Kulturforum östliches Europa spürte dem »Mythos Czernowitz« nach
Moritz Reininghaus
1
Die Residenzgasse von Czernowitz, jener Stadt in der Bukowina, die durch ihr ungewöhnlich vielfältiges literarisches Leben weithin bekannt wurde. Eine Ausstellung im Alten Rathaus werinnert an die einst blühende Kulturmetropole.

Potsdamer Neueste Nachrichten • 22.09.2004

Längst ist die Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz kein weißer Fleck mehr auf der Landkarte im kulturellen Bewusstsein Europas. Auch wenn die geographische Verortung des zwischen Bessarabien und Galizien gelegenen Gebietes, das heute zur Ukraine gehört, noch Schwierigkeiten bereitet, wurden die Namen und Werke von Karl Emil Franzos, Rose Ausländer und Paul Celan zum Synonym für einen Ort, an dem sich Kulturen, Sprachen und Religionen mischten. Celans Ausspruch von der Bukowina als Gegend, »in der Menschen und Bücher lebten« avancierte zum geflügelten Wort. Wie sah aber die Wirklichkeit in Czernowitz aus? Das Deutsche Kulturforum östliches Europa hatte sich in einer Konferenz am vergangenen Wochenende zum Ziel gesetzt, die mythische Überhöhung einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen – ohne dabei den Mythos zu zerstören.

Grundvoraussetzung für diesen Mythos war, dass lange Zeit keine Volksgruppe in der Stadt eine dominierende Stellung einnahm und somit niemand in die Rolle des Unterdrückers schlüpfen konnte. Im weitgehend toleranten Klima der Habsburger Doppelmonarchie konnten so zahlreiche Volksgruppen und Glaubensgemeinschaften nebeneinander leben, nicht aber miteinander, wie der Wiener Publizist Martin Pollack betonte. Er trat damit sogleich einem gängigen Klischee entgegen: Juden, Rumänen, Deutsche, Polen, Ukrainer, Armenier und somit Katholiken, Israeliten, Griechisch-Orthodoxe und Unierte Armenier lebten zwar lange Zeit in Frieden gemeinsam in der Kleinstadt am Bruth, interkultureller Austausch war aber eher selten. Nach 1848 richteten sich fast alle Gruppen eigene Kulturhäuser ein, in denen sie weitgehend unter sich blieben.

Für Pollack ist eine der Gefahren der Mythisierung eine einseitige Lesart, etwa die Darstellung von Czernowitz als »jüdischer Stadt«, wie sie in den letzten Jahren Verbreitung fand. Und so thematisierte die Berlinerin Gaby Coldewey das kaum beachtete Kapitel der Deutschen in der Bukowina zwischen ihrer Ansiedlung im 18. und 19. Jahrhundert und ihrer Umsiedlung im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts.

Die Münchner Historikerin Mariana Hausleitner beleuchtete die Rumänisierung nach 1918, als die Bukowina Teil Rumäniens wurde. In diesen Zeitraum fällt die Zerstörung der Illusion des friedlichen Zusammenlebens in Czernowitz. In den Jahren nach 1933 setzte die direkte Verfolgung der anderen Volksgruppen ein; nach 1941 wurden der Großteil der Juden von rumänischen Truppen unter deutscher Leitung in Lager deportiert, wo die meisten von ihnen umkamen. Die anderen Volksgruppen wurden zum großen Teil vertrieben.

Wie zweischneidig der Mythos ist, machte auch Sergij Osatschuk vom Bukowina Forschungsinstitut in Czernowitz deutlich. Als heutiger Czernowitzer wehrte er sich gegen die Darstellung des Verlegers von Rose Ausländers Gedichten, Helmut Braun, nur wer in der »goldenen Zeit« vor 1918 geboren sei, könne ein »echter« Czernowitzer sein. Osatschuk stellte dar, wie der Mythos einerseits zahlreiche Touristen in seine Stadt lockt, andererseits aber die Vitalität der Gegenwart zu verdecken droht. Diese neue Vitalität ist auch für den Essayisten Karl Schlögel das faszinierende Element an Czernowitz. Er hält die Bukowina darüber hinaus für einen »magischen Raum«, der vor der Schablone des Horrors, der danach gekommen sei, entstanden sei. Die Konferenz vermochte es, die problematischen Folgen der Mythisierung darzustellen und die wirkliche Vielfalt des Czernowitzer Lebens herauszuarbeiten, auch wenn wichtige Kapitel wie die restriktive Haltung Josephs II. gegenüber den Juden der Bukowina sowie die systematische Auslöschung der Vergangenheit in der Sowjetzeit zu wenig Berücksichtigung fanden. Umso bedauerlicher war, dass Mythos und Wissenschaft seltsam unberührt voneinander im Raum standen. Zum Tragen kam dies besonders, als der in Czernowitz geborene Cellist Eduard Weissmann, Protagonist des im Rahmenprogramm gezeigten Films Dieses Jahr in Czernowitz von Volker Koepp, die Notwendigkeit von Mythen als Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Idealen darstellte. Ihm konnten die Wissenschaftler lediglich die mangelnde kritische Schärfe seiner Sicht auf Czernowitz entgegen setzen, ohne die Bereitschaft erkennen zu lassen, wirklich auf den Mythos einzugehen. Solange dies nicht geschieht, bleibt der Dialog von Mythos und Wissenschaft bis auf weiteres ein Desiderat. Beide existieren nebeneinander, nicht miteinander – wie einst die Völker in Czernowitz.



Die Ausstellung Viersprachenlieder erfüllten die Luft zur Literaturstadt Czernowitz ist bis zum 17. Oktober täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr im Alten Rathaus zu sehen.