Geschichte | In der DDR war das Thema Vertreibung tabu – doch die Indoktrination funktionierte nur begrenzt
Henry Lohmar

Märkische Allgemeine Zeitung • 03.12.2009

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der märkischen allgemeinen zeitung.

Umsiedler – Wolfgang Thierse ist noch heute empört, wenn er sich an die offizielle Bezeichnung für die Vertriebenen in der DDR erinnert. »Als hätten wir den Möbelwagen bestellt und wären umgezogen!« Der SPD-Politiker und Bundestagsvizepräsident wurde 1943 im schlesischen Breslau geboren. An die Vertreibung seiner Familie anderthalb Jahre später hat er naturgemäß keine eigenen Erinnerungen. Aber die Mutter erzählte im thüringischen Eisfeld, wo die Thierses sich ansiedelten, unzählige Male von der Flucht und dem Verlust der Heimat. »Diese Form des Verarbeitens konnte in der DDR nur in der Familie oder in der Kirche geschehen«, sagt Thierse. Wer außerhalb dieser schützenden Umgebungen beispielsweise Breslau statt Wrocław sagte, galt schon als Revanchist.

Rund 15 Millionen Deutsche waren von den ethnischen Säuberungen nach dem Ende des von Hitler begonnen Zweiten Weltkriegs betroffen. Zwölf Millionen von ihnen erreichten das verkleinerte und von den Alliierten besetzte Deutschland. Immerhin ein knappes Drittel davon – mehr als vier Millionen Menschen – lebten 1950 in der DDR. Ihr Schicksal war Thema einer Diskussionsveranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa am Dienstagabend in Potsdam.

Der Historiker Michael Schwartz vom Münchner Institut für Zeitgeschichte erinnerte daran, dass in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR anfangs recht offen mit dem Thema umgegangen wurde. So habe die SED offiziell anerkannt, dass es die Vertriebenen schlimmer getroffen habe als andere Bevölkerungsgruppen. Es gab sogar besondere sozialpolitische Maßnahmen, die freilich nicht mit dem umfangreichen Lastenausgleich in der Bundesrepublik vergleichbar waren. Allerdings: Anfang der 50er Jahre war Schluss. Das »Umsiedlerproblem« galt offiziell als »gelöst«.

Als Grund für die zunehmende Tabuisierung der Vertreibungen führte Schwartz neben dem Verhältnis zur sowjetischen Besatzungsmacht auch einen pragmatisches Eigeninteresse an: Die DDR war alleine nicht überlebensfähig und schon aus wirtschaftlichen Gründen von einem guten Verhältnis zu ihren östlichen Nachbarn abhängig. Das mag die frühe Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR im Jahr 1950 befördert haben. Dennoch gab es auch ideologische Ursachen: Die (letztlich auch bei einem Großteil erfolgte) Integration in die DDR-Gesellschaft sollte vorangetrieben, die Vertriebenen von der Rückkehr in ihre alte Heimat – was die westdeutschen Verbände teils noch offen forderten – abgebracht werden. Das freilich funktionierte nur begrenzt. Laut Schwartz begingen Vertriebene auch in der DDR den »Tag der Heimat« und besuchten – zum Ärger der Stasi – bis zum Mauerbau regelmäßig die großen Vertriebenen-Treffen in Westdeutschland. Etwa 900 000 Vertriebene verließen die DDR bis 1961.

Manfred Kittel, Direktor der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, erinnerte daran, welche Auswüchse der verkrampfte Umgang mit dem Thema ab MItte der 50er Jahre hatte. So seien die ehemaligen Ost-Gebiete im SED-Sprachgebrauch offiziell »niemals rechtmäßig deutsch« gewesen, und die Vertreibungsverbrechen, denen Millionen zum Opfer fielen, wurden als »Unbequemlichkeiten« verharmlost. Andererseits betonte die tschechische Publizistin Alena Wagnerovà: „Das Bewusstsein, dass das eigene Schicksal mit der deutschen Kriegsschuld verknüpft ist, war in der DDR im Gegensatz zum Westen sehr stark ausgeprägt. Das habe ich immer als sehr angenehm empfunden.