»Wo einst das Reich sein Ende hatte«
Das historische Ostpreußen erstreckt sich an der Ostseeküste vom Weichseldelta bis nördlich der Memelmündung bei Memel, wo einst »das Reich sein Ende hatte«. Das ehemalige Memelland wurde 1920 durch den Völkerbund von Ostpreußen abgetrennt; nach einer wechselvollen Geschichte gehört es heute zu Litauen. Der nördliche Teil Ostpreußens mit Königsberg – etwa 35 Prozent der ehemaligen Provinz – ist als Oblast Kaliningrad Teil der Russischen Föderation, der südliche Teil gehört zu Polen und bildet die heutige Woiwodschaft Ermland-Masuren.
Eroberung durch den Deutschen Orden
Im Frühmittelalter lebten auf dem Territorium des späteren Ostpreußen die Prußen und andere baltische Völker. Da sie sich der Christianisierung und damit der Einbindung in fremde Staatsgefüge widersetzten, bat der polnische Herzog Konrad von Masowien 1226 den Deutschen Orden um Hilfe. Dieser Missionsorden suchte nach der Ausweisung aus dem Heiligen Land und aus Ungarn nach neuen Betätigungsfeldern. Kaiser und Papst gestanden dem Orden die zu erobernden Gebiete zu. Nach der allmählichen Inbesitznahme und jahrzehntelangen Kämpfen errichtete der Orden im Prußenland ein papstunmittelbares Territorium, gründete insgesamt 93 Städte und etwa 1400 Dörfer und holte vor allem deutsche, polnische und litauische Siedler ins Land, um die dünn besiedelte Region urbar zu machen.
Die Schlacht bei Tannenberg/Grunwald läutet Untergang ein
Zwischen den Jahren 1351 und 1383, unter Hochmeister Winrich von Kniprode, erreichte der Orden seinen Zenit an Reichtum, Macht und Bedeutung. Das änderte sich in Folge der Bildung der polnisch-litauischen Union von 1386. 1410 erlitt der Orden eine vernichtende Niederlage durch die vereinigten Polen und Litauer bei Tannenberg/Grunwald. Mitte des Jahrhunderts folge ein Bürgerkrieg mit Städten und Landadel im Westen, als deren Folge sich das westliche Preußen u.a. mit Danzig, Thorn und Elbing 1466 aus der Ordensherrschaft löste und künftig als »Preußen königlichen Anteils«, also als der Krone Polens zugehörig galt. Im verbliebenen Ordensland nahm der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg-Ansbach, 1525 den protestantischen Glauben an, säkularisierte den Ordensstaat und wurde als Lehnsmann der polnischen Krone Herzog von Preußen. Das Ermland blieb als eigenständiges Fürstbistum katholisch.
1618 fiel das Herzogtum in Erbfolge an das Haus Brandenburg, in der zweiten Jahrhunderthälfte gelang die Lösung aus der Lehnsabhängigkeit von Polen. 1701 wurde Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg in Königsberg zum »König in Preußen« gekrönt und der Begriff Preußen fing allmählich an, namengebend für den Gesamtstaat der Hohenzollern zu werden.
Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Ab Gründung des Herzogtums bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde in Ostpreußen eine planmäßige Besiedlung durchgeführt – es kamen Siedler aus Nassau-Dillenburg, Braunfels und der Magdeburger Gegend. 1732 bis 1736 folgte ein Strom der vertriebenen protestantischen Salzburger mit etwa 20.000 Personen. Nach der ersten Teilung Polens zwischen Preußen, Russland und Österreich 1772 wurde unter Eingliederung des Ermlandes die Provinz Ostpreußen gebildet. Nach dem Ersten Weltkrieg kam das Memelgebiet unter Völkerbundverwaltung, das Gebiet um Soldau (poln. Działdowo) ging an Polen. In den Abstimmungsgebieten im Süden und Westen fiel die Entscheidung 1920 eindeutig für einen Verbleib beim Deutschen Reich aus. Durch die Schaffung des »Polnischen Korridors« verlor Ostpreußen seine Anbindung an das Deutsche Reich.
Starke kulturelle Impulse von Kant bis Taut
Nach der Umwandlung des Ordenslandes zum Herzogtum Preußen und der Reformation erfuhr das Kultur-, Literatur- und Musikleben einen großen Aufschwung. Die Hauptstadt Königsberg, heute russ. Kaliningrad, wurde zum geistigen Mittelpunkt, von dem starke kulturelle Impulse auch auf den baltischen Raum und darüber hinaus ausgingen. Außer Deutschen lebten in dieser Kulturlandschaft Polen, Masuren und – im nördlichen Ostpreußen – Litauer.
Große kulturelle Leistungen erbrachten unter anderen die Dichter Simon Dach, E. T. A. Hoffmann, Arno Holz, die Schriftsteller Ernst Wichert und Siegfried Lenz, die Künstler Lovis Corinth, Eduard Bischoff und Käthe Kollwitz, Musiker wie Otto Nicolai und Walter Kollo sowie der Architekt Bruno Taut. Weltberühmt sind die Philosophen Immanuel Kant, Johann Georg Hamann und Johann Gottfried Herder.
Bevölkerungsentwicklung in Ostpreußen
In das durch Kriege und Epidemien wiederholt entvölkerte Land wurden deutsche Siedler aus Franken, Magdeburg, Nassau, Pfalz, Schlesien und dem Salzburger Land gerufen. Auch eingewanderte Polen aus Masowien, Litauer sowie französische Hugenotten, Schotten, Schweizer und holländische Mennoniten wurden Teil der ostpreußischen Bevölkerung. Eine zunehmend deutsche Identität bildete sich in Ostpreußen erst im späten 19. Jahrhundert heraus.
Die ethnische Gruppe der Masuren mit polnischer Sprache und protestantischem Bekenntnis – politisch an Preußen und Deutschland orientiert – unterlag im 20. Jahrhundert einer zunehmenden Assimilation. Als das südliche Ostpreußen nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen überging, wurde die verbliebene masurische Bevölkerung gewaltsam »repolonisiert«. Viele Masuren verließen die Heimat als Spätaussiedler, die Verbliebenen haben sich seit 1990 in Einrichtungen der deutschen Minderheit organisiert.
Auch wenn es die Masuren als Folge von Germanisierung und Polonisierung praktisch nicht mehr gibt, ist Ostpreußen eine multiethnische Region geblieben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Polen, Ukrainer und Lemken aus dem südöstlichen Polen angesiedelt. Daneben ist vor allem die deutsche Minderheit von Bedeutung, die in rund zwanzig Ortsgruppen organisiert ist. Die Regionalorganisationen sind im Verband der deutschen Gesellschaften in Ermland und Masuren vereinigt. 1989 gründeten junge polnische Intellektuelle in Allenstein die Kulturgemeinschaft »Borussia«, die an die multinationale Tradition der größeren Kulturlandschaft des historischen Ostpreußen anknüpft und sich zu einem bedeutenden Forum von Polen, Deutschen, Russen und Litauern entwickelt hat.
Kornkammer des Deutschen Reiches
1713 gründete Friedrich Wilhelm I. Städte und Staatsgüter (Domänen) und führte die Schulpflicht ein. Als ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Eisenbahnlinien gebaut wurden, konnten dadurch weitere Gebiete wirtschaftlich erschlossen werden.
In Ostpreußen dominierte die Land- und Waldwirtschaft. 1939 gab es in Ostpreußen über 700.000 Hektar Wald, wovon der größte Teil Staatsbesitz war. Etwa 100.000 Hektar waren Gutsbesitz, und die Holzverarbeitung stellte einen wichtigen Industriezweig dar. 36 Prozent der Bevölkerung arbeiteten in etwa 141.000 landwirtschaftlichen Betrieben. Haupterzeugnisse der Landwirtschaft waren Getreide, Hülsenfrüchte, Kartoffeln und Zuckerrüben. Ostpreußen war die Kornkammer des Deutschen Reiches. 29 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche waren Wiesen und Weiden. 1938 gab es rund 1,4 Millionen Rinder, 478.000 Pferde und etwa 1,8 Millionen Schweine. Die Industrie war besonders in Königsberg, Elbing, Allenstein, Insterburg und Tilsit angesiedelt. Ende der 1930er Jahre waren rund 888.000 Erwerbstätige in der Industrie und im Handel beschäftigt. Schwerpunkte bildeten die Maschinen- und Schiffbauindustrie, die Zellstoffwerke und die Baustoffindustrie. Förderlich auf die Wirtschaft wirkten sich auch der Fremdenverkehr, die Garnisonen sowie die gut ausgebauten Straßen- und Schienennetze aus.
Unser Tipp
- die Masurische Seeplatte
- der Masurische Kanal
- die Marienburg
- weitere Burgen des Deutschen Ordens
Literatur & Links
Boockmann, Hartmut: Ostpreußen und Westpreußen. Berlin 1992.
Döhler, Rüdiger: Ostpreußen nach dem Ersten Weltkrieg. Einst und Jetzt. Bd. 54. Ort Koblenz 2009, S. 219–235.
Ehrhard, Andreas (Fotos), Pollmann, Bernhard (Text): Ostpreußen. München 2004.
Guttzeit, Emil Johannes: Ostpreußen in 1440 Bildern, Würzburg 2001.
Kossert, Andreas: Masuren. Ostpreußens vergessener Süden. Berlin 2001.
Kossert, Andreas: Ostpreußen. Geschichte und Mythos. München 2005.
Kossert, Andreas u. a.: Kulturlandschaft Ost- und Westpreußen, Deutsches Kulturforum östliches Europa. Potsdam 2005.
Liedtke, Klaus-Jürgen:Die versunkene Welt. Ein ostpreußisches Dorf in Erzählungen der Leute. Frankfurt am Main 2008.
Lipscher, Winfried/Brakoniecki, Kazimierz: Meiner Heimat Gesicht. Ostpreußen im Spiegel der Menschen und Landschaft. München 1996.
Papendick, Christian:Der Norden Ostpreußens. Land zwischen Zerfall und Hoffnung. Eine Bilddokumentation 1992–2008. Husum 2009.
Schumacher, Bruno: Geschichte Ost- und Westpreußens. Würzburg 1958.
Wagner, Mathias: Fremde Heimat. Alltag in einem masurischen Dorf. Potsdam 2005.
Żytyniec, Rafał: Zwischen Verlust und Wiedergewinn. Ostpreußen als Erinnerungslandschaft der deutschen und polnischen Literatur nach 1945. Olsztyn 2007.