Julian Kornhauser lässt in seiner autobiografischen Schrift noch einmal das versunkene Oberschlesien aufleuchten
Jan Kixmüller
1
Eine TRAUM-WIRKLICHKEIT war dem Autor Kornhauser die Welt Schlesiens nach dem Ende des Krieges, eine Wirklichkeit, die eigenen Gesetzen gehorchte

Potsdamer Neueste Nachrichten, 21.11.2003

An einem sonnigen, heißen Tag liegt der kleine J. neben seinem Cousin auf einer Decke in einem Garten. Eine Wiese, die sanft in einen Obstgarten übergeht, eine Garage, die einst als Werkschuppen diente und ein Gebäude, das die Schlachterei beherbergt. Bereits bei J.’s Geburt ein Jahr nach dem Krieg stand die Schlachterei leer, der Besitzer hatte Gleiwitz – nun das polnische Gliwice – verlassen, lebte jetzt in Deutschland und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Der kleine Junge neben J. wird in wenigen Jahren nicht mehr in Oberschlesien sein, wird an der Seite seines Vaters in Westdeutschland leben. Nur J. wird noch hier sein, in seinem Traum- und Kinderland, seinem Zuhause.

Julian Kornhausers Buch Zuhause, Traum und Kinderspiele trägt stark autobiografische Züge, Kindheit und Jugend in der vom Verschwinden bedrohten Nachkriegswelt Oberschlesiens umkreist der Autor, um sich schließlich in seinem eigenen Konflikt der Ablösung von dieser Welt wiederzufinden. Einer Welt, die ihm zunehmend abhanden kommt, zur Traumwelt wird. »Es war in hohem Maße eine Traum-Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die eigenen Gesetzen gehorchte, in der die Zeit von der Norm abwich, und alles was geschah oder geschehen sollte, seinen freien Rhythmus hatte: Die Menschen gingen langsamer, die Lichter erloschen später, und selbst die Türen der Geschäfte schlossen sich erst um Mitternacht.«

Es ist die Zeit eines epochalen Über- und Untergangs, der Verlust der komplizierten polnisch-jüdisch-schlesisch-deutschen Welt Oberschlesiens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges; diese »sonderbare Gemeinschaft«, die J. letztlich Heimat bedeutete. Ein Grenzland, sowohl in der Zeit wie auch in der Geografie, erschüttert vom demografischen und kulturellen Erdbeben der neuen Nachkriegsordnung.

Während Deutsche und Schlesier geflohen waren und durch die folgende Polonisierung weiter zur Flucht gedrängt werden, die wenigen der Shoa entgangenen Juden wiederum emigrieren, folgen aus dem Osten jüdische Umsiedler aus den ehemals polnischen Ostgebieten oder aus der Sowjetunion – meist aus dem Lemberger Gebiet – nach; wie auch Polen, die in die nun polnischen Gebiete Schlesiens kommen, meist aus Zentralpolen und dem Osten des Landes, der an die damalige Sowjetunion gefallen war.

Ein gewaltiger Bevölkerungsaustausch vollzieht sich, und mittendrin der kleine J., Sohn eines nichtorthodoxen Juden aus Krakau und einer Schlesierin aus Königshütte, eines der letzten Kinder der symbiotisch wie auch gegensätzlichen Welt Schlesiens, die mit dem Krieg zu Grabe getragen wurde. In J. lebt das polnisch-deutsch-jüdische Vorkriegsschlesien weiter, er träumt sich in diese Welt hinein, auch wenn in seiner Familie – in diesem eigenartigen Nachglühen einer versunkenen Welt scheinbar unbeirrt fortbestehend – doch jeder letztlich weiß, dass man einer Welt angehört, die aufgehört hat zu existieren. Immer mehr Juden verließen infolge von Intoleranz, Repression und der antizionistischen Politik in den 50er und 60er Jahren Polen, die Deutschen wichen dem Druck der so genannten »Repolonisierung«, von 850 000 Oberschlesiern blieben nur noch wenige Zehntausend übrig. Wie unter einem Brennglas wird Kornhausers Gleiwitz zum Synonym dieses Umbruchs, wie auch des Autors Erinnerungen zur exemplarische Biographie seiner Generation werden.

In den Truhen auf dem Dachboden findet J. deutsche, nach Moder riechende Bücher, die von einer unverständlichen und bedrohlichen Welt künden. Als er diese gefährlichen, mit Sütterlinschrift bedruckten Seiten berührt, fühlt er sich als »verlorenes, von der Zeit besiegtes Kind«. Mit dem Heranwachsen durchlebt J. intellektuelle und sexuelle Initiationen, erlebt die Aufbruchsstimmung der Tauwetterperiode 1956 und die Studentendemonstrationen im März 1968.

Doch überlagert wird all dies von seinem eigenen Ablösungsprozess. Lange zögert der junge J., Gleiwitz zu verlassen. Zum Freund sagt er noch: »Warum willst du nicht verstehen, dass alles, was ich habe, hier ist, in diesem grauen, dicken Staub, hier auf dieser schmalen Insel, unter den Menschen, die mir nahe sind. Und derer gibt es nicht viele. Und sie sterben langsam aus, verschwinden, gehen fort.« Während sich in einer unbekannten Fremde für ihn ein neuer Horizont eröffnet, meint er doch, dass er eigentlich mit diesen Verlorenen zusammen entschwinden sollte: »Mich in der verstaubten Landschaft auflösen, mich als Teil dieser Gesellschaft fühlen.«

Diese Suche nach einer Identität, die schließlich trotz allen Zweifeln im absehbaren Weggang J.’s seine Lösung findet, formuliert den Konflikt der Bewohner der von verschiedenen Sprachen und Kulturen geprägten Grenzländer im Nachkriegseuropa, wie sie zu anderen Zeiten und an anderen Orten immer wieder kehren, sei es am Rande der zerfasernden Sowjetunion oder auf dem Balkan.

Das vom Deutschen Kulturforum östliches Europa herausgegebene Buch geht noch einmal über die Brücke in eine Vergangenheit zurück, die sich nur noch in verblassenden Erinnerungen erahnen lässt. Seinem Ansatz folgend will das Potsdamer Kulturforum keine Einbahnstraße in das gestern weisen, sondern hat gemeinsames Erschließen des deutschen Kulturerbes im Osten vor Augen. Der 1946 in Gleiwitz geborenen Julian Kornhauser lebt heute in Krakau und ist in Polen ein bekannter Lyriker, Erzähler und Literaturkritiker. Mit Zuhause, Traum und Kinderspiele legt das Kulturforum das erste ins Deutsche übersetzte Buch Kornhausers vor und eröffnet damit einen Blick auf eine schlesische Erinnerungslandschaft, die sich in allen Facetten erfreulich stark von den Bildern abhebt, die in den vergangenen Jahrzehnten bei uns von Vertriebenenverbänden geprägt worden waren.

Julian Kornhauser: Zuhause, Traum und Kinderspiele. Deutsches Kulturforum östliches Europa, 156 Seiten, Potsdam 2003. ISBN 39361 68-01-6.