Osteuropa-Forum diskutierte im Alten Rathaus Fragen zur deutsch-tschechischen Geschichte

Potsdamer Neueste Nachrichten, 09.10.2002, Isabella Bauer

Vom tschechischen Staatsgründer Tomáš G. Masaryk stammt die lakonische Bemerkung. dass Völker sich ja „nicht lieben müssen“, um friedlich nebeneinander zu existieren. Was aber. wenn zwei Völker eine 1200-jährige, vielfach verflochtene Geschichte durch einen einzigen Krieg abrupt beendet sehen und danach in mehr oder weniger starker Entfremdung verharren? Diese und andere drängende Fragen an die deutsch-tschechische Historie stellte sich das Deutsche Kulturforum östliches Europa jüngst zur Podiumsdiskussion „Böhmische Dörfer?“.

Auf dem Podium eine bunte Mischung aus Historikern. Diplomaten und Journalisten. die gemeinsam mit zahlreich erschienenem Publikum über die Chancen einer neuen kulturellen Annäherung zwischen Deutschen und Tschechen nachdachten. Petr Brod, Prag-Korrespondent der BBC, der die Veranstaltung moderierte, lobte zwar, dass das Stichwort Benes-Dekrete erst nach gut einer Stunde fiel und auch dem tschechischen EU-Beitritt im Jahre 2004 kaum noch etwas im Wege stünde - gleichzeitig vermerkte er aber einen gravierenden „Mangel an Symbolen“ im neuen Verhältnis zwischen den Nachbarstaaten.

Karl Fürst zu Schwarzenberg, Wiener Unternehmer und Vorjahren persönlicher Berater von Václav Havel, empfindet die gegenseitigen Beziehungen momentan als „etwas abgekühlt“. Auch der prominente Münchener Historiker Ferdinand Seibt räumte eine „nicht ganz gelungene Verständigung“ nach dem Fall des Eisernen Vorhanges ein und fügte nachdenklich hinzu: „Václav Havel hat als Nachbar bei uns angeklopft, und wir haben das nicht verstanden.“ Dem Leiter des Collegium Carolinum in der bayerischen Landeshauptstadt - selbst als junger Deutscher nach Kriegsende aus Nordböhmen vertrieben - war sichtlich anzumerken, dass er sich mehr Nähe zwischen beiden Bevölkerungen wünscht.

Christoph Stölzl, an diesem Abend nicht als CDU-Politiker, sondern als fachkundiger Historiker gekommen, offerierte einen etwas optimistischeren Blickwinkel Nachdrücklich verwies er auf jene „zweisprachige Geniegeneration im 19. Jahrhundert“ um die Schriftsteller Franz Kafka und Max Brod und empfahl, „diese verschüttete Welt noch einmal nachzulesen". Schließlich hätte das Beispiel jener Literaten schon damals verdeutlicht, dass es „den integralen Menschen" nicht gäbe und kulturelle Vielfalt den Menschen auch im gegenwärtig zusammenwachsenden Europa präge. Von wachsendem gegenseitigem Interesse - ungeachtet noch fortbestehender Gräben aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Nachkriegsperiode heraus - konnte Tomáš Kafka als Geschäftsführer des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds berichten: Die von ihm geführte Stiftung hat in den letzten Jahren insgesamt 18 000 Gemeinschaftsprojekte mit finanzieren können.

So gesehen, haben die „böhmischen Dörfer" nichts an Attraktivität verloren. In der anschließenden Diskussion mit den Besuchern meldeten sich gleich mehrere Personen zu Wort. denen die Erlebnisse von Flucht und Vertreibung nach wie vor sehr präsent sind. die sich andererseits aber nach wie vor mehr als "Tschechen" denn als „Deutsche" fühlen. Karl Fürst zu Schwarzenberg brachte es dann auf den Punkt: „Ich wünschte mir. dass wir auch in Zukunft mehr voneinander erfahren. Mehr Gespräche und Möglichkeiten des Austauschs, mehr Programme von Instituten und Seminare wären notwendig."

Isabella Bauer