Potsdamer Neueste Nachrichten • 17.05.2004
Von Jan Kixmüller
Wenn die Diskussionsreihe Potsdamer Forum bislang nach dem Verhältnis der osteuropäischen Nachbarn zu Deutschland fragte, so war nicht immer von Harmonie die Rede. Gerade mit Polen und Tschechien spielten schwelende Konflikte vor dem Hintergrund einer durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten gemeinsamen Geschichte immer noch eine Rolle. Kriegsverbrechen auf der einen, Vertreibung auf der anderen Seite – die Zäsur von 1945 bleibt unvergesslich. Und wenn das Deutsche Kulturforum östliches Europa nach der Beziehung von Deutschen und Ungarn fragt? Ein ganz anderes Bild. Hier fallen Worte wie Vertrauensbasis, respektvolle Nähe, ja sogar Symbiose und geistige Koinzidenz.
1000 Jahre kein Krieg, Ungarn als Vorposten gegen das Osmanische Reich, als wichtiger Flügel der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Monarchie und später sogar als Schlupfloch für DDR-Bürger. Die Minderheit der Ungarndeutschen, die nie diskriminiert wurde, sogar ein Minderheitengesetz bekam, und ein Botschafter, der heute Deutschland als den »Primus« unter den EU-Partnern bezeichnet. Aber natürlich gibt es auch Schattenseiten, schließlich wurde auch in Ungarn im frühen 20. Jahrhundert die Assimilation der Deutschen und Juden im Land in Frage gestellt, zum Teil mit bösem Ausgang. Auch gab es eine Deutschenfeindlichkeit, eine Furcht vor der »Verschwabung« durch die »Schwaben« benannte deutsche Minderheit. Ihre Ursache lag nach Ansicht des Historikers Dr. Krisztián Ungváry aber vielmehr in einer Ablehnung der Moderne, die gerade von den Deutschen und Juden ins Land getragen wurde. Doch diese Ablehnung richtete sich vor allem gegen die Österreicher – der »Feind« saß in Wien.
Auch Vertreibungen gab es im Zuge des Krieges. Von anfänglich rund 500.000 Ungarndeutschen blieben nach dem Krieg etwa 300.000, heute gehen vielleicht noch 200.000 Menschen von deutschen Wurzeln aus, ein Großteil davon spricht kein Deutsch mehr. Ungarn erließ nach der Wende ein Gesetz zu einer – zumindest symbolischen – Entschädigung. Ein Schritt, der für das Verhältnis zu Deutschland viel gebracht hat. Botschafter Sándor Peisch spricht von einer Vertrauensbasis, die so geschaffen wurde.
Was die deutsche Minderheit anbelangt, steht die Uhr heute aber eher schon auf kurz nach 12. »Es gibt uns nur noch, so lange es unsere Sprache gibt«, bekennt die Direktorin des Ungarndeutschen Bildungszentrums Baja, Dr. Elisabeth Knab. Und heute lernt die Jugend der Ungarndeutschen in der Schule Deutsch als Fremdsprache, der aus dem Mittelhochdeutschen stammende Dialekt stirbt aus. Pflege der Traditionen ist nötig, merkt der Botschafter an. Doch der Hungarologe Paul Karpati, selbst mit deutschen Wurzeln, gibt zu bedenken, dass die Frage der Identität fließend ist. Je nach Gemütslage fühle er sich mal als Deutscher, mal als Ungar.
Bleibt schließlich noch die geistige Koinzidenz. Heute wandere die ungarische Identität mit der deutschen Sprache in die Welt, war vom Podium zu hören. Gemeint war nicht die deutsche Kunde vom Badetourismus am Balaton, sondern die außerordentliche Begeisterung für die ungarische Literatur in Deutschland – angefangen bei Péter Esterházy und Péter Nádas über die wiederentdeckten Autoren Sándor Márai und Antal Szerb bis hin zum Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertész. Keine Mode, sondern eher eine Entwicklung mit langem Atem, schätzt man. Zurück geht die literarische Vorliebe der Deutschen wohl auch stark auf das Engagement der Literaturszene. Da wird das Literarische Colloquium Berlin genannt, aber auch enge Kontakte von DDR-Literaten. Für die Deutschen sei Autor Márais ein Aha-Erlebnis gewesen, für die Ungarn fungiere Berlin als »Antenne zur Welt«.
Geistig historische Koinzidenzen
Der Originalartikel in der Online-Ausgabe der PNN
Deutsche und Ungarn – eine besondere Beziehung: Zukunftschance oder Auslaufmodell?