Von Sabine Poláček
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Prager Zeitung.
Als Peter Demetz in Prag vom Ende der deutschen Okkupation erfuhr, saß er im Friseursalon und ließ sich rasieren. Der damals 22-Jährige begleitete an dem Tag auch einige Krankenschwestern ins Spital und wechselte einige Worte mit einem Sowjetoffizier, der sich nach dem örtlichen Funksystem erkundigte. Es fällt ihm nicht leicht, sich rückblickend an die genauen Abläufe in den ersten Stunden seines »befreiten Lebens« zu erinnern, die er als Autor in seinem Werk Mein Prag beschreibt. Er weiß aber noch, dass er die Sommermonate jener Zeit mit einem altmodischen Badeanzug an der Moldau verbrachte, »halb betäubt von der Vergangenheit und Gegenwart und gedanklich bei seinem Philosophiestudium, das er bald beginnen wollte«. Damals ahnte er nicht, dass er zu einem bedeutenden Schriftsteller und Literaturkritiker heranreifen und sich in den USA als Professor für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der renommierten Yale-Universität einen Namen machen würde.
Im Herbst dieses Jahres wird Peter Demetz zu seinem 90. Geburtstag mit dem Georg-Dehio-Buchpreis für sein Lebenswerk geehrt. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam vergibt die mit 7.000 Euro dotierte Auszeichnung jährlich an Autorinnen und Autoren, die sich in ihren Publikationen intensiv mit der deutschen Kultur und Geschichte im östlichen Europa auseinandersetzen. Gewürdigt werden laut dem Kulturforum insbesondere Demetz’ literarische Eleganz und sein mutiges Engagement, brisante Themen deutsch-tschechischer Geschichte immer wieder aufzugreifen. Auf die Frage, was er dabei empfindet, für sein Lebenswerk geehrt zu werden, horcht er zunächst in sich hinein und antwortet nach einer langen Pause: »Es hilft mir auf die Beine, denn man fühlt sich etwas isoliert in einem so großen Land wie den USA. Es ist ein schöner Gedanke, dass man sich in Europa meiner erinnert.« Eine indische Studentin stellt gerade seine umfangreiche Bibliographie zusammen – von Büchern und Essays bis hin zu journalistischen Beiträgen und Übersetzungen – eine Mammutaufgabe. »Ich schäme mich fast«, gesteht Demetz leise und erinnert sich: »Ich habe ja so viel geschrieben. Sogar Reiseberichte für den Münchner Merkur, zum Beispiel von meinem Aufenthalt in Haiti in den sechziger Jahren, als ich noch eine romantische Vorstellung von der Welt hatte – damals.« Denn eigentlich ist der gebürtige Prager ein analytisch denkender Mensch, der in Ruhe Argumente abwägt. »Mehr Praktiker als Theoretiker«, präzisiert er. »Selbst wenn ich theoretisch ein geheimer Romantiker wäre, bin ich in der Praxis ein Realist.« Deshalb wäre Peter Demetz nicht er selbst, wenn er nicht gleich ein neues Projekt pragmatisch in Angriff genommen hätte: Sein neues Buch, an dem er arbeitet, handelt von Diktatoren. »Ich war neugierig, welche Stellung Mussolini, Stalin, Lenin, Goebbels und Hitler zum Film hatten.« Es soll 2014 beim Paul-Zsolnay-Verlag erscheinen, so wie die 2007 zuletzt erschienene Publikation Mein Prag, das zur Preisverleihung wieder verlegt wird. »Es ist mein persönlichstes und düsterstes Werk über mein Prag, das als Schauplatz trauriger Erlebnisse eigentlich nicht meines war. Denn Prag wurde mir durch die Geschichte entfremdet« sagt Demetz bewegt.
Es beschreibt die historischen Ereignisse und seine Jugend zwischen 1939 und 1945, das Schicksal seiner jüdisch-katholischen Familie, Momente der Angst durch seine Deportation nach Auschwitz und den Tod der Mutter, die aus dem Konzentrationslager Theresienstadt nicht mehr zurückkehrte. Doch auch die schönen Ereignisse bleiben unvergessen: Das Mädchen mit dem Samthaarband, die wieder erlangte Freiheit 1945 und die glückliche Zeit, als er unter der Karlsbrücke ein Plätzchen ausfindig machte, »wo es einfach war, einem Mädchen den Blusenknopf zu öffnen«.
Der 1922 geborene Peter Demetz wuchs als Halbjude im multiethnischen Böhmen unter der liberalen Masaryk-Regierung zweisprachig auf und besuchte tschechische und deutsche Gymnasien in Prag und Brünn. Sein Vater, der aus einer katholischen, ladinischen Bauernfamilie aus Südtirol stammt, verschrieb sich nicht nur dem Theater und der Literatur, sondern auch den jungen Schauspielerinnen. Die Ehe mit der Jüdin aus der böhmischen Provinz, die einen Modesalon betrieben hatte, zerbrach. Dass Peter Demetz als Halb-Prager und Halb-Südtiroler einer katholisch-jüdischen Familie entspringt, störte den »multikulturellen Sohn«, wie er sich selbst bezeichnete, nicht. »Ich sollte erst später herausfinden, was es heißen sollte, ein halber Jude und ein halber Goi zu sein«. Denn wer sich sehr wohl für seine Herkunft interessierte, waren die Nationalsozialisten. Trotz dieser Tatsache schreckte er nicht davor zurück, während der Besetzung durch Hitlers Wehrmacht illegale Lyrik-Abende zu organisieren. Nach der Verhaftung durch die Gestapo und Zwangsarbeit im »Halbjudenlager«, wurde er wieder in die Freiheit entlassen.
Nach seiner Promotion an der Karls-Universität und nach der Machtübernahme der Kommunisten 1949 flüchtete der Germanist auf eine abenteuerliche Weise durch den Bayerischen Wald – ausgerechnet nach Deutschland, wo er unter anderem für Radio Free Europe in München arbeitete. 1953 emigrierte Demetz in die USA, nach New Haven, wo er als Dozent und später als Professor für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Yale-Universität lehrte.
Bekannt wurde er zunächst mit dem Essay René Rilkes Prager Jahre, worin er den berühmten Dichter ins rechte Licht rückte. Demetz setzte sich mit Theodor Fontane auseinander, veröffentlichte Marx, Engels und die Dichter und nahm mit Die Süsse Anarchie die deutsche Literatur ab 1945 kritisch unter die Lupe. Zudem saß er in der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zu seinen großen literarischen Vorbildern zählen bis heute František Halas, Jiří Orten, aber auch Daniela Hodrová: »Eine schwierige, experimentelle Autorin, deren Romane sich zu lesen lohnen. Sie ist eine Erbin Kafkas.«
Nach seiner Emeritierung 1991 nahm sich der Schriftsteller und Übersetzer von Lyrik- und Prosatexten vor, »alte Rechnungen« zu begleichen und endlich das zu schreiben, worauf er Lust hatte: Mit dem Band Prag in Schwarz und Gold präsentierte er ein historisches, kulturelles und soziopolitisches Bild der Weltmetropole und stemmte sich vehement gegen den Mythos vom magischen Prag, als ob es nichts anderes zu bieten hätte als das Goldene Gässchen, Golem und Kafka. Weitere Publikationen folgten: Die Flugschau von Brescia und die Essay-Sammlung Böhmen böhmisch – eine Mentalitätsgeschichte der Deutschen, Tschechen und Juden in Böhmen. Bewusst oder unbewusst nimmt er die Rolle eines Kulturvermittlers ein.
Aus seinem literarischen Schaffen wird deutlich, wie stark ihn die sprachliche und kulturelle Vielfalt prägt. Doch obwohl sich der Kosmopolit selbst als einen Menschen ohne Wurzeln betrachtet, lässt ihn Prag nicht los. Im Jahr 1989 – vierzig Jahre nach seinem letzten Aufenthalt in Tschechien – besuchte Demetz die Goldene Stadt erneut. Sein Prag ist jedoch ein anderes geworden als das aus seiner Kindheit und Jugend. Seine Beobachtungen hielt er in Böhmische Sonne, Mährischer Mond – Essays und Erinnerungen fest. Erneut befasste er sich mit der Geschichte und Entwicklung seiner Heimatstadt, analytisch und gefühlvoll.
Es gibt aber auch neue Erinnerungen, die er mit Prag verbindet. Mit unüberhörbarem Stolz erzählt Peter Demetz von dem Tag, als er vom ehemaligen tschechischen Präsidenten eine Verdienstmedaille an die Brust geheftet bekam. »Ich verstand Havel. Und ich glaube, er verstand mich.« Geehrt wurde der Autor bereits einige Male – mit der Goethe-Medaille, dem Johann-Heinrich-Merck-Preis und dem Europäischen Kulturpreis. Dabei wünschte er sich eigentlich, etwas anderes zu machen als Literatur, die nun einen wesentlichen Teil seines Lebens ausmacht. »Irgendwann wollte ich von ihr loskommen und etwas ganz anderes ausprobieren. Zum Beispiel in die Forschung gehen.« Wie schön, dass sich das der vielseitige Autor, Übersetzer, Literaturkritiker, Kosmopolit und Kulturenversteher doch noch anders überlegt hatte.
»Mein Prag ist mir fremd geworden«
Der gesamte Artikel in der Online-Ausgabe der Prager Zeitung