Lausitzer Rundschau • 19.05.2007
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Lausitzer Rundschau.
Die gemeinsame Geschichte lässt Polen und Deutsche nur schwierig zueinanderfinden
Polen entdeckt seine Geschichte neu. Ein Historienkanal im Staats-Fernsehen soll dem Volk seine Vergangenheit erklären. Das Kulturministerium bereitet ein Gesetz über Orte des nationalen Gedenkens vor. Danach sollen Symbole, die für nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismus stehen, entfernt werden. Was diese auf Geschichte fokussierte Politik bedeutet, erleben bereits die Deutschen im schlesischen Gora Swietej Anny (Sankt Annaberg).
Die meisten Häuser ducken sich am Berg, dessen Gipfel die barocke Basilika dominiert, Wallfahrtsort für Deutsche und Polen. Jahrhunderte lebten sie zusammen. Als nach dem Ersten Weltkrieg aber der polnische Staat wiedergegründet wurde, blieb der Grenzverlauf umstritten. In drei Aufständen versuchten polnische Nationalisten Oberschlesien dem jungen Staat einzugliedern, obwohl in einer Volksabstimmung zwei Drittel der Menschen für den Verbleib bei Deutschland gestimmt hatten. Der dritte dieser Aufstände kulminierte 1921 auf dem Annaberg, auf dem sich polnische Freiwillige verschanzten. Deutsche Freischärler »befreiten« das Gebiet und richteten unter den Polen ein Blutbad an. Ein »Reichsehrenmal« erinnerte an die gefallenen Deutschen. 1945 endete dieses deutsche Gedenken. Angeblich wurde der Bau mitsamt Särgen und Leichen in die Luft gesprengt. »Alte Leute berichten aber, dass das Denkmal abgetragen und die Steine zum Wiederaufbau nach Warschau geschafft wurden«, erzählt Ewa Czecor mit Blick auf das heutige Ehrenmal. »Was allerdings mit den Särgen geschehen ist…« Der deutschen Gemeinderätin aus Leśnica (Leschnitz) brennen derzeit aber ganz andere Probleme auf den Nägeln. So seien zweisprachige Ortsschilder wieder erlaubt, aber nicht, wenn die deutschen Namen aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen. Sankt Annaberg heißt der polnische Ortsname auf Deutsch. »Den Zusatz Sankt soll das Dorf aber erst während des Dritten Reiches erhalten haben«, erklärt die 28-Jährige. Allerdings sei der Ort in so ziemlich allen offiziellen polnischen Dokumenten heilig – auf Polnisch und Deutsch. »Was also tun?«, fragt Czecor.
Leichter »lösen« ließ sich da das Verbot des Eisernen Kreuzes. Dieses, von Polen als Symbol des deutschen Militarismus verstanden, soll auch auf alten Soldatendenkmälern entfernt oder übermalt werden. In Góra Świetej Anny empfahl ein Woiwodschaftsvertreter, doch einfach ein paar Blumen vor das Eiserne Kreuz auf dem Denkmal zu stellen, schmunzelt die junge Frau.
Kreuze anderer Art prägen Łambinowice (Lamsdorf). Das dortige Kriegsgefangenen-Museum dokumentiert die Geschichte des Lagers Lamsdorf. Jede Zeit hat ihren eigenen Friedhof. Der älteste erinnert an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Grabsteine mit Namen sowie Geburts- und Todesdaten stehen unter alten Bäumen. Der größte Friedhof ist der der sowjetischen Häftlinge aus dem Zweiten Weltkrieg: ein Massengrab. Nach 1945 wurde ein Mahnmal errichtet, Vogeldreck ziert die stilisierten Leidensfiguren. »Das Mahnmal wie auch das Holzkreuz am Eingang zum Friedhof sind für alle Toten«, erläutert Museumsmitarbeiterin Renata Kobylarz die gewünschte Symbolik.
Der jüngste Friedhof ist der für die Deutschen. Das Lager sollte Durchgangslager sein für die Schlesier, die Richtung Westen umgesiedelt wurden. Etwa 5.000 waren interniert, für nicht wenige wurde das Durchgangs- zum Arbeitslager. Circa 1.500 starben. In der Erinnerung derer, die den Westen erreichten, wurde der Name Lamsdorf zum Synonym ihres Leidens. Seit den 1990er-Jahren erinnert vor Ort ein Gräberfeld und ein Denkmal in Form eines schlesischen Sühnekreuzes an die Toten. Was die Erinnerung der Deutschen aber dominiert, sind in der Lagergeschichte nur zwei Jahre. Ab 1870 sahen Menschen aus vieler Herren Länder das Lager. Allein etwa 300.000 Soldaten der Anti-Hitler-Koalition waren interniert – zwei Drittel davon Russen, die anfangs und selbst im Winter in Erdlöchern vegetierten. Vor allem Russen sind es auch, die im Massengrab liegen, etwa 40.000. 1944 kamen nach Lamsdorf etwa 6.000 Soldaten der Polnischen Heimatarmee, die im Warschauer Aufstand gekämpft hatten. Angesichts dessen erhält Lamsdorf ein ganz anderes Gesicht. Museumsdirektor Edmund Nowak, der seit 1990 das Leiden der Deutschen erforscht, will allen gerecht werden: »Es gibt zwei Gedenkstätten, zwei Symboliken und zwei Wahrheiten.«
Vernarbt sind dagegen bereits die Wunden des Krieges, in dessen Folge in Świdnica (Schweidnitz) die größte Fachwerkkirche Europas gebaut wurde. Religiöser Streit auch nach dem 30-jährigen Krieg führte dazu, dass in Schlesien protestantische Kirchen in katholische umgewidmet wurden. Die Protestanten mussten neue bauen, aber nur drei. Eine dieser Kirchen ist die in Schweidnitz. Pfarrer Waldemar Pytels Gemeinde zählt heute lediglich 120 Schäfchen. Dabei hat die Kirche Platz für 7.500. Davon kann Pytel nur träumen. Immerhin predigt er zweimal im Monat in deutscher Sprache. »Wir müssen eine offene Kirche sein«, versucht er, Deutsche und Polen im Glauben zusammenzuführen.
Polnische und deutsche Laute sind auf Gut Morawa (Muhrau) zu hören. Einst gehörte es der Familie von Wietersheim-Kramsta, die im Januar 1945 aus Schlesien floh. Melitta Sallai hatte hier noch ihre ersten Kindheitsjahre verbracht. 1992 kehrte sie als Rentnerin zurück, auch auf Drängen der Familie. Nicht Besitz sei wichtig, sondern Verantwortung. Das Gut gehört heute weder Sallai noch jemand anderem aus der Familie. Eigentümer ist eine Stiftung, die im Schloss einen Kindergarten betreibt, kostenlos. »Die staatlichen Kindergärten hatten zugemacht, die privaten konnte sich keiner leisten«, umschreibt Sallai ihre Idee, sich den Nachbarn zu nähern. Welch' seltsamen Wege dies manchmal nahm, dafür stehen zehn Kindertoiletten. Waren die Dorfbewohner anfangs skeptisch, wandelte sich dies mit der Ankunft der knallroten Holzboxen erst in Neugier und später in die Überzeugung, dass es den einstigen Herren nicht um das Gut, sondern wirklich um die Kinder geht. Eine von vielen Versöhnungsgesten: Zum Nato-Beitritt Polens 1999 wollten Bundeswehr-Soldaten das Schloss besuchen. »Das letzte Mal, dass die Leute hier deutsche Uniformen gesehen hatten, war 1945«, umreißt Sallai ihre Befürchtungen. Also lud sie kurzerhand auch Soldaten aus einer nahen polnischen Kaserne ein. Das halbe Dorf habe aus den Fenstern geschaut.
Die persönlichste Geste war aber wohl die Beerdigung ihrer Mutter. Gestorben war sie in Deutschland, wollte aber in schlesischer Erde begraben werden, was bis 1990 nicht machbar war. Als dann per Post in Morawa die Gebeine der Mutter eintrafen, hieß es im Dorf, früher hätten die Deutschen ihre Toten mitgenommen. »Wenn jetzt aber selbst die Toten zurückkommen, muss sich wirklich etwas geändert haben.«
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