Titel ist vergriffen!
Russkij Shurnal – Online-Zeitung • 23.12.2004
Im Petersburger Verlag Hyperion sind die Erinnerungen des westdeutschen Musikers Michael Wieck Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein Geltungsjude berichtet erschienen (in der glänzenden, von Renata von Maydell und Michail Bezrodnyj redigierten Übersetzung von Juri Wolkow) – die wohl bekannteste autobiographische Quelle zum Zweiten Weltkrieg und über den Holocaust in Ostpreußen.
Ähnlich wie im Tagebuch der Anne Frank berührt an Wiecks Buch der Kontrast zwischen dem gewöhnlichen Leben eines Jugendlichen (er wurde 1928 geboren) – erste Liebe, musikalische Erlebnisse, religiöse Selbstfindung – und jenem historischen Hintergrund, vor dem das alles abläuft. In Wiecks Fall wird dieser Gegensatz noch durch den Bruch innerhhalb der eigenen Familie verstärkt: Der Autor von Zeugnis vom Untergang Königsbergs hatte einen halb deutschen, halb schwedischen Vater und eine jüdischen Mutter. Und während er selbst, seine Eltern und die Verwandten der Mutter Deportation und Ermordung erwarteten, speiste seine Kusine, ein Filmstar, auf Empfängen mit Göring und Hitler, kämpfte ein Onkel, als überzeugter Nazi und Offizier einer Panzereinheit an der Ostfront, dienten seine Vettern in der SS.
Eine besondere Rolle räumt Wieck in seinem Buch dem Ordinarius für Allgemeine Psychologie an der Königsberger Universität, Konrad Lorenz, ein. Während des Krieges war Lorenz einer der wichtigsten Theoretiker der Rassenlehre, die die Ausmerzung der Juden begründeten. Lorenz formulierte markig als Kriterium für diese Ausmerzung: »Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange merkt sehr wohl, ob ein anderer ein Schuft ist oder nicht.«
Über das Leben der Juden im Dritten Reich wurde viel publiziert, auch in russischer Sprache. Für den russischen Leser können Wiecks Erinnerungen dennoch einen wahren Schock bedeuten. Denn ein großer Teil seines Buches erzählt vom Leben der Königsberger nach dem Kriegsende unter der sowjetischen Okkupation. Die Verbrechen unserer Soldaten in den von ihnen besetzten Gebieten wurden verschiedentlich beschrieben, unter anderem in Solschenizyns Archipel Gulag und in Lew Kopelews Aufbewahren für alle Zeit. Wiecks Perspektive ist jedoch nicht die der Sieger, sondern die der Besiegten. Er, der für die Nazis ein Jude war, wurde für die Alliierten ein Deutscher – zunächst für die Briten, die die Wohnviertel Königsbergs bombardierten, und dann für die sowjetischen Eroberer Ostpreußens.
Übrigens versteht es Wieck sehr wohl, zwischen den deutschen und den sowjetischen Gräueltaten zu unterscheiden. Während er für die ersteren keinerlei mildernde Umstände sieht, so räumt er beim Bericht von den letzteren beständig ein: »Man kann es sich aber nicht oft genug ins Bewusstsein rufen: Von Deutschen wurden sie als Untermenschen klassifiziert und vertragsbrüchig überfallen – wurde ihr Land verwüstet. Jeder Russe trug in seinem Herzen den Schmerz über Millionen gefallener Kameraden, verhungerter Zivilisten und über ermordete Verwandte und Bekannte.« Unter der Sowjetmacht lebte Wieck drei Jahre. 1948 wurde er nach Deutschland gebracht und der Krieg war für ihn vorbei.