Barbara Thériault, die erste Stadtschreiberin von Lemberg, über die Macht der Details, die Bedeutung der Kommunikation und ihre persönliche Lebenserfahrung in Galizien
Збруч (Zbruč), 15.08.2018
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Das Gespräch führte Olesja Jaremtschuk

Vor nicht langer Zeit kam die erste Stadtschreiberin nach Lemberg/Lwiw. Ihre Aufgabe ist es, über die Stadt zu schreiben. In dem Stipendienprogramm, das vom Deutschen Kulturforum östliches Europa durchgeführt wird, folgt Lwiw Vorgänger-Städten wie Breslau, Riga, Tallinn oder Danzig, obwohl die Stadt nicht zur Europäischen Union gehört. Seit Mitte Mai lebt die Kanadierin Barbara Thériault in Lwiw und schreibt jede Woche über die Stadt und über ihre Erfahrungen hier. Die Texte können in einem Weblog in deutscher Sprache gelesen werden – einige Texte werden jetzt ins Ukrainische übersetzt. In jedem von ihnen spürt man die Kraft des Details und die Tatsache, dass eine Stadtschreiberin mit einem frischen Blick unsere Welt betrachtet. Zbruč sprach mit Barbara über Osteuropa und die Übereinstimmungen zwischen den kanadischen und ukrainischen Lebenswelten.

Barbara, wie bist du nach Lemberg gekommen: Ist das eher zufällig oder eher das Ergebnis eines zielgerichteten Projekts?

Die Tatsache, dass ich hier bin, verdankt sich mehreren Faktoren. Der erste Anstoß kam aus dem Netzwerk »n-ost«, wo ich vom Stipendienprogramm erfahren habe. Ich entschloss mich dazu, mich zu bewerben. Dann stellte sich heraus, dass Lwiw in diesem Jahr die erste Nicht-EU-Stadt war, die in dem Programm berücksichtigt wurde. Den Kollegen in Deutschland gefiel wohl meine Bewerbung und wir führten ein Bewerbungsgespräch per Skype. Als das Gespräch stattfand, war es bei mir in Kanada 6 Uhr früh. Ich verstand nicht alles, was sie sagten – es gab ein Problem mit dem Mikrofon. Dass ich nach Lwiw kommen konnte, war eine Überraschung, aber eine glückliche!

Ich war vorher noch nie in der Ukraine gewesen und wusste nicht so viel über das Land. In Kanada leben viele Ukrainer – sowohl der älteren wie auch der jüngeren Generation, aber was den Informationsstand betrifft, beschränken sich die Nachrichten normalerweise auf die internationale Politik. Es wird viel von der Außenministerin berichtet, die ukrainische Wurzeln hat. Über den Abschuss der malaysischen Boeing habe ich aus der polnischen Presse erfahren. Generell wird in Kanada eher über positiv über die Ukraine berichtet.

Neben den Nachrichten habe ich aber auch einen anderen Blickwinkel auf die Ukraine, denn die Freundin meines Bruders, der in Toronto lebt, ist Ukrainerin. Sie ist als Teenager mit ihrer Familie nach Kanada ausgewandert. Ihre Verwandten in Kiew habe ich besucht, das war eine sehr interessante Erfahrung. Sie zählten zu meinen weinigen Kontakten vor Ort, als ich hierherkam.

Zuvor hast du auch ein bisschen in Polen geforscht und sogar Polnisch gelernt. Woher kommt solch ein Interesse an Osteuropa?

Ich wurde 1972 in Quebec geboren. Damals war der Kalte Krieg ein ganz wichtiges Thema. Meine Mutter erzählte mir auch viel über die Kuba-Krise, im Allgemeinen gab es in der Popkultur ein großes Interesse an Osteuropa. Als ich älter wurde, begann ich mich mehr für dieses Thema zu interessieren. Ich ging zuerst nach Ostdeutschland, schrieb meine Dissertation an der Universität Erfurt und habilitierte mich später an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. [Jetzt ist Barbara Thériault Professorin für Soziologie an der Universität von Montréal – Anm. der Red.]. Dann begann ich Polnisch zu lernen, arbeitete am Kanadischen Zentrum für deutsche und europäische Studien. Vor einigen Jahren habe ich mit einer ethnografischen Studie Erfurts, geschrieben in Form von Feuilletons in der Presse, angefangen. Seit vielen Jahren schreibe ich über Deutschland und interessiere mich auch für die polnische Tradition der literarischen Reportage.

Wie waren deine ersten Eindrücke, als Du nach Lwiw kamst?

Nicht einfach, um ehrlich zu sein. Im Allgemeinen bin ich eine kommunikative Person. Ich bin selber Schuld, dass ich in Montréal zu wenig Ukrainisch gelernt habe. Ich hatte unglaublich viel Arbeit an der Universität und hatte also dafür einfach keine Zeit. Hier in Lwiw nehme ich Ukrainisch-Unterricht, jetzt seit drei Monaten. Ich verstehe ein wenig und kann auch schon etwas sagen. Aber am Anfang wollten nicht viele mit mir reden, obwohl ich Französisch, Deutsch, Englisch und etwas Polnisch spreche. Wenn ich Leute in Geschäften oder Cafés, oder auf einem öffentlichen Platz ansprach, kam kein richtiges Gespräch zustande. Es war schwierig für mich, Gesprächspartner zu finden. In Kanada, wo ich geboren wurde, oder in Deutschland, wo ich lange gelebt habe, gibt es eine entwickelte Kultur des Smalltalks – das heißt, man wechselt häufig ein paar Worte mit Anderen. Hier ist das nicht so, oder viel weniger. Ich muss aber sagen, dass ich viel Glück mit den freundlichen und angenehmen Kollegen aus dem Literaturbüro der Stadt hatte.

Außerdem stellte ich fest, dass hier wenig Sichtkontakt besteht. Es ist seltsam, aber in Lwiw schaut man sich wenig in die Augen. Als ich allein hier war, nahm mich interessanterweise niemand wahr, oder eher selten. Als meine Tochter zu mir kam, wurde ich – so scheint es mir zumindest — anders angeschaut und wahrgenommen. Anscheinend wirkte ich »normaler« als Mutter. Für mich ist auch ein negativer Kontakt ein Kontakt. Hier aber hatte ich einfach wenig.

<small><font style='color: #3f3f3f;'>Screenshot des Stadtschreiber-Blogs von Barbara Thériault</font></small>

Interessant ist, dass Du unsere Stadt mit »neuen Augen« siehst. Was sind die ersten Einzelheiten, die Dir aufgefallen sind?

Als ich mit dem Taxi vom Flughafen in die Stadt fuhr, bekreuzigte sich der Fahrer sechsmal. So habe ich verstanden, dass wir unterwegs an sechs Kirchen vorbeigefahren waren.

Tatsächlich beginnen die meisten Texte in meinem Blog mit einem Detail. So ist es in dem Text über das Hruschewsky-Denkmal, in dem über die enthaupteten Schaufensterpuppen, in dem über eine auf der Straße gehörte Melodie oder in dem über Männerhandtaschen. Was meine Beobachtungen betrifft, ist mir noch aufgefallen, dass die Lemberger ernst sind. Man begegnet eher ernsten als lächelnden Menschen. Aus irgendeinem Grund grüßen sich meine Nachbarn nicht, und das ist mir fremd.

Über welche Aspekte des Lebens schreibst Du in Deinem Blog?

Über das Alltagsleben und die Menschen. Wenn ich auf ein Thema stoße, versuche ich Interviews dazu mit Menschen zu führen. Ich verfolge bestimmte Geschichten.

Du hast einige Reportagen von Joseph Roth ins Französische übersetzt. In seinen Texten über Galizien gibt es eine gewisse Nostalgie für die Habsburger Monarchie, denn nach einer leichten Bewunderung für sozialistische Ideen war er zur glühenden Anhängerschaft der Monarchie zurückgekehrt. Hast Du hier, in Galizien, eine Nostalgie für diese vergangene vielfältige Welt verspürt?

Zum Teil. Nicht so allgemein, aber es ist ein bedenkenswertes Thema. Zum Thema Vielfalt: Ich lebe in Montréal, wo alles unglaublich vielfältig ist. Im Gegensatz dazu fällt mir hier keine besondere Buntheit ins Auge. Es gibt hier zum Beispiel wenige schwarze Menschen. Das heutige Lwiw ist ziemlich homogen. Es gibt eine gewisse sprachliche Vielfalt, ich meine die ukrainische und russische Sprache. Es gibt auch eine gewisse religiöse Vielfalt. In Sachen LGBT+ weniger. Die Tatsache, dass die meisten Denkmäler Männern und Ukrainern gewidmet sind, verstärkt übrigens diesen Eindruck. (Vgl. den Text über das Hruschewsky-Denkmal). Die Stadtverwaltung und private Unternehmer haben die Sehnsucht nach der multinationalen Monarchie aufgegriffen und fahren gut damit, aber viele Leute wissen wenig davon im Alltag. Sie wissen z.B. nicht – und ich weiß es leider auch nicht –, wer früher in ihren Häusern gelebt habt.

Was Joseph Roth betrifft: Bei ihm gibt es viele interessante Texte, die uns die damalige Welt zeigen. Natürlich war er eben ein Kind seiner Zeit und nicht frei von ihren Stereotypen. Ich meine zum Beispiel, dass man damals ganz essenzialistisch schrieb, »die Polen« sind so und so, »die Deutschen« sind so und so. Heute haben wir eine andere Sensibilität, besonders in der Soziologie. Klar finden wir auch heute noch diese Tendenz: Andrzej Stasiuk hat sich z.B. in seinem Buch Unterwegs nach Babadag nicht von dieser Art von Klischees freimachen können. Sein Buch ist wirklich wundervoll, aber es wirkt immer wieder essentialistisch.

Planst Du aus Deinen Lwiw-Texten ein Buch zu machen?

Ich schreibe jede Woche Blogbeiträge, die ins Ukrainische übersetzt werden, manchmal erscheinen meine Texte auch in der Thüringer Allgemeinen. Ich kann Details beobachten, aber ich bin keine Expertin. Das wäre nötig, um ein Buch über die Ukraine oder Lwiw zu schreiben. Ich möchte noch einige Feuilletons – über lustige Erfahrungen und wie mein Deutschlandbild sich hier verändert hat – schreiben. Das soll Teil eines geplanten Buches über Erfurt werden, das auf Deutsch erscheinen wird.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Klaus Harer

Das Interview erschien unter dem Originaltitel «У Львові часто не дивляться в очі» am 15.08.2018 in der Online-Zeitung Збруч (Zbruč)

Barbara Thériault ist Stadtschreiberin in Lemberg/Lwiw 2018
Die Journalistin und Soziologin berichtet seit Mai aus der geschichtsträchtigen westukrainischen Metropole

www.stadtschreiberin-lemberg.de
Zum Weblog der Stadtschreiberin Lemberg/Lwiw 2018