Potsdamer Neueste Nachrichten, 06.11.2002, Olaf Glöckner
Als „kilometerlang“ bezeichnen Insider jenen Dokumentenfundus, den der vor 10 Jahren verstorbene Alt-Kanzler Willy Brandt der Nachwelt hinterlassen hat. Zwischen Unmengen von Notizzetteln, Redemanuskripten, Zeitungsaufsätzen und Korrespondenzen sollen sich dort interessanterweise auch vier autobiographische Skizzen finden – ganz so, als wollte Brandt für posthum entstehende Bücher zu seiner Person schon enmal kräftig Vorarbeit leisten. Doch wer sich dem legendären Sozialdemokraten mit tiefgründiger Recherche zu nähern versucht, muss sich auch heute noch auf eine komplexe, schwierige Materialauswahl einlassen - und der allgegenwärtigen Kritik der historischen Zunft trotzen.
900 Seiten füllt die jüngste Brandt-Biographie, die ihr Verfasser Peter Merseburger bei einer Gemeinschaftsveranstaltung vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) und vom Deutschen Kulturforum östliches Europa am Neuen Markt vorstellte. Im Gegensatz zu dem eher essayistisch angelegten Porträt, das Gregor Schöllgen im Vorjahr auf den Buchmarkt brachte, gilt Merseburgers Mammut-Werk als akribische Quellenarbeit, welche die wesentlichen Entwicklungs- und Handlungslinien des großen Politikers anschaulich zusammenbringt.
Hanna Nogossek vom Osteuropa-Forum und Christoph Kleßmann vom ZZF, die den Abend am Neuen Markt moderierten, hoben insbesondere Brandts erfolgreiche Bemühungen um ein entspannteres Verhältnis der alten Bundesrepublik zu den Warschauer Paktstaaten, einschließlich der von Ulbricht und Honecker autoritär regierten DDR, hervor – Bemühungen, ohne die eine außenpolitische Stabilisierung in Mitteleuropa, aber auch eine Sensibilisierung der westlichen Welt für die problematische Situation der Menschen hinter dem Eisernen Vorhang kaum vorstellbar gewesen wären. Peter Merseburger - vielen noch im Gedächtnis als kritischer „Panorama“-Redakteur und sachkundiger ARD-Berichterstatter aus Moskau und Ostberlin – war mit der vorliegenden Biographie aber offensichtlich nicht der Versuchung unterlegen, eine verklärende Ikone in die bundesdeutsche Parteiengeschichte zaubern zu wollen. Zwar zählt er Brandt zu jenen Größen, die in äußerst schwierigen historischen Situationen – wie etwa als Exilant der frühen 40er Jahre in Norwegen oder als Westberliner Bürgermeister zur Zeit des Mauerbaus – nicht den Kopf verloren und verantwortungsvoll wie auch visionär weiterdachten. Gleichzeitig spart er die Irrtümer und Ambivalenzen eines unruhigen Politiker-Lebens nicht aus, welche durchaus noch offene Fragen für die Nachwelt hinterlassen haben.
Individuelle Widersprüche und singuläre Fehlentscheidungen des Altkanzlers waren dann auch Hauptgegenstand der sich an die Buchpräsentation anschließenden Diskussion im ZZF. Ob Leben und Werk von Willy Brandt in der Geschichtsschreibung der letzten Jahre nicht doch enorm überhöht worden wären, warf etwa der Potsdamer Historiker Hans Hermann Hertle ein. Auch das umstrittene Altkanzler-Zitat von der „Wiedervereinigung als Lebenslüge“ machte mehrfach die Runde. Opferte dieser in seinen späten Lebensjahren einem vermeintlichen Realismus die sonst so an ihm bewunderte Fähigkeit zur grenzüberschreitenden Vision?
Dennoch: Willy Brandts bewegtes politisches Leben steht – gerade auch durch seine entschiedenen Absagen an Nationalsozialismus und Stalinismus und die beeindruckend nachgewiesene Fähigkeit, große Teile der deutschen Bevölkerung in ein neues Politikverständnis zu integrieren - als eine Ausnahmeerscheinung in der jüngeren Geschichte unseres Landes da. Umso bemerkenswerter und aufschlussreicher, wenn Merseburgers Biographie auch die Irrtümer, Ambivalenzen und Zerrissenheiten des großen Politikers dem interessierten Leser nahe zu bringen versteht.
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