Potsdamer Neueste Nachrichten • 16.06.2004
»Europa wird Bukowinisch oder Europa wird nicht sein«, so die Ansicht bukowinischer Intellektuelle im 19. Jahrhundert. Der kleine Landstrich in der östlichsten Ecke des Habsburger Reiches, in dem unter anderem Polen, Rumänen, Deutsche, Ukrainer, Juden, Sinti und Roma lebten, galt einigen Intellektuellen als Vorzeigemodell für ein multinationales Europa. Für den Autor Karl Emil Franzos war das heute ukrainische Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, wo er zur Schule ging, gar »der Vorhof zum Paradies«. Das Paradies aber war Deutschland, genauer Berlin.
Geboren im Revolutionsjahr 1848 in einer galizischen Kleinstadt, wuchs Franzos in dem, vom Vater vermittelten Bewusstsein auf, Deutscher zu sein. Deutscher, jüdischen Glaubens. In der österreichischen Monarchie nicht unbedingt die günstigste Konstellation. Doch die Bukowina war für Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert eine Enklave, hier war die Amtssprache Deutsch und der jüdische Anteil am sozialen und politischen Leben groß. Franzos sah in der säkularen Bildung und Kultur des nachrevolutionären Deutschlands einen Hoffnungshorizont für ganz Europa aufleuchten und verstand sich selbst als Mittler zwischen den Welten, zwischen Westeuropa und »Halbasien«, wie er, eher despektierlich, die Breitengrade Osteuropas nannte. Der Ausbildung nach Jurist mit Ambitionen zum Richteramt, das er als Jude nicht ausüben konnte, war seine eigentliche Mission die Literatur, die ihn nicht nur zu einem Erfolgsautor, sondern auch zu dem Entdecker Georg Büchners machte, dessen Werke wohl vergessen worden wären, hätte Franzos sie nicht ediert.
Anlässlich seines 100. Todestages widmete das Moses Mendelssohn Zentrum in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa dem umtriebigen Missionar in Sachen Literatur am vergangenen Wochenende eine internationale Tagung. In ihrem Eröffnungsvortrag charakterisierte Prof. Amy Colin aus Pittsburgh Franzos als Idealisten mit einigen stereotypen Vorurteilen und doch einer Vision für ein vereintes Europa. Eine völkerübergreifende Kulturnation müsse jeder Nation genügend Spielraum für die jeweils eigene Lebensart einräumen, Toleranz üben und sich auf einen gemeinsamen kulturellen Nenner als einigendes Band verständigen. Idealerweise wäre dies, nach Franzos, die Tradition des deutschen Humanismus. »Die deutsche Cultur scheint mir durch ihre Gründlichkeit und Selbstlosigkeit zu dieser großen Segensmission vor allem berufen«, wie man an der Bukowina sehen könne. Eine Verklärung, die realen Lebensbedingungen nicht entsprach, wie die Tagung nachwies.
Seiner großen Liebe, der »Deutschen Dichtung«, widmete sich Franzos 18 Jahre seines Lebens als Herausgeber der gleichnamigen Literaturzeitschrift. In seine eigenen Bücher, wie dem Pojaz, beschrieb er als einer der ersten Autoren das osteuropäische Judentum und setzte sich, nicht nur literarisch, für ein aufgeklärtes Judentum ein. Spätere Generationen hielten sein Festhalten an der Idee der Integrationsmöglichkeit des Jüdischen in die deutsche Kultur für naiv. Franzos selbst machte sich keine Illusion: »Der Judenhass auf Erden wird erst mit der Torheit sterben und die Torheit ist unsterblich.«
- Spielräume der Differenz
Der Originalartikel in der Online-Ausgabe der Potsdamer Neuesten Nachrichten
- Karl Emil Franzos: Czernowitz – Wien – Berlin
Deutsch-jüdische Kultur in der Bukowina