Potsdamer Neueste Nachrichten, 29.12.2003
Die Schändung des Potsdamer Gedenksteins zeigt, dass wir mit unserer eigenen Geschichte noch nicht klar gekommen sind. Wer »Deutsche Täter sind keine Opfer« auf einen Gedenkstein schreibt, sieht die Geschichte verkürzt. Da gibt es großen Gesprächsbedarf. Wenn man mit einem Zeitzeugen aus Hinterpommern gesprochen hat, wird man vielleicht nicht so pauschal urteilen.
Flucht und Vertreibung ist das vorletzte Kapitel der Deutschen Geschichte von 1933 bis 1945. Sie ist in der Folge des Krieges zu sehen, in der Folge der nationalsozialistischen Herrschaft überhaupt. Das letzte Kapitel, die deutsche Teilung, haben wir überwunden. Mit den Verbrechen der Deutschen im Krieg haben wir uns lange auseinander gesetzt. Und nun kommt die Zeit, in der man sich dem noch unbearbeiteten vorletzten Kapitel zuwendet. Das muss eingebunden in die Vorgeschichte betrachtet werden, als direkte Folge des deutschen Angriffskrieges.
Es gab schon gleich nach Beginn des Krieges nach dem Hitler-Stalin-Pakt eine Reihe von Umsiedlungen von Polen; auch Deutsche wurden unfreiwillig umgesetzt. Etwa die Südtiroler die »heim ins Reich« geholt wurden und im Sudetenland angesiedelt wurden, wo wiederum Tschechen ihre Höfe verlassen mussten. Schon vor Kriegsende gab es also eine große Zahl von unrechtmäßigen Umsiedelungen, die nicht nur Deutsche betrafen, sondern vor allem auch Polen und Tschechen. Letztlich schlugen dann 1945 die Verbrechen, die die Deutschen verübt hatten, auf sie zurück. Der Zusammenhang der Ereignisse ist so eng, dass man die verschiedenen Kapitel nicht losgelöst voneinander sehen kann.
Wenn wir die Vorgeschichte unter den Teppich kehren, wird es zum Humus für eine Legendenbildung, Emotionen die instrumentalisiert werden können. Das ist der Nährboden für Rechtsextreme. Wenn die Menschen über den Kontext Bescheid wissen, in dem die Dingen geschehen sind, dann kann man ihnen keine Legenden erzählen. (…)
Das Leid der Polen, die beispielsweise aus dem schönen Lemberg nach dem Krieg unfreiwillig in das zerstörte Breslau kamen, begreifen wir vielleicht erst, wenn wir das Schicksal der Breslauer sehen, die in das zerstörte Köln kamen. Durch das eigene Schicksal hat man vielleicht eher Verständnis für das Leid der anderen.
Wenn wir die Vorgeschichte kennen, verstehen wir auch besser, wieso Polen und Tschechen heute so sensibel auf das Thema reagieren. Man muss etwa wissen, dass Polen aus dem Generalgouvernement nach Russland, in die Hände Stalins, abgeschoben wurden, während dort Baltendeutsche und Deutschstämmige aus Bessarabien angesiedelt wurden, die dort gar nicht leben wollten. In Polen und Tschechien fürchtet man heute, dass sich die Deutschen ausschließlich als ihre Opfer sehen. Die Dinge dürfen nicht verdrängt werden, auf beiden Seiten. Sonst brechen sie irgendwann wieder hervor. Wir brauchen eine historische Aufarbeitung die nicht die Reihenfolge der Ereignisse vergisst. Wir müssen Formen der Erinnerung finden, ob ein zentrales Memorial wie das »Zentrum für Vertreibung« das richtige dafür ist, sei dahingestellt.
Aufgezeichnet von Jan Kixmüller
- Verständnis für das Leid der anderen
Der Originalartikel in der Online-Ausgabe der Potsdamer Neuesten Nachrichten