Die Wiederentdeckung des Autors Karl Emil Franzos
Michael Zeller

Nürnberger Nachrichten • 23.02.2005

Zwanzig Jahre lang, zwischen 1870 und 1890, war Karl Emil Franzos ein viel gelesener Autor im deutschen Sprachgebiet. Seine Romane, Erzählungen und Reiseberichte erreichten hohe und wiederholte Auflagen, wurden europaweit übersetzt, von England bis Russland. Franzos erzählte und berichtete vom Leben seiner Leute, der bettelarmen Kaftanjuden in Galizien, am Ostrand des Habsburgischen Imperiums. Als einer der ersten seinerzeit gab er ihnen eine Stimme in deutscher Sprache. So sehr wurde Franzos eins mit seinem Thema, dass sein preußischer Kollege Theodor Fontane Galizien und die Bukowina augenzwinkernd als »Karl-Emil-Franzos-Gegend bezeichnen konnte, und jedermann wusste Bescheid.

Franzos verband mit seinem Schreiben immer eine politische Absicht, als Erzähler wie als Publizist. Er sah es als seine Aufgabe an, zwischen der von ihm hoch geschätzten deutschen Lebensart und seinem jüdischen Herkommen zu vermitteln. »Mein Ziel war es stets, ein treuer Deutscher und ein treuer Jude zugleich zu sein.« Lessing und Moses Mendelssohn sozusagen in einer Haut.


Kraft des Wortes

Sein Glaube an die aufklärerische Kraft des Wortes hatte dabei etwas geradezu Rührendes aus heutiger Sicht. Aber immerhin befähigt er ihn zu Leistungen, die weit über seine eigene Zeit hinauswirken. Franzos war es, der das fragmentarische Drama Woyzeck von Georg Büchner entdeckte, mühsam entzifferte und in seiner Büchner-Gesamtausgabe an die Nachwelt brachte.

Doch auch sein literarisches Hauptwerk, der Roman »Der Pojaz«, verdient es, wieder gelesen zu werden, heute mehr noch, als es sein Autor jemals ahnen konnte. Ganz ohne Zweifel sind Joseph Roth, Scholem Alejchem oder Bruno Schulz bessere Schriftsteller als Franzos, der den temperamentvollen Journalisten niemals verbergen konnte. Aber es gibt kein zweites Buch, in dem das Leben im jüdischen Schtetl Osteuropas derart deutlich zutage tritt wie in seinem »Pojaz« – zum Erschrecken deutlich, mit all den tödlichen Verstrickungen zwischen Juden und den anwohnenden Christen, von beiden Seiten. Die ersten Vorbeben der historischen Katastrophe ein halbes Jahrhundert später erreichten Franzos noch am Ende seines Lebens. Er, dem man einst die Manuskripte aus der Maschine wegriss, fand keinen Verleger mehr für dieses Buch. Zwölf Jahre lag es in der Schublade und kam erst 1905 heraus, ein Jahr nach dem Tod des Verfassers.


Der Zweigeist

Eine hochwillkommene Gelegenheit, diesen deutsch-jüdischen »Zweigeist« endlich wieder einem heutigen Leser nahe zu bringen, ist das Lesebuch, das der Autor und Rezitator Oskar Ansull zusammengestellt hat, mit intimer Kennerschaft und – darf man's sagen? – mit Liebe. Es ist eine ausgesprochene Lesefreude geworden, gerade auch für den, dem Franzos kein Begriff war. Nein, eine bedenkentragende wissenschaftliche Studie ist dieser Sammelband nicht geworden, sondern ein Buch zum Schmökern.

Aus Werksauszügen, aus Briefen und Tagebuch, entlegenen Feuilletons und Aufsätzen gewinnt ein beachtlicher Erzähler Gestalt, ein engagierter Chronist der Zeit, in seinen Stärken und Widersprüchen, im Irrtum wie in prophetischer Weitsicht. Das Gelesene kann man auf einer beigelegten CD in sich nachklingen lassen. Und wer anschließend zum Pojaz greifen will: Er ist derzeit als Taschenbuch im Handel.

Mit freundlicher Genehmigung der Nürnberger Nachrichten