Die Norwegerin Bente Kahan macht sich um jüdische Kultur in Breslau verdient
Von Raimund Wolfert
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Interview und Reportage

Im Grunde ihres Herzens ist Bente Kahan Europäerin. Die norwegisch-jüdische Schauspielerin und Musikerin, die in Tel Aviv und New York studiert hat und mit ihren Konzerten bereits in Städten wie Berlin, London, Stockholm, Prag und Budapest Erfolge feiern konnte, lebt seit mittlerweile sieben Jahren in Breslau. Nach Schlesien kam sie 2001, als ihr Mann für ein Jahr in seine Heimatstadt zurückkehren wollte, um häufiger für seine hochbetagten Eltern da sein zu können. Bente Kahan folgte ihm mit durchaus gemischten Gefühlen. Einerseits war da die Spannung auf das Neue, das sie immer gelockt hatte, andererseits aber auch die Befürchtung, in Breslau kein geeignetes Milieu zu finden, das sie künstlerisch herausfordern könne. Ihr Leben hatte sich bisher vor allem in Hauptstädten und wirklich großen Metropolen abgespielt. Hatte ihr da Breslau etwas zu bieten? Die Dinge sollten sich schließlich anders entwickeln, als Bente Kahan es sich vorgestellt hatte.

Die CD <i>Stimmen aus Theresienstadt. Lieder nach Gedichten von Ilse Weber</i> erschien 1997.

»Ursprünglich kam ich nur für ein Jahr hierher, aber ich habe mich Hals über Kopf in diese Stadt verliebt,«

erzählt sie, als wir uns Ende Juli in den Räumlichkeiten ihrer Stiftung in der Breslauer Włodkowica (Wallstraße) treffen.

»Unter den heutigen Einwohnern der Stadt gibt es doch kaum jemanden, dessen Großeltern hier geboren wurden. Damit hat Breslau eine Offenheit, die anders ist als alles, was ich bisher erlebt habe. Die Möglichkeiten, die sich mir hier bieten, hätte ich beispielsweise in Norwegen nie ergreifen können.«

Weitere CD-Veröffentlichungen von Bente Kahan: (v.l.n.r.) Farewell cracow, Home, Jiddischkajt, die englische Fassung Voices from Theresienstadt und Sing with us in yiddish

Geboren wurde Bente Kahan 1958 in Oslo. Sie entstammt einer berühmten chassidischen Familie, deren Wurzeln sie bis in das mittelalterliche Spanien zurückverfolgen kann. Einer ihrer berühmten Vorfahren war der legendäre Rabbiner Judah Löw (1525–1609) aus Worms, der den Prager Golem erschaffen haben soll. Die überlebenden Mitglieder ihrer Familie emigrierten nach ihrer Befreiung aus deutschen Konzentrationslagern nach Norwegen und Israel. Bente Kahan wuchs in einer traditionell-orientierten jüdischen Familie auf, und als Jugendliche begann sie, ihr Anderssein in Norwegen als belastend zu erleben. Sie wollte nicht Teil einer Minderheit in der Diaspora sein und immer alles Jüdische oder Israelische verteidigen müssen. Der Wunsch dazuzugehören wurde mit der Zeit immer stärker in ihr. Deshalb ging sie Ende der siebziger Jahre nach Jerusalem, um Hebräisch und jüdische Geschichte zu lernen, und begann danach eine Ausbildung zur Schauspielerin und Musikerin an der Universität in Tel Aviv. Nach einem Studienaufenthalt in New York erhielt sie ein erstes Engagement an einem Experimental-Theater und später eine Rolle am Israelischen Nationaltheater Habima. Das Leben in Israel erwies sich aber als schwieriger als erwartet.

»Das war ein Schuh, der nicht zu mir passte,«

räumt sie heute ein.

Breslau, Häuser am Großen Ring im Abendlicht

»Vieles dort war mir fremd, und mit den Jahren ist der Zionismus wie der nationalstaatliche Gedanke überhaupt immer unwichtiger für mich geworden. Ich bin fasziniert von Europa als Idee und fühle, dass ich hierhin gehöre. Schließlich ist das jüdische Erbe ja auch ein Teil von Europa. Natürlich ist da die norwegische Sprache. Sie ist meine Muttersprache, die Sprache, die ich am besten beherrsche. Aber ich spreche auch noch Englisch, Hebräisch, Deutsch und Polnisch. Und wenn man viele Sprachen kann, öffnet einem das viele Türen.«

Bente Kahan

Im Falle Bente Kahans war es aber zunächst die Musik, die ihr zahlreiche Türen öffnete. 1983 produzierte sie ihr erstes jüdisches Kabarett Über der Stadt, das in Oslo uraufgeführt wurde. Es folgte eine mehrjährige Zusammenarbeit mit der norwegischen Regisseurin Ellen Foyn-Bruun, mit der sie zwei Monodramen schrieb: eines über die legendäre »Queen of Blues« Bessie Smith und eines über eine persische Emigrantin in Norwegen. Als Bente Kahan 1990 vom norwegischen Kultusministerium mit einem Stipendium ausgezeichnet wurde, gründete sie mit dessen Hilfe das Theater Dybbuk – Oslo (TDO), eine Produktionsfirma ohne eigene Spielstätte, deren Ziel es ist, jüdisch-europäische Kultur und Geschichte durch Musik und Schauspiel zu fördern. Unter den ersten Produktionen des Theaters waren die Programme Jiddischkajt (1990) und Gitl (1991) – ein Monodrama basierend auf den Eisenbahn-Geschichten von Scholem Alejchem (1859–1916) – sowie Farewell Cracow, ein szenisches Konzert mit Liedern des bekannten jiddischen Volksdichters Mordechai Gebirtig (1877–1942). Bei diesem Konzert, das 1992 in Warschau uraufgeführt wurde, arbeitete Bente Kahan zum ersten Mal mit polnischen Musikern wie Dariusz Świnoga (Akkordeon) und Mirosław Kuźniak (Violine) zusammen. Sie hatten eine klassische Musikausbildung genossen und sich in Polen bereits als Interpreten osteuropäischer Folklore-Musik etabliert.

Am nachdrücklichsten bemerkt gemacht haben sich Bente Kahan und das Theater Dybbuk bis heute aber durch das Einpersonenstück Morgen fängt das Leben an – Stimmen aus Theresienstadt, eine szenisch-musikalische Reportage mit Original-Kabarettsongs, Liedern und vertonten Gedichten der jüdischen Dichterin Ilse Weber (1903–1944), die von den Nationalsozialisten ermordet wurde. In dem Programm geht es um das fiktive Schicksal fünf verschiedener Frauen, deren Wege sich in den Baracken des Konzentrationslagers Theresienstadt kreuzen. Die Premiere von Morgen fängt das Leben an fand im Mai 1995 in Oslo statt, die deutschsprachige Erstaufführung folgte im November des gleichen Jahres in Dresden, und 1997 gastierte Bente Kahan mit dem ins Englische übersetzten Text in Israel und London sowie in der Gedenkstätte Theresienstadt selbst. Im Herbst 2000 ging sie mit Voices from Theresienstadt schließlich auf eine Tournee durch die USA. Heute liegen die Lieder nach Texten Ilse Webers in Form von drei Einspielungen auf CD vor, auf Deutsch, Englisch und Norwegisch. Ein weiterer Erfolg für Bente Kahan wurde auch das Programm home, das aus Liedern europäischer Juden aus zehn Ländern und sechs Jahrhunderten besteht und mittels derer die Sängerin die lange Reise ihrer eigenen Familie durch Europa nacherzählt, beginnend im Spanien des dreizehnten Jahrhunderts und endend im heutigen Norwegen. Mit home ging Bente Kahan 2000 auf eine europaweite Tournee, und mit den Liedern trat sie auch im Rahmen der Holocaust-Gedenkveranstaltung am 5. Mai 2005 in der Deutschen Oper Berlin auf. Aufgrund ihrer gleichermaßen ergreifenden Live-Auftritte und CD-Einspielungen gilt Bente Kahan als eine der besten jüdischen Folksängerinnen der Welt und ist bereits als »die Diva des Klezmer« bezeichnet worden.

 

Ihren späteren Mann hat Bente Kahan 1987 in Oslo kennen gelernt. Aleksander Gleichgewicht war Mitglied der Solidarność gewesen, hatte in Polen Berufsverbot erhalten und kam 1984 nach Norwegen, wo er als politischer Flüchtling anerkannt wurde. 1987 sprach er als Vertreter des norwegischen Helsinki-Komitees bei einer Veranstaltung zum Thema Menschenrechte, zu der auch Bente Kahan mit einem musikalischen Programm eingeladen worden war. Als sie zusammen mit ihrem Mann 1991 zum ersten Mal nach Warschau ging, war sie überrascht, wie groß das Interesse an jüdischer Kultur und Geschichte in Polen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus war, und in ihren Augen ist das bis heute so. Vor 1989 war die Auseinandersetzung mit jüdischer Thematik in Polen so gut wie unmöglich, und seit Anfang der neunziger Jahre gibt es einen immensen Nachholbedarf an Informationen und künstlerischer Präsentation. Dieses Interesse legte denn auch den Grundstein dafür, dass Bente Kahan sich zehn Jahre später auf die Idee einließ, für eine gewisse Zeit nach Breslau zu ziehen, obwohl sie nach zwei Jahren Warschau für längere Zeit wieder in ihr Heimatland zurückgekehrt war.

»Wir waren beide überrascht, wie gut uns Breslau nach all den Jahren in Norwegen gefällt«,

gesteht sie.

»Heute haben wir hier viele Freunde. Durch meinen Mann kenne ich natürlich vor allem Leute aus der früheren Opposition. Und dann ist da auch die Altstadt mit ihren restaurierten Bürgerhäusern um den Ring, die Universität und die Dominsel. Aber was dazu führte, dass ich die Stadt nicht bereits nach einem Jahr wieder verließ, war das unglaublich reiche kulturelle Erbe, auf das ich hier stieß. Ein Erbe, um das sich im Grunde niemand kümmerte. Das hat mich provoziert.«

Die ehemalige Synagoge Zum Weißen Storch. Die restaurierte Außenfassade heute.

Das Erbe, von dem Bente Kahan spricht, ist die über 800 jährige jüdische Geschichte Breslaus, die ausgehend vom frühen dreizehnten Jahrhundert bis in unsere Tage Spuren hinterlassen hat. Das 1917 auf der Dominsel entdeckte Grabdenkmal für den »Rabbi David mit der allerliebsten Stimme« aus dem Jahre 1203 ist heute der älteste jüdische Grabstein auf polnischem Boden. Heinrich Graetz (1819–1891), 1853 zum Dozenten für jüdische Geschichte an das neu gegründete jüdisch-theologische Seminar in Breslau gerufen und später hier zum Honorarprofessor ernannt, war der bedeutendste jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts. Abraham Geiger (1810–1874), der Begründer der jüdischen Reformbewegung in Deutschland, war lange Jahre als Rabbiner in Breslau tätig, und zu der geistigen Elite der Stadt gehörten einst auch so renommierte jüdische Wissenschaftler wie Max Born (1882–1970) und Fritz Haber (1868–1934). Auf dem alten jüdischen Friedhof in Breslau ruhen zahlreiche herausragende Persönlichkeiten, die sich um Breslau, Schlesien und Europa verdient gemacht haben, unter ihnen der Gründer der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Ferdinand Lasalle (1825–1864), die Schriftstellerin und Publizistin Friederike Kempner (1836–1904) und die Malerin Clara Sachs (1862–1921). Aus Breslau stammte die zum Katholizismus konvertierte Theologin Edith Stein (1891–1942), die in Auschwitz ums Leben kam, und hier wurde auch der Soziologe Norbert Elias (1897–1990) geboren.

Die Tagebücher Willy Cohns erschienen 2006 im Böhlau Verlag in zwei Bänden. Inzwischen liegt im Buchhandel auch eine kürzere Auswahl in einem Band vor.

1925 lebten in Breslau knapp 25.000 Juden, und damit hatte die Stadt nach Berlin und Frankfurt am Main den drittgrößten jüdischen Bevölkerungsanteil in ganz Deutschland. Im Dezember 1940, kurz bevor die Massendeportationen der in der Stadt verbliebenen jüdischen Bürger nach Auschwitz und in andere Todeslager begannen, hatte sich dieser Anteil bereits auf 9.175 Männer, Frauen und Kinder reduziert. Die Veröffentlichung von Willy Cohns Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums im vorletzten Jahr hat vielen deutschsprachigen Lesern die Katastrophe der Jahre zwischen 1933 und 1945 erneut nachdrücklich vor Augen geführt. Der Historiker und Publizist Cohn selbst wurde im November 1941 zusammen mit seiner Frau und seinen beiden jüngsten Töchtern nach Litauen deportiert und unmittelbar nach der Ankunft in Kaunas erschossen.

»Geographisch bin ich hier im Herzen Europas und im Herzen all dessen, was geschehen ist und was in der Tragödie endete«,

sagt Bente Kahan.

 

»Dieses tragische Moment hat mich immer sehr stark angezogen, vielleicht weil ich Künstlerin bin. Das Dramatische ist ja für uns Musiker wie auch für Schriftsteller eine Art Nahrung. Außerdem ist Breslau mit seiner Universität eine pulsierende Stadt. Ein Fünftel der Einwohner Breslaus sind Studenten, und nach wie vor kommen viele Touristen hierher, um beispielsweise in die Oper zu gehen. Für viele Deutsche ist da offenbar immer noch eine Barriere, weil für sie Polen Ausland ist. Aber wenn man bedenkt, dass es nach Berlin nur etwa 350 Kilometer sind, muss man sagen, dass die Barriere eher in den Köpfen besteht als in der Wirklichkeit. Für uns ist es jetzt schon praktischer, nach Berlin als nach Warschau zu fahren, wenn wir zu einem Flughafen müssen. Und wenn erst Schönefeld fertig gestellt sein wird, sollen auch endlich Schnellzüge zwischen Berlin und Breslau eingerichtet werden.«

Bente Kahan ist überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Deutschen Breslau für sich entdecken werden. Sie stellt ein wachsendes Interesse an der Stadt gerade bei jungen Menschen aus Deutschland, aber auch aus anderen Ländern Europas fest und hat erkannt, dass all diese Menschen eine Handreichung brauchen, um sich in der Geschichte wie in der Gegenwart Breslaus orientieren zu können.

»Irgendjemand muss ihnen zeigen, was für Menschen hier früher gelebt haben, welche Träume, Sorgen und Ideen sie hatten, und welche Bedeutung Breslau in europäischer Perspektive hatte und immer noch hat,«

Ausschnitt aus der Homepage der Fundacja Bente Kahan

merkt sie an. Einen Beitrag hierzu soll die von ihr 2006 gegründete Stiftung Fundacja Bente Kahan (FBK) leisten. Deren Ziel ist es, jüdische Geschichte und Kultur auf internationaler Ebene zu repräsentieren. Im Namen der FBK ist es Bente Kahan bereits gelungen, knapp drei Millionen Euro für den Wiederaufbau der alten Breslauer Synagoge Zum Weißen Storch zu aquirieren. Das Gebäude, das 1829 nach Plänen des Architekten Carl Ferdinand Langhans (1782–1869) entstand, wurde anders als die Neue Synagoge in der Breslauer Angerstraße (Łąkowa) in der »Reichskristallnacht« 1938 nicht zerstört, verfiel aber angesichts des Exodus polnischer Juden nach 1968 zunehmend. Schon in wenigen Jahren soll es wieder als Gebetshaus dienen und ein internationales Zentrum für jüdische Kultur und Erziehung sowie ein Museum der schlesischen Juden beherbergen. Die feierliche Eröffnung ist für den Juni 2010 geplant.

 
 
 
Das Gemeindezentrum in der Włodkowica 9 führt nach außen eine eher stille Existenz im Verborgenen. Doch im Innenhof des Grundstücks befindet sich die ehemalige Synagoge Zum Weißen Storch.
Gedenktafel für die während des Zweiten Weltkriegs deportierten Breslauer Juden. Die deutschsprachige Inschrift lautet: Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir. Ps. 130 Von diesem Platz sind in den Jahren 1941–1944 die Breslauer Juden durch die Nationalsozia
Innenraum der ehemaligen Synagoge Zum Weißen Storch

 

 

 

Doch bereits jetzt steht der FBK das Haus für Konzerte, Lesungen, Filmvorführungen, Ausstellungen und andere Veranstaltungen aller Art zur Verfügung. Im September und Oktober, wenn Bente Kahan von einer Süd-Afrika-Tournee nach Polen zurückgekehrt sein wird, stehen unter anderem Aufführungen des Monodramas Stimmen aus Theresienstadt und der neuen Musiktheater-Produktion Wallstrasse 13 an. Zum »Tag der gegenseitigen Verständigung« im November, der im heutigen Breslau bereits zum vierten Mal zur Erinnerung an die sogenannte Reichskristallnacht begangen wird, werden in diesem Jahr auch Künstler aus Israel und Norwegen in der ehemaligen Synagoge Zum Weißen Storch auftreten, unter ihnen die Osloer Schauspielerin Bente Børsum, das Trondheimer Kindertheater Fusentast und die Theatergruppe um Ruth Kanner aus Israel. Vom 22. Oktober bis 30. November 2008 wird ebenfalls eine Ausstellung über »Das Jiddische Theater in Niederschlesien in den Jahren 1946–1968«, die in einer Zusammenarbeit zwischen der FBK und dem Zentrum für jüdische Studien an der Universität in Breslau erarbeitet worden ist, im Rathaus der Stadt gezeigt werden.

 

Eine Grundlage für das Engagement der FBK in Breslau sind natürlich die Sprachkenntnisse Bente Kahans, denn ohne Polnisch hätte sie keine Verhandlungen mit ihren Partnern, der jüdischen Gemeinde in Breslau, der Stadt und der Warschauer Vereinigung der jüdischen Gemeinden in Polen bzw. auch dem Zentrum für jüdische Studien führen können. Schon als sie Anfang der neunziger Jahre ihre ersten polnischen Musikerkollegen kennen lernte, verstand sie, dass die Kommunikation auf Englisch oder Deutsch immer nur an der Oberfläche bleiben würde. Heute spricht Bente Kahan fließend Polnisch, auch wenn sie behauptet, dass sie die komplizierte Grammatik der Sprache nach wie vor nicht richtig beherrscht. In jedem Fall reichten ihre Sprachkenntnisse aber dafür aus, dass sie von der Stadt Breslau einen ersten Zuschuss von 660.000 Złoty für den Wiederaufbau der alten Synagoge Zum Weißen Storch aushandelte. Später kamen 2,5 Millionen Euro aus Töpfen der drei EWR-Länder Norwegen, Liechtenstein und Island hinzu, und mit deren Hilfe konnten bereits eine Außenfassade sowie der Thora-Schrein im Inneren des Gebäudes restauriert werden. Zur Zeit wird der Keller der ehemaligen Synagoge trockengelegt, und Bente Kahan ist zuversichtlich, dass die bereitgestellten Mittel für die gesamte Innen- wie Außenrenovierung reichen werden. Nur die Finanzierung des geplanten Museums ist noch nicht gesichert. Aber Bente Kahan ist stolz darauf, bereits so weit gekommen zu sein. 2006 erhielt sie für ihren Einsatz den seit 1992 jährlich verliehenen Preis des Breslauer Stadtpräsidenten.

»Als wir die Gelder aus Norwegen, Liechtenstein und Island beantragten, waren wir unter 14 Antragstellern aus Polen die einzige Non Government Organisation,«

bemerkt Bente Kahan.

»Wir hatten die Nummer 13, und vielleicht hat uns die Zahl Glück gebracht. Die 13 taucht ja schließlich auch im Titel unserer vorjährigen Produktion wallstrasse 13 auf.«

 
Das Haus in der Wallstraße 13 (Włodkowica) ist heute noch immer eine Ruine.

Zu der szenischen Multi-Media-Performance Wallstrasse 13 kam es, nachdem Bente Kahan den Berliner jüdischen Radiojournalisten David Dambitsch kennen gelernt hatte. Er war im Mai 2005 zu ihrem Konzert in der Deutschen Oper gekommen und erzählte ihr später, dass ein Zweig seiner Familie aus Breslau stamme. Als Dambitsch Bente Kahan ein Jahr später in Breslau besuchte, begaben die beiden sich auf die Suche, und sie fanden nicht nur den Grabstein von Felix Dambitsch auf dem jüdischen Friedhof in der früheren Lohestraße (Ślężna). David Dambitsch suchte auch das Breslauer Staatsarchiv auf und fand dort zahlreiche Unterlagen, mit deren Hilfe sich die letzten Lebensjahre seiner Großtante Loni rekonstruieren ließen, darunter ihre eigenhändig ausgefüllte Vermögenserklärung. Loni Dambitsch wurde 1886 als Leontine Meyer in Grünberg (Zielona Góra) geboren, heiratete später Felix Dambitsch und wurde nach dessen Tod von den Nazis aus ihrer Wohnung in der Moritzstraße (Lubuska) in das jüdische Ghetto um die Breslauer Wallstraße verfrachtet. Sie wurde als Näherin zur Zwangsarbeit in dem Breslauer Betrieb Max Steinmetz verpflichtet, der für das deutsche Heer produzierte. Im Februar 1943 wurde sie nach Theresienstadt deportiert, und von dort kam sie nach Auschwitz, wo sie im Alter von 58 Jahren von den Nazis ermordet wurde. Ihr Sohn Werner, in den dreißiger Jahren Mitglied des Jüdischen Kulturbundes, einer Selbsthilfeorganisation für vom Berufsverbot betroffene jüdische Künstler im nationalsozialistischen Deutschland, flüchtete 1938 noch rechtzeitig in die USA, wo er seinen Namen anglifizierte und Angehöriger der amerikanischen Armee wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer in West-Deutschland.

Ankündigungsplakat zur Multi-Media-Performance Wallstrasse 13

Wallstrasse 13 erzählt in einer szenischen Collage die Geschichte jüdischer Bürger im deutschen Breslau wie im polnischen Wrocław zwischen den Jahren 1930 und 1968. Die polnische Jüdin Barbara kehrt nach dem Ende des kommunistischen Regimes in ihr Elternhaus in der Wallstraße 13 zurück. Hier hatte sie ihre Kindheit verbracht, und von hier war sie zusammen mit ihrer Mutter nach den antisemitischen Repressionen der kommunistischen Machthaber und einer neuerlichen Pogromstimmung 1968 ins liberalere Ausland geflüchtet. Mit Hilfe von alten Fotografien, Briefen und Dokumenten begibt sie sich auf eine Erinnerungsreise in die Familiengeschichte, die auch das Schicksal einer zunächst unbekannten deutschen Jüdin umfasst, die vor dem Krieg im selben Haus gelebt hatte: Leontine Dambitsch. Eingebettet ist die Erzählung in Lieder und Songs des Jüdischen Kulturbundes Breslau (1935–1941) und des Jiddischen Theaters Niederschlesien aus der Nachkriegszeit sowie Schlager der verschiedenen Epochen. Das authentische Foto- und Dokumentarmaterial wird auf einer Leinwand präsentiert, vor der eine Schauspielerin in der Rolle der Barbara, eine Sängerin und das vierköpfige Musikerensemble (Klarinette, Saxofon, Klavier, Kontrabass und Schlagzeug) agieren. Gesungen werden die Lieder auf Deutsch, Jiddisch und Polnisch.

Im Jahr 1990 veröffentlichte die norwegische Journalistin Marianne Terjesen das Buch Die Reise in die Stadt, die es nicht gibt. Es inspirierte Bente Kahan zu ihrer Performance »Wallstrasse 13«.

Bente Kahan erzählt, dass sie sich zu der Performance, die sie auch als eine Art »Geschichtsstunde« bezeichnet, zum Teil von einem autobiographischen Bericht der norwegischen Journalistin Marianne Terjesen hat inspirieren lassen. Er erschien 1990 unter dem Titel Reisen til byen som ikke finnes (»Die Reise in die Stadt, die es nicht gibt«) im Osloer Verlag Gyldendal. Terjesen war im September 1989 nach Breslau gefahren, um sich hier auf die Suche nach den gekappten Spuren ihrer Familie zu begeben. Ihre Großmutter Anna Rading hatte im März 1939 zusammen mit ihrer 16jährigen Tochter Brigitte Breslau und Deutschland verlassen, um nie wieder zurückzukehren.

»Barbara ist natürlich eine fiktive Person. Aber indem ich sie als zehnjähriges Mädchen aus Polen fliehen ließ, das Jahrzehnte später in die Stadt ihrer Kindheit zurückkehrt, habe ich sie zu einer modernen Frau gemacht, die in gewisser Weise auch ich selbst sein könnte,«

sagt Bente Kahan.

»Barbaras Geschichte ist nicht autobiographisch oder wahr im engeren Sinne, aber darum ist sie nicht weniger echt. Ich habe eine Menge Material zur Stadtgeschichte und zum jüdischen Milieu hier in Breslau vor und nach 1945 gesammelt und habe all das mit mündlichen Erzählungen, Biographien und anderen Berichten verschränkt, so dass wallstrasse 13 wie ein Kaleidoskop deutsch-polnisch-jüdischen Lebens in Schlesien um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet werden kann. Es besteht aus vielen Bruchstücken und Scherben.«

Wallstrasse 13 endet retrospektiv gesehen mit dem Wegzug Barbaras und ihrer Mutter aus Breslau. Unklar bleibt, in welches Land die beiden flüchteten, nachdem Juden in Polen als »zionistische Spione« denunziert wurden und mit einer Fahrkarte ohne Rückfahrschein außer Landes getrieben wurden. Zum Ausdruck kommt aber, dass die Mutter sich nie in ihrem neuen Leben zurechtfinden konnte. Sie lernte nie die neue Sprache und wurde ein »Outsider«. Die Erinnerungen an die Zeit in der Breslauer Włodkowica wuchsen indes so mächtig in ihr, dass sie immer wieder in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden musste und Barbara ihre Jugendjahre bei einer Tante verbringen musste. Auch hier fließen Bezüge aus dem Erfahrungsbereich vieler jüdischer Emigranten nach 1933 aus Deutschland wie nach 1968 aus Polen in die Darstellung ein. Mit den Worten Bente Kahans kreist wallstrasse 13 um ein Bekenntnis Barbaras, das diametral dem entgegensteht, was man heute über die Lebenswirklichkeit polnischer Juden in den sechziger Jahren zu wissen glaubt:

»Barbara erkennt, dass sie, als sie in der Włodkowica wohnte, die glücklichste Zeit ihres Lebens verbrachte. Sie hatte Vater und Mutter, ging in eine jüdische Schule und lebte ein erfülltes jüdisches Leben. Damals gab es hier in Breslau ja ein ungemein reiches Angebot jüdischer Kultur mit eigenen Zeitungen, Theatern und Ausbildungsstätten. In der Nachkriegszeit lebten in Niederschlesien etwa 80.000 Juden. Das waren Menschen, die alles verloren hatten und aus den Lagern zurückkehrten oder die den Krieg in Russland überlebt hatten. Viele von ihnen ließen sich gerade in den leeren ehemaligen deutschen Gebieten nieder. Und dann, 1968, kam es wieder zu einer massiven antisemitischen Hetze, und von einem Tag auf den anderen wurde das alles kaputt gemacht.«

Heute ist die Situation für Juden in Breslau wie in Polen eine ganz andere. Zwar ist die polnische Gemeinde Breslaus mit ihren 300 Mitgliedern sehr klein und eher überaltert. Auch führt das Gemeindezentrum in der Włodkowica 9 eine eher stille Existenz im Verborgenen. Nicht einmal ein Schild an der Straßenfront der Gebäude weist darauf hin, dass sich im Innenhof des Grundstücks die ehemalige Synagoge Zum Weißen Storch befindet. Zwei ausgesprochen belebte Freiluft-Cafés in diesem Innenhof legen allerdings Zeugnis davon ab, dass es im heutigen Breslau keine Berührungsängste zwischen den jüdischen Bürgern der Stadt und anderen Mitgliedern der Gesellschaft gibt.

»Die jungen Leute und viele von denen, die sich früher in der Gemeinde engagiert haben, sind spätestens in den Westen gegangen, als Polen Mitglied der EU wurde,«

erzählt Bente Kahan. Die Schwierigkeiten heutiger Juden in Breslau ähneln deshalb eher denen von Juden in anderen kleinen bis mittleren Städten Europas. Abgesehen von London und Paris sind die meisten jüdischen Gemeinden in Europa dort, wo es keine direkte Diskriminierung gibt, einem natürlichen Assimilationsprozess unterworfen. Die Gemeinde in Breslau unterhält nach wie vor eine jüdische Schule und bietet ihren bedürftigen Mitgliedern jeden Mittag ein kostenloses Essen an. Dem jungen Rabbiner, den sie engagiert hat, ist es auch gelungen, wieder für einen gewissen Zulauf zu sorgen, und Bente Kahan ist überzeugt, dass der Aus- und Umbau der alten Synagoge Zum Weißen Storch zu einem Zentrum für Kultur und Erziehung nicht nur für die Stadt, die Studenten der Universität und die ausländischen Touristen, die nach Breslau kommen, von Vorteil ist, sondern auch für die jüdische Gemeinde selbst. Die Sichtbarmachung dessen, was einmal war, ist auch ein Vitalisierungsschub und Ansporn für die Zukunft. Der Erfolg ihrer Produktionen spricht dafür, dass man auf einem guten Weg ist. Die Performance wallstrasse 13, die in erster Linie als eine Jugendvorstellung mit zahlreichen Nachmittagsaufführungen konzipiert wurde, ist schon von knapp 4.000 Breslauer Schülern der Gymnasialstufe besucht und mit stehendem Applaus honoriert worden.

Auch in Oslo haben Bente Kahan und das Theater Dybbuk Wallstrasse 13 bereits mit drei Aufführungen im April 2008 gezeigt. Leider ist die Vorstellung im norwegischen Presserummel um die gleichzeitig eröffnete Osloer Oper aber so gut wie untergegangen. Für die Zukunft kann Bente Kahan sich vorstellen, dass die Produktion ähnlich wie stimmen aus theresienstadt als multimediale Präsentation im geplanten Museum der schlesischen Juden auf dem Monitor abrufbereit sein wird. Aber das zu entscheiden ist Sache des zukünftigen Museumsbetreibers. Ihre eigene Aufgabe ist es zunächst, den museumsgerechten Aus- und Umbau der alten Synagoge auf den Weg zu bringen. Eine CD und Auftritte in Deutschland wie bei früheren Programmen sind mit dem Musik-Theater wallstrasse 13 bislang nicht geplant, auch wenn das Material geradezu danach schreit, im deutschsprachigen Raum vorgestellt zu werden. Einzelne Lieder, so sagt sie, werden aber ganz sicher auf einer ihrer nächsten CDs vertreten sein.

Denn zunächst verfolgt Bente Kahan neben ihrer Tätigkeit als Koordinatorin ein anderes künstlerisches Projekt, das ihr ans Herz gewachsen ist: Mitte Juli 2008 hatte sie zusammen mit der Carolyn Dorfman Dance Company in New York Voraufführung von echoes, einer Tanzperformance, die sich auch auf ihre Lieder aus voices from theresienstadt stützt. Mit dieser Performance wird Bente Kahan als Sängerin im nächsten Jahr nicht nur in den USA auftreten. Für den März 2009 sind Gastspiele in Breslau geplant, und wenn alles nach Plan geht, auch in Warschau. Und insofern, als die zehn New Yorker Tänzer für diese Vorstellungen extra nach Europa reisen werden, wäre es ein Unding, wenn nicht auch Aufführungen in Deutschland, beispielsweise in Berlin oder Potsdam, zustande kommen würden. Carolyn Dorfman und Bente Kahan haben jedenfalls schon ihr Interesse bekundet, und zu wünschen wäre es, wenn sie mit ihrem Vorhaben Glück und Erfolg hätten. Ansonsten lohnt sich aber auch eine Reise nach Breslau, das es glücklicherweise noch gibt und wo Bente Kahan ihre Kunst einem begeisterten Publikum zur Vorführung bringt.

Veranstaltungen in der ehemaligen Synagoge Zum Weißen Storch im Herbst 2008

  • Donnerstag, 25.09.2008 | 18.00 Uhr | Abendvorstellung
    Stimmen aus Theresienstadt
  • Donnerstag, 25., und Freitag, 26.09.2008 | jeweils 12.00 Uhr | Schülervorstellung
    Stimmen aus Theresienstadt
  • Mittwoch, 22.10.2008 | Ausstellungseröffnung
    Das Jiddische Theater in Niederschlesien in den Jahren 1946–1968
    Die Ausstellung wird vom 22.10. bis zum 30.11.2008 im Breslauer Rathaus gezeigt.
  • Donnerstag, 23.10.2008 | 20.00 Uhr | Abendvorstellung
    Wallstraße 13
  • Donnerstag, 23., und Freitag, 24.10.2008 | jeweils 12.00 Uhr | Schülervorstellung
    Wallstraße 13
  • Mittwoch, 5.11.2008 | 12.00 Uhr | Schülervorstellung
    Sand between your Toes
    Aufführung des norwegischen Theaters Fusentast
  • Mittwoch, 5.11.2008 | 20.00 Uhr | Theater
    Monodrama der norwegischen Künstlerin Bente Børsum
  • Donnerstag, 6., und Freitag 7.11.2008 | jeweils 12.00 Uhr | Schülervorstellung
    Wallstraße 13
  • Sonnabend, 8.11.2008 | 20.00 Uhr | Theater
    Gastspiel des Theaters Ruth Kanner aus Israel
  • Sonntag, 9.11.2008 | 15.00–20.00 Uhr
    Vernissage, Gespräche, Filmvorführungen und andere Veranstaltungen für Breslauer Schüler
    Ein genauer Veranstaltungsplan wird noch erscheinen.

    Kontakt
    Fundacja Bente Kahan
    Grażyna Kania-Misiak und Zuzanna Ducka
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Raimund Wolfert (MA) studierte Skandinavistik, Linguistik und Bibliothekswissenschaft an den Universitäten in Bonn, Oslo und Berlin. In zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigte er sich u.a. mit Themen der deutsch-skandinavischen Kulturbeziehungen. Raimund Wolfert arbeitet als freier Dozent in Berlin. Anfang 2008 veröffentlichte das Deutsche Kulturforum auf diesen Internetseiten seinen Artikel Vom Leben »wahrer Freunde und Freundinnen« im Breslau der Zwischenkriegszeit über die Blütezeit der ersten deutschen Homosexuellenbewegung in der schlesischen Metropole.

Wer zu dem Thema mit dem Autor Kontakt aufnehmen möchte, kann dies gern über das Deutsche Kulturforum tun:
T. +49 (0)331 20098-0
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!?subject=Raimund Wolfert: Artikel und Interview über und mit Bente Kahan

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