Für die Deutschen war er ein Jude, für die Russen – ein Deutscher. Im vorgerückten Alter stellt sich Michael Wieck die Frage nach seiner Identität
Michail Tarbowskij (Übersetzung aus dem Russischen: Klaus Harer)

Jewrejskaja Gaseta (Berlin) Nr. 10 (26) • Oktober 2004

Als ich einmal von Berlin nach Moskau kam, machte ich mich zu dem Haus auf, in dem ich 30 Jahre verlebt hatte. Ich fuhr die gewohnte Strecke mit der Metro, stieg an meiner Station aus und marschierte so, wie ich seinerzeit täglich ging, unter der Brücke durch, über die Straße, die Treppe hinunter, am Lebensmittelgeschäft vorbei, in die Hofeinfahrt. Die Füße trugen mich von alleine, alles war vergessen – die Ausreise, Deutschland das andere Leben. Es schien, als würde die Zeit rückwärts laufen und als würde ich wie gewöhnlich von der Arbeit nach Hause kommen, in die dritte Etage fahren, die Türe aufschließen, den Mantel aufhängen, den Fernseher einschalten, zu Abend essen …

Der normale Lebensrhythmus, der Alltagstrott. Aber als ich in den Hof einbog, erstarrte ich: das Haus war weg. Weg, einfach nicht mehr da. An seiner Stelle war ein glatter Rasen. Wie konnte das sein? Es schien, als sei das Haus noch vor einer Minute da gewesen, als hätte ich seine Mauern noch gesehen, das schwarze Loch des Hauseingangs, und dann sei es in einem Augenblick verschwunden, so dass seine Anwesenheit noch in der Luft spürbar war. Es schwebte sozusagen noch über dem grünen Rasen. Mir schien, ich schlief. Ich musste mich zusammennehmen, aufwachen – und alles würde an seinem Platz sein, das ganze gewohnte Leben. Aber es erwachte nicht. »Wo ist denn das Haus?« fragte ich mit matter Stimme einen Mann, der mit einem Mülleimer vorbeiging. »Abgerissen«, sagte er gleichgültig. Aber kann man denn ein ganzes Leben abreißen, drei ganze Jahrzehnte – mit allen Geburten und Toden, Freuden und Hoffnungen? Man kann. Und ich stehe nicht allein so da und spüre, wie dieses Leben sich über dem grünen Rasenstreifen in Luft auflöst. Der betagte Geiger Michael Wieck kommt nach Kaliningrad und geht durch die Straßen seiner Kindheit, durch Straßen einer Stadt, die es nicht mehr gibt und die man einmal Königsberg nannte. Aber die Stadt ist schon lange verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst, alles hier ist jetzt anders: die Straßen, die Leute, die Sprache. Kaliningrad sei eine »Stadt mit vielen schnellerrichteten ›sozialistischen‹ Zweckbauten, wie man sie aus der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten her kennt«, schreibt Wieck in seinem kürzlich in russischer Übersetzung erschienenen Buch Zeugnis vom Untergang Königsbergs, »mit seelenlosen Plätzen, auf denen ein Lenin- oder Marx-Denkmal steht, mit eintönigen Straßen und vorwiegend dunkel gekleideten Menschen, die bei ihren täglichen Einkäufen nach Produkten herumsuchen müssen.« Aber Wiecks Buch, das in Deutschland viel beachtet wurde (es erschien in sieben Auflagen), ist nicht nur durch die Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart, durch das Erspüren der verschwundenen Stadt interessant. Sein Pathos und sein eigentlicher Inhalt liegen in etwas anderem. Das ist die in ihrer Dramatik erschütternde Lebensbeschreibung eines Menschen, der Ende der 1920er Jahre in Königsberg in einer gemischten Familie geboren wurde – der Vater war Deutscher die Mutter Jüdin – und der sich selbst als Jude fühlt. Er hat zweimal die Hölle durchlebt. Zuerst die Hölle der Nazis, denn für die Deutschen war er ein Jude, und dann die sowjetische, denn für die Russen war er ein Deutscher. Von Russen nicht als Opfer des Nazi-Regimes anerkannt, beginnt er im Königsberg/Kaliningrad der Nachkriegszeit, wo sich jeder in ein Raubtier verwandelte, das um seine Nahrung kämpfte, sich immer stärker mit der deutschen Umgebung zu identifizieren.

1948 gelingt es ihm, nach Westberlin zu kommen, wo er das Konservatorium absolviert; er wird Geiger, gründet eine Familie, und es scheint, als hätte er nun ein komfortables Leben im komfortablen Westen führen können. Aber er konnte sich nicht in Westdeutschland einleben, wo die jüngste Vergangenheit »fleißig vertuscht, verschwiegen, beschönigt, entschuldigt und gerechtfertigt« wurde. Er zieht nach Neuseeland, um an der Universität Auckland zu lehren, doch auch hier wird er nicht heimisch und kehrt nach Deutschland zurück. Er fühlt sich auch in Israel nicht unter seinesgleichen, obwohl das Judentum in ihm lebendig ist. Und das Königsberg seiner Kindheit gibt es nicht mehr auf dieser Welt. Wer ist er nun eigentlich – ein Jude, ein Christ, ein Deutscher? Diese Frage quält ihn, wenn er sich auch schließlich als »Mensch unter Menschen« bezeichnet. Ihm ist ein besonderer Komplex eigen, den man vielleicht »Wieck-Komplex« nennen könnte. Aber ist das nicht unser aller Komplex, der dem Leben in der Diaspora überhaupt anhaftet? In Russland sind wir Juden, in Deutschland sind wir Russen, ja auch in Israel werden wir im Wesentlichen als Russen angesehen. Was aber sind wir – Fremde unter ihresgleichen, unseresgleichen unter Fremden? Eine schwierige Frage.