Mit seinem Lesebuch » ZweiGeist – Karl Emil Franzos.« unternimmt der Herausgeber Oskar Ansull einen neuen Versuch, den vielseitigen Autor in Erinnerung zu rufen | Das Buch erschien 2005 im Verlag des Deutschen Kulturforums östliches Europa
Walter Hettche
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Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft № 55 • 2006

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Theodor-Storm-Gesellschaft.

Für die Storm-Leser ist der Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848–1904) kein Unbekannter: Im ersten Band der Zeitschrift Deutsche Dichtung«, die Franzos von 1886 bis 1904 herausgegeben hat, ist Storms Erzählung Ein Doppelgänger erschienen, 1887 auch die beiden Elegien mit dem Titel Constanze. Den schmalen Briefwechsel zwischen Franzos und Storm hat Peter Goldammer 1969 in den Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft publiziert. Einem breiteren Lesepublikum jedoch ist Franzos allenfalls noch als Herausgeber der ersten Büchner-Gesamtausgabe und Entdecker des Woyzeck-Fragments ein Begriff; sein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk ist hingegen trotz einiger neuerer Einzelveröffentlichungen kaum mehr im literarischen Bewusstsein.

Der als Lyriker und Vorleser hervorgetretene Oskar Ansull unternimmt mit seinem Lesebuch einen neuen Versuch, den vielseitigen Autor Franzos in Erinnerung zu rufen. Der glücklich gewählte Titel des Buches – er geht auf eine Formulierung von Walter Benjamin zurück – markiert den Blickwinkel, unter dem Ansull Leben und Werk Karl Emil Franzos' betrachtet. Ein »Zweigeist« ist Franzos aufgrund seiner Herkunft aus der Bukowina, einem Kulturraum, den Ansull treffend als »nicht mehr ganz Asien und schon halb Europa« charakterisiert (S. 11), vor allem aber wegen seiner Stellung zwischen jüdischer Tradition und, wie man wohl sagen muss, deutschnationaler Gesinnung: »Mein Ziel war es stets, ein treuer Deutscher und ein treuer Jude zugleich zu sein« (S. 5). Den Lebensweg dieses Mannes zeichnet Ansull in einer 50seitigen »biographischen Montage« nach, einer Mischung aus Lebenschronik und eingestreuten Zitaten von Karl Emil Franzos. Schon hier findet man bestätigt, was Ansull zur Anlage seines Lesebuches sagt: »Das Buch lässt sich kreuz und quer lesen, die Texte kommentieren sich selbst, Entdeckungen und Bezüge stellen sich her« (S. 13). Mit großem Geschick hat Ansull einen Band komponiert, der neben kleinen Appetithäppchen im Kapitel »Stichworte. Ein Kreuz- & Quergang durchs Franzos'sche Textgelände« auch vollständig abgedruckte Feuilletons und Erzählungen enthält, im Kapitel »Ostgalizische Zustandsbilder« zum Beispiel die Novelle Der Bart des Abraham Weinkäfer, hier zum ersten Mal seit der Erstpublikation von 1888 mit der Einleitung, in der Franzos eindringlich die Rechtlosigkeit der russischen Juden schildert. Franzos' wohl bedeutendster Roman, Der Pojaz, dessen vollständiger Abdruck in einem Auswahl-Lesebuch natürlich nicht in Frage kam, ist immerhin in dem Kapitel »Der Pojaz. Materialien zum Roman« präsent. Abgerundet wird der Band durch zwei Essays über Franzos von Fritz Mauthner und Victor Klemperer, eine mit »Stimmen« überschriebene Sammlung von »Äußerungen über Person, Werk und Wirkung«, in der neben anderen Theodor Fontäne, Alfred Kerr, Stefan Zweig, Paul Celan und Claudio Magris zu Wort kommen, einen gründlichen bibliographischen Anhang und nicht zuletzt durch eine CD, auf der man ein Franzos-Programm des Herausgebers hören kann. Das Buch ist liebevoll ausgestattet mit zahlreichen Illustrationen, Fotos und Faksimiles – und das alles zum Preis von 14,80 Euro.

In seiner Einleitung wünscht sich Oskar Ansull, sein Lesebuch möge »ein unwissenschaftlicher Anstoß sein zu einer kritischen Werkausgabe ausgewählter Texte von Karl Emil Franzos, wie sie seit seinem Tod 1904 schon mehrfach angedacht wurde« (S. 12). Vorausgesetzt, man würde in einer solchen Ausgabe auf die hier geübte »behutsame« Modernisierung von Orthographie und Interpunktion verzichten, kann man sich diesem Wunsch nur mit allem Nachdruck anschließen.