Potsdamer Neueste Nachrichten, 08.01.2003, Jan Kixmüller
Frau Nogossek, das Kulturforum will den Blick auf die deutsche Geschichte im östlichen Europa öffnen. Wie weit sind Sie damit in den vergangenen Jahren vorangekommen?
Ein sehr aktuelles Thema, das auf große Resonanz gestoßen ist. Zum „Preußenjahr 2001“ hatten wir das Thema „Preußens vergessene Hälfte“ aufgeworfen: Preußen endet ja nicht an den Grenzen Brandenburgs, seine Geschichte erstreckt sich weit in das heutige Polen und nach Russland hinein.
Eine Geschichte, die vielen unbekannt ist.
In der Tat. In den Feierlichkeiten zum „Preußenjahr“ sind diese Themen gar nicht aufgetaucht, deswegen haben wir von der „vergessenen Hälfte“ gesprochen. Der literarische Teil unserer Veranstaltungsreihe mit Autoren aus Polen und Russland und aus dem ehemailigen Ostpreußen, sowie der historische Teil, der nach dem Preußenverständnis in Polen und Russland fragte, das waren Themen, die offensichtlich auf Interesse stießen.
Welche Probleme ergeben sich bei der Vermittlung dieser „vergessenen Seite“?
Ich bin eigentlich überrascht, dass es keine Probleme gibt. Zu wünschen bliebe nur, dass das Publikum stärker „gemischt“ wäre. Junges Publikum kommt eher, wenn prominente Redner angekündigt sind, oder wenn die Themenstellung über das Erinnern hinausgeht, dann sprechen wir weitere Kreise an – hier wollen wir dran’ bleiben.
Unter Schülern in Brandenburg gibt es kaum Wissen über das heutige Polen oder Tschechien, geschweige denn über die deutsche Geschichte dort. Sollte das am Vorabend der EU-Osterweiterung keine Sorge bereiten?
Tatsächlich ist das Wissen um diese Dinge nicht sehr groß, und zwar nicht nur bei Schülern, leider auch bei Lehrern. Das liegt sicherlich zu einem Teil an den Lehrplänen. Aber man muss sagen, dass das Interesse sehr groß ist. Wir haben Lesungen an Potsdamer Schulen mit polnischen und russischen Autoren durchgeführt – das Interesse und die Diskussionen waren sehr lebhaft, auch bei den Lehrern. Man muss diese Themen nur entsprechend präsentieren und aufbereiten: Das Interesse ist da.
Gibt es nicht in Polen selbst unter der jüngeren Generation eine größeres Interesse an der gemeinsamen Geschichte als bei uns?
Das Interesse unserer Nachbarn an uns und an den gemeinsamen Kapiteln unserer Geschichte ist dort sicherlich größer als bei uns. Nach der politischen Wende, als die Tabus gefallen waren, wurde das Interesse an der „wirklichen“ Geschichte der eigenen Region noch größer. Man will mehr wissen über die Stadt in der man lebt, will wissen, was sich hier früher zugetragen hat, was für Menschen hier gelebt haben. Bei uns muss man in dieser Hinsicht noch etwas nachholen.
Das Thema war bei uns jahrzehntelang tabu, weil es von den Vertriebenenverbänden besetzt war.
Die Thematik war tatsächlich in diese Ecke abgerutscht, war seit dem Ende der 60er Jahre in Schule und Gesellschaft außen vor. In Westdeutschland war man nach dem Krieg stärker an der Westintegration interessiert, hinter dem eisernen Vorhang war der Sozialismus. Die Vorbehalte, dass man den Deutschen Land genommen, dass man sie vertrieben hat, kamen hinzu. Nach meiner Übersiedlung nach Deutschland besuchte ich ein Gymnasium in Bayern; über meine Heimat Schlesien habe ich dort nicht viel erfahren. Selbst im konservativen Bayern war dies am Gymnasium kein Thema. Daraus erwuchsen Wissensdefizite und Vorbehalte. Erst aus der politischen Wende in Mitteleuropa ist ein anderes Herangehen an unsere eigene Geschichte erwachsen.
Was hat sich geändert?
Heute können wir uns der deutschen Geschichte im östlichen Europa unter positiven Vorzeichen zuwenden – in einer kritischen, aber positiven Weise, so dass man beides sieht: die dunklen wie auch die hellen Kapitel, und dass man beides vorbehaltlos betrachten kann. Auf diese Weise können wir Themen entdecken, die uns mit unseren Nachbarn verbinden. Ein ganz konkretes Beispiel aus unserer Arbeit im letzten Jahr: Eine „Bilderreise“ nach Polen. Das Kulturforum hat zehn Exemplare eines teuren Faksimilebandes mit Stadtansichten aus dem 16. Jahrhundert angekauft. Pfalzgraf Ottheinrich aus Neuburg an der Donau hatte eine Reise zu seinem Verwandten, dem polnischen König unternommen. Auf der Reise nach Krakau begleitete ihn sein Zeichner, der alle Städte, durch die der Pfalzgraf mit seinem Gefolge gekommen war, dokumentiert hat. Wir sind zwei Wochen lang auf den Spuren Ottheinrichs durch Schlesien gereist und überbrachten die Bände mit den Stadtansichten den dortigen Museen. Sie ahnen gar nicht, welch ein Interesse diesen Ansichten entgegenschlug. Die Menschen wollten wissen, wie ihre Stadt im 16. Jahrhundert aussah; es gab feierliche Übergaben der Bücher, das Echo in den Medien war enorm. Ein fantastisches Erlebnis.
Wie grenzt sich das Kulturforum von den Vertriebenenverbänden ab?
Wir grenzen uns nicht im Vorfeld gegen sie ab. Wenn sie gute und vernünftige Ideen entwickeln und mit uns in einen Dialog treten wollen, verschließen wir uns nicht. Selbstverständlich sehen wir uns unsere Kooperationspartner sehr genau an. Doch in den Landsmannschaften gibt es mittlerweile viele, die sich gewandelt haben. Sogar Herr Hupka – das „Urgestein“ unter den Vertriebenenpolitikern – hat nun seine Biografie in Warschau vorgestellt. Auch diese Menschen gehören zur Geschichte. Man muss mit ihnen nicht in allem übereinstimmen, aber sie sind Zeitzeugen, auch Zeugen einer bestimmten Geschichtsauffassung, die sich 50 Jahre gehalten hat und die nun allmählich ad acta gelegt wird. Die rechtsradikalen Auswüchse haben mit den alten Landsmannschaften oft nichts zu tun, zumeist sind das Abspaltungen.
Kamen schon Rechtsextreme zu Vortägen?
Wir sind ihnen nur einmal begegnet, bei der Abschlussdiskussion der Preußenreihe. Es waren zwei oder drei sonderbare junge Burschen aus Sachsen und ein Herr, der eine Diskussion über Besitztümer im Osten und darüber, dass Preußen nicht untergegangen sei, anfing. Sie haben sehr schnell gemerkt, dass bei uns kein Land zu gewinnen ist, zogen geräuschlos ab und sind nie wieder erschienen.
Arnulf Barings Rede zur Eröffnung Ihrer Preußenreihe, in der er den Verlust der „Paradiese“ im Osten beklagte, stieß nicht nur auf Gegenliebe.
Ich war damit auch nicht ganz glücklich. Vor allem hat mich die etwas überzogene Sentimentalität gestört.
Sie wollen ein anderes Bewusstsein für die gemeinsame Geschichte schaffen. Richtet sich das vor allem an die jungen Generation?
Nicht nur an die Jugend, an alle. Bei der Jugend fängt man natürlich am besten an. Da ist die Aufgeschlossenheit sehr groß. Wir bemühen uns, an die Schulen mit Veranstaltungen heranzutreten. Wir haben im vergangenen Sommer eine Fortbildungs-Exkursion für Lehrer aus Brandenburg und Berlin gemacht. Es ging um die Geschichte der Neumark, die Exkursion ging also nach Polen. Dort wurde nicht nur besichtigt, sondern es wurden auch Gespräche geführt. Das kam sehr gut an. Ich war verwundert, dass viele Teilnehmer der Exkursion, die nur einen Katzensprung von der Grenze entfernt leben, bisher noch nie in Polen waren. Die Geschichte dieses Teiles von Brandenburg ist hier weitgehend unbekannt, obwohl sie doch zur Landesgeschichte gehört und eine Verbindung nach Polen darstellen könnte. Das Interesse endet anscheinend an der Oder. Unser Seminar hat den Teilnehmern den Blick geöffnet: die Lehrer waren begeistert. In diesem Jahr findet wieder ein Seminar mit Exkursion statt – diesmal wird es nach Posen gehen.
Man trifft heute gerade in Ostdeutschland oft auf ein negatives Bild von Polen.
Das betrifft vor allem Grenzregionen, auch im Westen. Ein Kollege aus Bayern sagte mir, er könne in der Zeitung nichts Interessantes über Tschechien bringen, weil das Land immer gleich mit Kriminalität Prostitution gleichgesetzt werde.
Was bedeutet die EU-Osterweiterung für die Arbeit des Kulturforums?
Ein wichtiges Thema für uns: Wir kommen wieder näher zusammen. In vielfacher Weise waren wir es ja schon in der Vergangenheit – etwa in der Zeit Ottheinrichs. Bei der Vergegenwärtigung dieser Tatsache spielt gerade die Geschichte eine wichtige Rolle. Sie macht den Menschen bewusst, dass wir nicht immer so weit voneinander entfernt waren wie in den Jahrzehnten nach dem letzten Krieg. Es gab Zeiten, da lebten Deutsche und Polen im gleichen Staat. Man lebte eben zusammen, so gut es ging – etwa in der Provinz Westpreußen. Die Polen dort wurden nicht vertrieben sondern bekamen eine deutsche Obrigkeit und so musste man miteinander zurechtkommen. Die deutschen Beamten mussten sich mit der polnischen Bevölkerung arrangieren und umgekehrt – es war nicht nur ein ständiger Kampf. Dann kamen aber andere Zeiten, die uns so weit auseinander gebracht haben, dass viele heute meinen, Deutsche und Polen hätten immer nur gegeneinander gekämpft.
Man hat bisweilen den Eindruck, in Deutschland werden die Chancen der Osterweiterung derzeit verschlafen.
In der Tat. Wir leben hier am nächsten an den Beitrittsländern, Berlin soll die Drehscheibe Mitteleuropas werden, über die die Verbindungen nach Warschau, Prag, in die nordöstlichen Regionen und bis nach Russland laufen sollen. Davon merkt man noch viel zu wenig. Es ist auch kaum ein Thema in den Medien. Es gibt vielmehr negative Erwartungen. Die Befürchtungen werden größer, je mehr man sich vom Rhein ostwärts bewegt. Das ist bedenklich. Gerade hier im Osten müsste man doch die Avantgarde sein, hier sollte man seine Nachbarn schon kennen! Am Rhein hat man anscheinend positivere Vorstellungen von Polen als an der Oder.
Wie sieht das in den Beitrittsländern aus?
Auch in Polen war vor der Wende die 1000-jährige Beziehung zu Deutschland kein Thema. In der kommunistischen Zeit wurde ein Feindbild von Deutschland aufgebaut. Ich kann mich noch lebhaft an meine Schulzeit in Polen erinnern. Aber man hat dort diese Vorurteile anscheinend schneller überwunden als bei uns. Unter den Deutschen trifft man häufig auf Desinteresse und Ignoranz, wenn es um Polen geht. Das ist besonders traurig. In Polen gibt es ein größeres Interesse an der Geschichte überhaupt und auch am deutschen Nachbarn. Man ist neugierig, man reist nach Deutschland, lebt und arbeitet hier und sucht Kontakt. Diese Menschen haben zumeist ein positives Bild von Deutschland und das vermitteln sie in ihrer Heimat. Denn auch dort gibt es Vorbehalte, vor allem aber unter denen, die noch nie bei uns waren.
Wo setzt hier das Kulturforum an?
Vielleicht können wir über die Schiene der gemeinsamen Geschichte auch in Deutschland das Interesse am Nachbarn wecken: Wenn man sich schon nicht für Polen interessiert, so findet man vielleicht doch Interesse an den Spuren deutscher Geschichte in Polen und kommt auf diese Weise in Kontakt zu Polen, die sich jetzt um diese Spuren kümmern. Vielleicht findet man auf der Grundlage der gemeinsamen Geschichte eine gemeinsame Sprache – über die Geschichte und über die Gegenwart…?
Ihre eigene Biografie siedelt in diesem Spannungsfeld.
Ich bin 1968 aus Schlesien nach Westdeutschland gekommen. Ich habe irgendwie zwei Seelen in meiner Brust und auch einen gehörigen Schuss slawischen Blutes. Das ist sicherlich zusätzlich eine Motivation für meine Arbeit. Wenn man beide Seiten kennt, hat man geradezu eine Verpflichtung, zu vermitteln. Ich kenne die deutsche Geschichte, die Befindlichkeiten, die Seele, und ebenso die polnische, tschechische und russische Seite. Ich habe den Vorteil, dass man mich auf beiden Seiten nicht als Fremde sieht, mir wird Vertrauen entgegen gebracht, ich habe keine Verständnisschwierigkeiten – also kann und muss ich vermitteln.
Wohin will sich das Kulturforum in Zukunft richten?
In Richtung unserer Nachbarn. Da sie uns näher kommen, müssen wir uns auch stärker auf sie zu bewegen. 2004 wird ganz unter dem Zeichen der Beitrittsländer stehen. Bis 2004 wollen wir sukzessive alle Länder unseres Arbeitsgebietes vorstellen: Das geht vom Baltikum über Böhmen bis nach Rumänien im Südosten und im Osten bis nach Russland. In diesem Jahr wollen wir uns insbesondere der Geschichte der Deutschen in und aus Russland und Rumänien zuwenden. Es wird eine Ausstellung und eine Veranstaltungsreihe über die deutsche Literatur aus Rumänien geben. Darin werden wir eine Kulturlandschaft vorstellen, in der Deutsche in einem rumänisch-ungarisch besiedelten Gebiet lebten. Die Spuren der deutschen Geschichte verwaisen dort, weil die meisten Deutschen weggezogen sind. Wir wollen hier in Deutschland das Bewusstsein schaffen, dass wir – auch mit finanziellen Mitteln – dazu beitragen müssen, dass die Rumänen diese Spuren erhalten können. Dort gibt es nicht das Geld dazu, aber eine große Bereitschaft, dieses Kulturerbe zu bewahren.
Sie sprechen von Siebenbürgen?
Ja, aber es geht nicht nur um die Geschichte der Siebenbürger, sondern auch um die Zeit der deutschen Könige in Rumänien, eine Zeit, die dort gerade wieder „ausgegraben“ und positiv bewertet wird. Wenn alle diese Spuren erhalten bleiben, können sie uns als Brücke dienen. Durch die beiden Weltkriege ist leider in Vergessenheit geraten, dass in den südöstlichen Regionen Europas unter der Habsburger Krone viele verschiedene Kulturen zusammen lebten. Das könnte in einem „größeren Europa“ eine gute Grundlage sein. Wir müssen hart daran arbeiten, dahin zurückzukehren, wo wir schon einmal gewesen sind – und es diesmal besser machen.
War der Standort Potsdam für das Kulturforum die richtige Wahl?
Ja. Man hat uns von Seiten der Landesregierung viel Aufmerksamkeit entgegengebracht. Wir werden zwar nicht finanziell unterstützt, aber ideell; das Land wie auch die Universität hat einen Sitz im Kuratorium des Kulturforums, der Kontakt zum Kultur- und Wissenschaftsministerium und zur Uni ist hervorragend, der Standort am Neuen Markt ist ideal. Wir arbeiten mit dem Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte zusammen, das Moses Mendelssohn Zentrum ist Gründungsmitglied unseres Vereines. Das einzige Problem in Potsdam sind die Räume: Das Alte Rathaus ist die einzige Möglichkeit für größere Veranstaltungen, alle Veranstalter wollen dort hinein. Es fehlt auch ein Ausstellungsgebäude. Unsere Ausstellungen in den Bahnhofspassagen werden zwar gut angenommen, kosten allerdings viel, weil es dort keine Infrastruktur gibt und diese angemietet werden muss. So lange die Räumlichkeiten im Kutschstall nicht fertig sind, können dort bestenfalls Vorträge veranstaltet werden. Dann aber wird sich die Frage nach der Miete für die Raumnutzung stellen. Ein anderes Problem sind die relativ hohen Hotelpreise in Potsdam; bei größeren Tagungen ist das ein ernsthaftes Problem für die Teilnehmer.
Werden Sie auch außerhalb Potsdams aktiv?
Ja, denn das ist unsere Aufgabe. Unsere Aktivitäten sollen und werden sich in vielen Städten in Deutschland und im Ausland abspielen. Wir haben zwar unseren Sitz in Potsdam, wir sind aber keine Potsdamer Institution. Es ist für uns etwa auch wichtig, das Berliner Publikum zu gewinnen, ein anderes Publikum mit anderen Interessen als das hiesige. Sicherlich wird es schwieriger sein, dort eine Veranstaltung zu platzieren und ein gutes Publikum zu bekommen, doch dieser Herausforderung wollen wir uns stellen.
Das Gespräch führte Jan Kixmüller.
- Potsdamer Neueste Nachrichten: „Diesmal müssen wir es besser machen“
Originalinterview in der Internet-Ausgabe der Potsdamer Neuesten Nachrichten