RADIOmultikulti (SFB). Russische Sendung, 03.03.2003, 19:00 Uhr, Konstantin Lul’skij
„Russlanddeutsche heute – Identität und Integration“. So betitelten die Veranstalter das Thema des Potsdamer Forums. Die Diskussion wurde vor einigen Tagen im Potsdamer Alten Rathaus vor zahlreichem Publikum durchgeführt. Es waren hauptsächlich einheimische Deutsche gekommen, die etwas mehr über ihre neuen Nachbarn erfahren wollten. Diskussionsteilnehmer waren die SPD-Bundestagsabgeordnete Jelena Hoffmann, Prof. Barbara John, Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration, die Schriftstellerin Ulla Lachauer, Autorin von Ritas Leute, Rita Pauls, die Protagonistin dieses Buches und der bekannte Schweizer Historiker Dr. Gerd Stricker, Autor einer Monographie zur Geschichte der Deutschen aus Russland.
Die 2,5 Millionen Deutsche aus Russland, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland kamen, bleiben nach wie vor ein Rätsel für die Einheimischen. Wie sich im Verlauf der Diskussion herausstellte, kennen nur wenige Einheimische die Geschichte der Russlanddeutschen, ihr Kultur und ihre Mentalität.
„Mir scheint, schon der Begriff ‚Russlanddeutsche‘ ist nicht ganz zutreffend.“ Mit diesen Worten eröffnete der Moderator Hennig von Löwis vom Deutschlandfunk die Diskussion. „Denn die Menschen kommen ja aus Kasachstan, Kirgisien, Moldawien und nicht nur aus Russland.“
„Als Theophil Richter, der Vater des Pianisten Swjatoslaw Richter, aus Wolhynien nach Odessa kam, um dort an der lutherischen Kirche Kantor und Musiklehrer zu werden, war er für die Schwarzmeerdeutschen dort auch ein Fremder, denn er war ein Wolhynien-Deutscher“, sagt der Historiker Gerd Stricker. „Die Unterschiede zwischen den Wolgadeutschen, den Schwarzmeerdeutschen, den Kaukasusdeutschen, den Sibiriendeutschen waren sehr groß. Katholiken wurden extra angesiedelt, Lutheraner wurden extra angesiedelt und Mennoniten sowieso. Es gab ja auch die städtischen Deutschen – in Petersburg lebten im Jahre 1890 ungefähr 60.000 Deutsche –, die auf die Deutschen in den Kolonistendörfern natürlich herabgeblickt haben.“
Man sieht, es ist gar nicht so leicht, die Gruppe der „Deutschen aus Russland“ auf Nenner zu bringen. Und sie sind eine „unsichtbare Minderheit“ – so bezeichnete Prof. Barbara John die Russlanddeutschen in Deutschland. Auf die Frage des Moderators, wie denn 2,5 Millionen Menschen im Lande unsichtbar bleiben können, erklärte Barbara John:
„Ich würde sagen, es ist eine unsichtbare Minderheit in Deutschland, die sich sehr stark von den Deutschen, den Nachkriegsdeutschen unterscheidet, im Blick auf die Geschichte und natürlich auch im Blick auf die hiesige Kultur. Wenn ich mich mit ihnen unterhalte, finden sie es zum Beispiel merkwürdig, dass hier viele Ausländer leben. Das hätten sie nun überhaupt nicht erwartet. Sie wollten nach Deutschland zu den Deutschen kommen und nicht zu den Türken.“
„Wer sind sie für die Deutschen“, fragt der Moderator Henning von Löwis, „sind das Landsleute, die nach Hause kommen? Oder sind das Fremde oder sogar Störenfriede? Wenn ich mir die Äußerungen von Politikern wie Herrn Lafontaine und Herrn Blüm oder auch von anderen Politikern ansehe … Herr Lafontaine hat zum Beispiel gesagt, ihm seien Afrikaner als Zuwanderer lieber als Russlanddeutsche, der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm erklärte, man könne nicht allen eine Rente zahlen. Solche Töne hört man von deutschen Politikern.“
Man muss positiv anerkennen, dass die Diskussion von allen Teilnehmern ausgesprochen wohlwollend und objektiv geführt wurde. Die Diskutanten waren sich darin einig, dass die Integration praktisch eines ganzen Volkes in so kurzer Zeit eine sehr schwierige Aufgabe ist. Die erfolgreiche Erfüllung dieser Aufgabe ist nicht nur Sache der Aussiedler selbst, sondern sie hängt auch von der Bereitschaft der ganzen Gesellschaft ab, die neuen Nachbarn als Landsleute anzunehmen.
Die einzige in der ehemaligen Sowjetunion geborene Bundestagsabgeordnete Jelena Hoffmann vermutet das Hauptproblem der Deutschen aus Russland auf einem anderen Gebiet:
„Ich denke, die größte Schwierigkeit für die Aussiedler besteht darin, dass sie hierher in ihre Heimat kommen und ihre Vorstellungen von dieser Heimat damit, wie Deutschland sie hier empfängt, wie die Deutschen sie hier empfangen, absolut nicht übereinstimmen. Sie sagen mir oft: ‚Ja, was soll denn das sein, dort waren wir die Faschisten und hier sind wir die Russen. Wir werden als Deutsche nicht wirklich anerkannt.‘ Und das ist wirklich ein großes Problem.“
Zwei Stunden dauerte die Diskussion im Potsdamer Forum. Das Publikum nahm aktiv daran teil. Man hörte Vorschläge, die Geschichte der Russlanddeutschen in Schulbücher aufzunehmen, die Hochschuldiplome der Russlanddeutschen sollten endlich anerkannt werden, jede Aussiedlerfamilie sollte von Einheimischen betreut werden u.a. Henning von Löwis fasste zum Schluss zusammen:
„Im Auftrag der Bundesregierung wurde vor kurzem eine Untersuchung über die Integration der Aussiedler in Deutschland durchgeführt. 3000 Fragebögen wurden unter Aussiedlern verteilt: 5,4 Prozent beurteilen ihren persönlichen Integrationsgrad mit ‚sehr gut’ und immerhin 49,2 Prozent mit ‚gut‘. 0,6 Prozent antworteten mit ‚schlecht‘. Das sind schon bemerkenswerte Zahlen, finde ich.“
Übersetzung: Dr. Klaus Harer
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