Rezension: Tina Veihelmann: Aurith | Urad. Zwei Dörfer an der Oder (Dwie wioski nad Odrą) • aus der Reihe »Lesestoff« • Die Rezensentin vergibt fünf von fünf möglichen »k« zur Bewertung: »großartig«
Danuta Görnandt
1

RBB kulturradio • 22.01.2008

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des RBB-kulturradio.

Dieses Buch ist außerordentlich originell gemacht. Die zwei Dörfer Aurith und Urad liegen sich gegenüber am Ufer der Oder, das eine auf deutscher, das andere auf polnischer Seite. Nur knapp 100 Meter voneinander entfernt, aber eben getrennt durch den Fluss. Einen Fluss, der nicht nur Fluss, sondern eben auch Staatsgrenze ist, ein paar Jahre lang europäische Außengrenze war und nun mitten in Europa liegt.

Das Originelle nun: Das Buch lässt sich von zwei Seiten aus lesen. Je nachdem, wie es vor einem liegt, heißt es Aurith oder Urad. Und je nachdem, von welcher Seite man es liest: aus dieser Sicht guckt man, erfährt man etwas von den Menschen, ihrer Sicht auf die andere Seite und die Verhältnisse drum herum. Und in der Mitte des Buches, nach jeweils genau 120 Seiten, da fließt die Oder. Das heißt, es sind auf einigen Seiten Nahaufnahmen von den kleinen Krusselwellen der Oder zu sehen, einfach Wasser und nichts als Wasser.

Es ist ein Foto-Textband. Basis war eine schon 2003 begonnene Recherche der Journalistin Tina Veihelmann über die Menschen in diesen beiden Dörfern. Und Tina Veihelmann hat für ihren Text übrigens im Vorjahr auch den deutsch-polnischen Journalistenpreis bekommen. Die sehr aufschlussreichen Fotos und die gesamte Gestaltung sind von Steffen Schuhmann, einem der Mitbegründer der Agentur anschlaege.de.

Und was noch dazu kommt: Das Ganze ist konsequent deutsch-polnisch und auch das ist gestalterisch überzeugend gelöst. Jede Buchseite ist quer geteilt, wenn ich vom deutschen Dorf Aurith aus lese, dann steht der deutsche Text in der oberen Hälfte und der polnische auf der unteren. Und wenn ich von der anderen Seite aus lese, dann ist es natürlich umgekehrt.

Der Begriff der Nahaufnahme wird ja oft strapaziert, wenn es gilt, solche großen politischen und gesellschaftlichen Prozesse im Detail zu betrachten. Selten aber wird er so zu Recht verwendet wie in diesem Zusammenhang. Selten nämlich wird vom Text, wie auch von den Fotos eingelöst, was er denn wirklich meint.

Tina Veihelmann führt die Menschen nicht vor, sie glaubt ihnen ihre erzählten Geschichten. Und zwar jenseits der Richtigkeit der historischen Abläufe und Bewertungen, jenseits also von politischer Korrektheit. Vielmehr kommen alle möglichen Stereotype, alle Vorurteile und so manches Fehlverhalten zu Tage. Aber dann merkt man auch, dass es mit Form und Inhalt schon seine Richtigkeit hat, dass also die gewählte Gestaltung des Buches (also von der einen Seite aus zu lesen und von der anderen Seite aus ebenso) nicht nur ein formaler Aspekt ist. Bestimmte von den Leuten in beiden Dörfern geschilderte Episoden werden erst wirklich rund, wenn man die Sicht beider Seiten kennt. Und eben nicht nur die eine Perspektive, die eine Deutung und Wertung.

Das Buch also führt wunderbar vor, wie wichtig es ist, sich gegenseitig die Geschichten zu erzählen, damit löst man nicht alle Probleme, aber man schaut ein bisschen schlauer in die Welt.