichten: Gras mähen, Steine und Kleinabfälle aufsammeln, Selbstaussaaten ausreißen. Die Wünsche mehren sich, auch kleinere Notreparaturen und einfache Baumaßnahmen durchführen zu dürfen oder auch Informationstafeln für die Besucher an den Bauten aufzustellen. Aber dazu muss eine Lösung erst noch gefunden werden, auch finanziell. Sobald uns der »Burgherr« die Aufgaben erklärt und Arbeitsgruppen aufgestellt hat, wird das Werkzeug verteilt und es geht los. Wir arbeiten etwa vier Stunden ohne Pausen und schaffen erstaunlich viel in dieser Zeit – der Boden des Torturmes wird freigelegt. Die Ziegelsteine werden ordentlich aufgestapelt, sie werden später als Baustoff für die Mauerreparaturen verwendet. Einfache Arbeiten eben, für die keine Qualifikation, aber dafür viele Arbeitshände erforderlich sind.

Geschäftsmänner und Freiwillige gemeinsam

Die Ruin Keepers sind nicht die einzigen, die sich um historische Bauruinen kümmern. Im Nordosten der Region, in der Stadt Ragnit/Neman, wird zurzeit die Deutschordensburg reanimiert. Die Initiative geht von einem lokalen Geschäftsmann aus, doch auch hier sind Freiwillige willkommen. Die Keller waren mit Schutt zugeschüttet und mussten zuerst freigeräumt werden. Diese Etappe ist zwar noch nicht abgeschlossen, doch der Innenhof wurde bereits neu gepflastert und es werden regelmäßig Führungen angeboten.

Mittlerweile hat sich Plitins Initiative auch in anderen Städten der Region herumgesprochen und auch dort gibt es jetzt kleinere Gruppen, die nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren und das Konzept der »Ästhetik der Ruinen« unterstützen. Durch die Medien erfahren immer mehr Menschen davon und überzeugen sich selbst, dass es möglich ist, auch ohne große Investitionen und mit eingeschränkten technischen Möglichkeiten zur Pflege des regionalen Kulturerbes beizutragen. Die Ruin Keepers bleiben die bekannteste Gruppe. Im vergangenen Jahr wurden sie zu mehreren Veranstaltungen und Diskussionsrunden eingeladen, um von ihrer ungewöhnlichen Methode der Denkmalpflege zu berichten. Im August 2021 wurde die Initiative mit dem Preis »Zusammenleben« einer russischen Wohltätigkeitsstiftung in der Kategorie »Junge Projekte« ausgezeichnet. Das Preisgeld soll für die Registrierungsgebühr als Verein verwendet werden. Denn über die Phase einer losen Freundesgemeinschaft sind die Ruin Keepers längst hinausgewachsen. Ein eingetragener Verein ermöglicht es, sich um Fördertöpfe zu bewerben und größere Projekte zu bewältigen.

Einige gute Beispiele gibt es bereits. Im Sommer 2021 wurde in Snamensk/Wehlau im Hauptschiff der früheren Jakobskirche unter freiem Himmel eine Hochzeit gefeiert. Etwa hundert Gäste tanzten ausgelassen zur Live-Musik einer Band, die eigens aus Georgien eingeflogen worden war. Ein Café vor Ort kümmert sich um die Kirche, sorgt für Sauberkeit und Ordnung, bietet Führungen an. So eine Patenschaft wünschen sich Wassilij Plitin und seine Mitstreitenden für jedes Objekt, das sie aufpeppen.

Festival in den alten Ruinen

Oder auch mehr. Im Spätsommer 2021 fand in Kaliningrad das staatlich finanzierte »Kantata-Fest« statt, auf dem Programm: Symphoniekonzerte und Operngesang. Als Konzertplätze dienten die Kant-Insel im Zentrum von Kaliningrad (ehemals die Insel Kneiphof), die Burgruine Brandenburg im Dorf Uschakowo sowie der Innenhof der Burgruine in Gerdauen, heute Schelesnodoroschny. Mehrere Hundert Zuschauer konnten auf diese Weise auch die Arbeit der Ruin Keepers bewundern.

Diese bereiten sich auf die nächste Saison vor. Der Stamm zählt mittlerweile etwa 300 Personen. Das Organisationsteam besteht aus rund zwanzig Personen, darunter PR-Spezialisten, die sich um Annoncen und Publikationen in den Sozialen Medien kümmern, Koordinatoren, Techniker und auch Fotografen sind bei jedem Ausflug dabei. Wassilij Plitin wird von ihnen respektvoll der Gründer und »geistige Vater« der Idee genannt. Aber das hindert ihn nicht daran, bei jedem Projekt immer noch selbst Hand anzulegen. Denn vor allem sollen diese Aktionen Spaß machen! Und das tun sie.

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