Zdeněk Mareček von der Masaryk-Universität Brno zum deutsch-tschechischen Verhältnis
Jan Kixmüller

Potsdamer Neueste Nachrichten • 31.08.2004


Serie: Neue Zeiten im Osten

Heute: Tschechien

Seit Mai sind acht Länder des östlichen Europa Mitglieder der EU. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa pflegt enge Kontakte in die Beitrittsländer. Die PNN wollten von den Partnern wissen, was sie von der neuen Zeit erwarten.


Dr. Zdeněk Mareček ist Assistent am Institut für Germanistik der Masaryk-Universität in Brno. Er ist Experte für deutschsprachige Literatur in Mähren und Schlesien im 19./20. Jahrhundert.

Wird der EU-Beitritt Tschechiens Ihr Leben verändert?

Es war ein angenehmes Gefühl, ins Europa-Parlament wählen zu dürfen und dazu noch die Vorzugsstimme für Frank Boldt von den tschechischen Grünen abgeben zu können. Er ist für mich ein Symbol der Überwindung der Ära der »nationalen Interessen«.

Und was Ihre Arbeit betrifft?

Die Arbeit an der Germanistischen Fakultät in Brünn wird der Beitritt vorläufig nicht unmittelbar beeinflussen, aber langfristig sind wir natürlich von dem politischen Klima im Lande und in Europa abhängig. Ein neuer Trend ist, dass einige Studenten zwei Studienprogramme gleichzeitig belegen: etwa Europa-Studien, Wirtschaft oder Jura (als Vollstudium) und zusätzlich eine Sprache. Wir müssen auf diesen Trend reagieren und von dem klassischen philologischen Studium etwas abrücken. Ich hoffe, dass Germanistikstudenten und -absolventen eine größere Rolle bei der Verbesserung der deutsch-tschechischen Beziehungen spielen als bisher. Sie könnten dabei helfen, die immer noch recht verbreiteten, historisch bedingten Vorurteile gegenüber den Deutschen abzubauen.

Und die tschechische Sprache?

Jedes Jahr unterrichte ich Tschechisch als Fremdsprache an der Sommerschule, zu der fast 200 Kursteilnehmer aus aller Welt kommen. Da ist das gestiegene Interesse für Tschechisch unter EU-Dolmetschern und -Übersetzern schon zu spüren. Was die klassische Bohemistik betrifft, hört man aus Deutschland eher, dass die Bohemisten an den Slawistik-Instituten um das Überleben ihres Faches kämpfen, wie seit 2001 Prof. Peter Kosta und Prof. Herta Schmid in Potsdam. Beide sind hervorragende Fachleute, die unter anderem Brünner Doktoranden ausbilden. Neue Bohemistik-Studenten, die bei der deutsch-tschechischen Annäherung aktiv werden könnten, bekommen die Potsdamer nun leider nicht mehr. Bücher aus Deutschland, die wir unseren Studenten nicht ausreichend zur Verfügung stellen können, werden durch den Beitritt vorläufig nicht erschwinglicher sein, aber erfreulich ist es, wie sich die Regale der großen Brünner Buchhandlungen mit ihnen füllen. Die Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und folglich in der Kaufkraft der Bevölkerung in beiden Ländern auszugleichen, wird aber noch Jahrzehnte dauern.

Was wurde leichter?

Eine Erleichterung brachte der Beitritt bei der früher so lästigen Zollabfertigung, es entfallen unangenehme Visa-Probleme für unsere Lektoren aus den EU-Ländern sowie für uns Tschechen demütigende Passkontrollen an der österreichischen Grenze.

Wie wird sich der Beitritt auf die Beziehungen zu Deutschland auswirken?

Volkswagen Group, Bosch und Siemens sorgen für den guten Ruf der deutschen Wirtschaft in Tschechien, viele schlecht privatisierte Firmen waren in den Händen der tschechischen Besitzer bald pleite. Es ist im Moment noch schwer abzusehen, wie sich der Beitritt auf die tschechische Landwirtschaft, auf die Arbeitslosigkeit und auf den Lebensstandard der Rentner auswirkt, also die Bevölkerungsgruppen, in denen die antideutschen und antieuropäischen Ressentiments wohl am stärksten sind. Man sollte die den Wettbewerb verzerrenden Unterschiede in der Landwirtschaftsförderung in den 15 alten und den 10 neuen EU-Ländern möglichst schnell überwinden, damit den antieuropäischen Stimmungen, dank denen die Kommunisten bei den EU-Wahlen so gut gepunktet haben, der Boden entzogen wird. Erst wenn die wirtschaftliche Entwicklung gut vorangeht, werden Voraussetzungen dafür geschaffen, das gemeinsame Kulturerbe stärker wahrzunehmen.

Welche Spuren haben die Deutschen in ihrer Stadt hinterlassen?

In der Geschichte der Stadt Brünn gab es viele deutschsprachige Persönlichkeiten, auf die wir stolz sind, darunter den Entdecker der Vererbungsgesetze Gregor Mendel, den Architekten Adolf Loos und den Schriftsteller Robert Musil. Ihr Bekanntheitsgrad unter den jungen Brünnern sollte erhöht werden und sie sollten in der Präsentation der Stadt nach außen eine größere Rolle spielen. Gerade in der EU sollte die Identität weniger auf nationaler als auf regionaler Ebene aufgebaut werden. Den größten Aufschwung erlebte Brünn in der Zeit, als die europäischen Kontakte der multikulturellen Stadt am intensivsten waren. Ich nehme an, dass der EU-Beitritt die europäischen Maßstäbe in der eigenen Identitätsbildung fördern wird.

Welche Rolle spielt das deutsche Kulturerbe heute in Brünn?

Wir leben in einem Land, dessen kulturelle Blütezeit in der liberalen Ära der österreichischen Monarchie vor und um 1900 eingeleitet und in der relativ toleranten Epoche der Ersten Tschechischen Republik fortgesetzt wurde. Die Brünner Ringstraße, dank der die Stadt bis heute ein wenig bürgerliches Flair atmet, wurde fast von denselben Architekten gebaut wie die berühmte Wiener Ringstraße. Der größte Bau der Ringstraße aus dieser Zeit war das ehemalige Landtagsgebäude, in dem 1905 der Mährische Ausgleich, ein Kompromiss zwischen tschechischen und deutschen Parteien, verabschiedet wurde. 1919 entstand in Brünn die Masaryk-Volkshochschule, die von dem jüdischen Genetiker Hugo Iltis geleitet wurde. An seinem Schicksal kann man die tragischen Verwicklungen des deutschsprachigen jüdischen Brünn zeigen. Er war Kuratoriumsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Wissenschaft und Kunst, die unter dem Druck der Tschechisierung Brünns nach 1918 entstanden war und die Deutschen Brünns über die politischen Parteigrenzen hinweg vereinte. Kurz nach deren Gründung 1919 wurde das Kaiserdenkmal Josefs II., das Symbol der deutschliberalen Ära, gestürzt. Die Spannungen wuchsen. Trotzdem gelang es Iltis 1922, die Mendel-Feier als eine deutsch-tschechische Veranstaltung zustande zu bringen. Seit 1926 gab es deutsche aktivistische Parteien in der tschechoslowakischen Regierung, seit 1929 auch die Sozialdemokraten, vertreten durch den Brünner Ludwig Czech als Minister. Die größten Konflikte der ersten Nachkriegsjahre schienen überwunden. Die positiven Entwicklungen wurden durch die Machtergreifung und den Einmarschs Hitlers zunichte gemacht. Iltis gelang es, mit Hilfe von Albert Einstein nach Amerika zu emigrieren, Ludwig Czech starb in Theresienstadt. Man muss sich also um Differenzierung bemühen, wenn man erreichen will, dass sich die Brünner auch als Erben der deutschsprachigen Kultur der Stadt fühlen sollen.

Vorurteile noch weit verbreitet
Der Originalartikel in der Online-Ausgabe der PNN