Potsdamer Neueste Nachrichten • 30.12.2004
Ein Lächeln ist eher selten zu finden. Die Fotografien sprechen von harter Landarbeit. Die Gesichter der Menschen sind nicht unglücklich, eher zufrieden wirken sie, doch für ein Lächeln scheint kaum Zeit.
Auch das Lächeln auf dem Gesicht von Anna Sudyn ist nur zu erahnen, doch in ihrem Blick liegt ein Hauch von Sympathie, um sie herum die bunten Blumen ihres Gartens in Orlowo. Sie hat Vertrauen zu dem fremden Deutschen gewonnen, der sie für Fremde Heimat. Alltag in einem masurischen Dorf fotografiert. So viel Vertrauen, dass sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählt, ihm ihr verstecktes Mohnfeld zeigt, für den Mohnkuchen, den sie so backt wie man ihn in ihrer ehemaligen Heimat Ostpolen gemacht hat.
Eine wahre Odyssee hat sie nach Masuren geführt, als junge Frau verschlug es sie über Majdanek und Berlin ins Hessische, nach Jahren der Zwangsarbeit in Hitler-Deutschland kehrte sie wieder heim nach Ostpolen, von wo sie kurz darauf als Angehörige der ukrainischen Minderheit nach Masuren vertrieben wurde.
Von nun an musste sie in dem Dorf Orlowo leben, aus dem gerade erst die ehemaligen deutschen Bewohner vertrieben worden waren.
Fremde Heimat ist der Titel eines kürzlich im Verlag des Potsdamer Kulturforums östliches Europa erschienen Bildbandes. Der Sozialwissenschaftler Mathias Wagner hatte Mitte der 90er Jahre ein Jahr in dem masurischen Dorf verbracht, die Menschen, die Landschaft, den Himmel und die Heuernte mit der Kamera festgehalten, die Geschichten der Bewohner aufgezeichnet. Keine handelsübliche Hochglanz-Hommage an die Schönheit Masurens, eine teilnehmende Beobachtung eher, ehrlich und direkt, ohne akademische Dünkelhaftigkeit.
Die Bilder sprechen von einer bäuerlich armen, aber nicht armseligen Welt, die in ihrer Gegenwart der Vergangenheit sehr ähnlich wird. Wer seine Kindheit in Masuren verbracht hat, wird sich erinnern, an Barfußlaufen auf sandigen Wegen, die strengen Winter, knöcheltiefen Frühjahrsmatsch, die Plackerei der Heuernte, die Eile, wenn ein Gewitter im Anzug war und Großmutters gepunktete Schürze.
Doch der Heimwehtourismus der Vertriebenen spielt hier keine Rolle, auf die politische Debatte über die Vertreibung wird nicht eingegangen.
Nüchtern erzählt die Zeittafel von den Prußen im 10. Jahrhundert, polnischen Ansiedlungen, Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Polen um die nationale Zugehörigkeit Masurens, Germanisierungsaktionen, der Katastrophe der Weltkriege, Vertreibung und Zwangspolonisierung. Irgendwo dazwischen die Lebensgeschichten aus diesem Dorf, die von den Brüchen der Zeit sprechen.
Auch die Bilder, die doch oft so sehr an vergangene Zeit erinnern, tragen leise Zeichen der anderen Welt. Etwa die Wegkreuze, die es im protestantischen Masuren nicht gab, die Prozessionen über Feldwege des heute katholischen Landes oder das evangelische Gotteshaus in dem heute orthodoxe Ukrainer beten. Letztlich erzählt dieser Band von einer Erfahrung, die die alten wie die neuen Bewohner Masurens geprägt hat: die Entwurzelung.
Mathias Wagner: Fremde Heimat. Alltag in einem masurischen Dorf, 128 S., Potsdam 2004, Deutsches Kulturforum östliches Europa, 14,80 Euro, ISBN 3-936168-18-0.
- Fremde Heimat
Der Originalartikel in der Online-Ausgabe der PNN