Frau Staatsministerin,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
wir in Europa seien alle »Angehörige einer Familie«, hat der polnische Kulturminister Waldemar Dąbrowski kürzlich während der Kulturministerkonferenz in Warschau erklärt, mit dem Hinweis, dass Familienmitglieder aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft zusammengehören, auch wenn sie gelegentlich unterschiedliche Charaktere haben und verschiedene Meinungen vertreten.
Mir gefällt diese Metapher, weil sie treffend die Beziehungen schildert, die heute in der europäischen Wertegemeinschaft bestehen, und die engen Verbindungen zwischen den einzelnen Mitgliedern ebenso berücksichtigt wie die gegenseitigen Einflüsse und Anregungen, die aus unterschiedlichen Meinungen erwachsen können. Mir gefällt diese Metapher auch deshalb, weil sie auch im Kontext einer historischen Betrachtung aussagekräftig bleibt. Die Geburt Europas im Mittelalter, so lautet der Titel eines erst vor wenigen Wochen erschienenen Buches von Jacques Le Goff, einem der renommiertesten Historiker Europas, das die Entstehung dieser Familie analysiert.
Nur in diesem breiten geographischen und historischen Kontext kann auch über das Thema »Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa« gesprochen werden, ein Thema, das gerade in den Staaten, die am 1. Mai dieses Jahres der Europäischen Union beigetreten sind, von besonderer Relevanz und – leider – auch Virulenz ist. Relevant, weil sich das östliche Mitteleuropa in besonderer Weise durch die kulturelle Vielfalt seiner Regionen auszeichnet, eine Vielfalt, die als Markenzeichen des zweitkleinsten Kontinents unserer Erde bezeichnet werden kann. Virulent, weil Untaten und Verwerfungen der Geschichte bis in die Gegenwart fortwirken. Darum müssen wir uns dieser Geschichte immer neu stellen, die Vergangenheit aufarbeiten, indem wir sie realitätsnah rekonstruieren und uns mit ihr auseinandersetzen. Vor allem aber gilt es, die Geschichte im Blick, zukunftsorientiert zu denken.
In die Zukunft unserer europäischen Familie weist, meine ich, das Thema unseres heutigen Symposiums: »Gemeinsames Kulturerbe als Chance«, denn Europa bildet eine historisch gewachsene geistige Einheit. Der geographische Begriff erhält seinen Sinn erst auf Grund einer gemeinsamen europäischen, aus den gleichen Ursprüngen entstandenen Kultur, die sich in zahlreiche National- und Regionalkulturen ausdifferenziert hat. Auch die Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa kann nur dann angemessen erforscht und präsentiert werden, wenn dies im Kontext der Vergangenheit Alteuropas geschieht.
Die historischen Wissenschaften haben identische Strukturmerkmale speziell der Länder und Regionen im östlichen Mitteleuropa herausgearbeitet und geschichtliche und kulturelle Gemeinsamkeiten benannt. Historiker wie Benedykt Zientara oder Klaus Zernack haben eine spezifische Prägung durch die im Mittelalter überall erfolgte Christianisierung, durch eine einheitliche Rechtskultur, ein besonders ausgeprägtes Ständewesen und eine in gewisser Hinsicht föderale Staatskultur erkannt. Ein Kennzeichen gerade des östlichen Mitteleuropa ist es, dass viele Regionen konfessionell gemischt waren, von zwei oder mehr Ethnien geprägt wurden, so dass sich vielleicht deshalb in der Neuzeit gerade hier weniger absolutistische, sondern eher tolerante Regierungsformen etabliert haben.
Deutsche waren in der Vergangenheit im gesamten Raum zwischen Ostsee, Schwarzem Meer und Adria präsent. Seit dem Mittelalter finden wir in der Zips oder in Schlesien ebenso wie in Pommern und im Land der Prußen Siedler, die einen deutschen Dialekt verwenden. Manche Regionen wie etwa Oberschlesien blieben über die Jahrhunderte sprachlich gemischt, in Regionen wie in Siebenbürgen oder in der Gottschee blieben die Deutschen eine Minderheit unter einer oder mehreren anderen Ethnien, in wieder anderen, wie zum Beispiel in Niederschlesien, lebten bis 1945 fast nur noch Deutsche.
Wenn wir heute über die Geschichte und Kultur dieser Deutschen reden, so soll damit nicht suggeriert werden, dass es sich um eine homogene Gemeinschaft gehandelt habe. Denn eigentlich bildeten sie überhaupt keine Gruppe; sie gehörten vielmehr sämtlichen sozialen Schichten an, waren Bauern oder Bürger, Untertanen oder Herrscher, Hörige oder Adlige. Nach der Reformation unterschieden sie sich zudem durch ihre Konfession, waren Katholiken, Lutheraner oder Kalvinisten, einige wurden in Russland sogar Orthodoxe. Hinzu kommen die meist jiddisch-, teils deutschsprachigen Juden. All diese Unterschiede bildeten im feudalen und konfessionellen Zeitalter des Mittelalters und der Neuzeit fast unüberwindbare soziale Schranken.
Jahrhunderte des friedlichen Austauschs der Ethnien haben das östliche Mitteleuropa geprägt; überhaupt bewegten sich die Beziehungen zwischen den Staaten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in den »normalen« Bahnen bilateraler Beziehungen und auch machtpolitischer, kriegerischer Konfrontation – auch Kriege gehören leider zum »Normalen« in der Geschichte Europas. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildete sich das nationale Bewusstsein im modernen Sinn heraus und es entstand allmählich ein Antagonismus zwischen den Ethnien und den Staaten, der in den Nationalismus des 20. Jahrhunderts mit seiner pervertierten Übersteigerung in der nationalsozialistischen Ideologie mündete.
Niemals wurde das gemeinsame Kulturerbe im östlichen Europa so geschändet wie im 20. Jahrhundert, durch den von Hitlerdeutschland verbrecherisch begonnenen und geführten Zweiten Weltkrieg mit einer bis dahin nicht gekannten Vernichtungsstrategie gegen Menschen und Kulturgüter. Flucht und Vertreibung von vielen Millionen Menschen aus den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und den Siedlungsgebieten waren eines der traurigen Kapitel in einer Kette von Katastrophen.
Meine Damen und Herren, man sollte meinen, dass einer von allen Seiten getragenen Betrachtung der Vergangenheit, der Geschichte der Deutschen wie der anderen Nationen im östlichen Europa heute nichts mehr im Wege steht. Dies ist richtig und falsch zugleich, denn der allenthalben vorhandene gute Wille ist zwar notwendig, jedoch allein nicht hinreichend für eine grenzüberschreitende Aufarbeitung der Geschichte – und Patentrezepte dafür gibt es leider noch nicht.
Europa befindet sich noch auf der Suche nach einer gemeinsamen Erinnerungskultur. Diese Suche prägt heute den gesellschaftlichen, politischen und vor allem wissenschaftlichen Diskurs in Deutschland und seinen östlichen Nachbarländern in nicht geringem Maße. Die uns täglich auch in der Presse begleitende Diskussion über Mahnmale – nationale Mahnmale oder Mahnmale für einzelne Opfergruppen – ist ein Symptom dafür.
Bislang erinnerte sich jedes Land auf seine Weise an die eigene Geschichte, bestimmte und definierte seine jeweiligen nationalen Erinnerungsorte. Dagegen ist natürlich nichts einzuwenden. Allerdings definierte bislang jedes Land auch selbst, auf welche Weise es sich an die Geschichte seiner Nachbarn erinnerte, so dass die Länder Europas wechselseitig ganz unterschiedliche, nicht kompatible Geschichtsbilder entwickelten. Dies konnte nur so lange gutgehen, wie diese Nachbarn nicht miteinander über Geschichte diskutierten, sondern sich ihre Selbst- und Fremdbilder nur gegenseitig vorhielten.
Es geht heute nicht darum, europaweit normierte Geschichtsbilder zu entwickeln. Demokratische Gesellschaften müssen nicht über ein einheitliches und schon gar nicht über ein verbindliches Bild der Vergangenheit verfügen, und man sollte auch nicht versuchen, ein solches herzustellen. Es geht vielmehr darum, unterschiedliche Geschichtsbilder zu vergleichen und wechselseitig zu ergänzen.
So stellt sich die Frage, in welchen Bahnen eine bi- bzw. multilaterale kollektive Erinnerung in Europa verlaufen kann. Wie kann vor dem Hintergrund der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts überhaupt eine von allen akzeptierte Erzählsprache gefunden werden, in welcher sich die Europäer gegenseitig ihre Geschichten berichten? Welches sind die gemeinsamen europäischen Erinnerungsorte? Gibt es diese überhaupt?
Antworten können nur in der Diskussion und im Austausch mit den Nachbarn gefunden werden. Voraussetzungen für dieses Gespräch sind ein aufrichtiges Geschichts- und Kulturverständnis, die Bereitschaft, ruhig zuzuhören, eigene, vielleicht liebgewonnene Geschichtsbilder kritisch zu prüfen, dabei Vereinfachungen und pauschale Wertungen zu vermeiden.
Hinterfragen wir uns doch zunächst einmal selbst! Wie sinnvoll und weiterführend sind die nicht seltenen, eigentlich gut gemeinten Versuche, bestimmten Regionen im östlichen Europa eine unverbindliche, jedenfalls irgendwie multikulturell-europäische Einheitskultur zuzuschreiben?
Aufarbeitung von Geschichte und Kultur im europäischen Geist bedeutet meiner Meinung nach sicher nicht, die gesamte Vergangenheit nur aus der Perspektive der europäischen Einheit zu betrachten. Man sollte sich davor hüten, aus political correctness neue Stereotype und Tabus zu produzieren – es gehört zu den schmerzlichen, einen Historiker aber auch bestärkenden Erfahrungen unserer Gegenwart, dass sich Geschichte nicht verdrängen lässt. Natürlich gibt es – im positiven wie im negativen Sinne – auch die nationalen Kontinuitäten in der Kultur des östlichen Mitteleuropa, deren Ausprägungen im Laufe der Geschichte ab- bzw. zunehmen und die schließlich im 19. und 20. Jahrhundert in Konkurrenz und Gegensatz zueinander geraten.
Meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr wurde an den 50. Jahrestag der Verabschiedung des Bundesvertriebenengesetzes erinnert. In dessen 96. Paragraphen werden Bund und Länder verpflichtet, die Kultur und Geschichte derjenigen Gebiete aufzuarbeiten, in welchen vor 1945 Deutsche gelebt haben. Konkret werden Archive, Bibliotheken und Museen, Einrichtungen des Kunstschaffens und der Ausbildung sowie Wissenschaft und Forschung als zu fördernde Bereiche aufgeführt. Dabei wird der Auftrag erteilt, die Kultur und Geschichte dieser Gebiete im Bewusstsein der Deutschen und des Auslandes zu erhalten. Dieser Paragraph bildet bis heute die Grundlage der gesamten einschlägigen Kulturförderung der Bundesregierung ebenso wie der einzelnen Bundesländer.
Natürlich müssen das Gesetz und dessen Formulierung vor dem Hintergrund der damaligen Situation gesehen werden, in der die Integration der Vertriebenen, Flüchtlinge und Aussiedler im Mittelpunkt stand. Jedoch war es insofern zukunftsorientiert verfasst, als es sich auf die sog. »Vertreibungsgebiete« bezieht. Das ist ein in der politischen Situation der Nachkriegszeit geprägter, beschreibender und zugleich retrospektiver Begriff, der sich regional auf jene Gebiete bezieht, aus denen während und nach dem Zweiten Weltkrieg Deutsche umgesiedelt, zur Flucht gezwungen und vertrieben wurden oder später ausgesiedelt sind, beinhaltet aber keine weitere Eingrenzung.
Bezugspunkt bilden also die Gebiete, in denen Deutsche lebten oder leben, Gebiete, die historisch mehreren Ethnien, Nationen und Staaten zuzuordnen sind, die über eine doppelte oder gar mehrfache kulturelle Identität verfügen, wie die historischen Wissenschaften herausgearbeitet haben. Somit werden nicht nur die Kulturleistungen der Deutschen, sondern darüber hinaus die zeitlich übergreifende Kultur historischer Regionen in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Ausdrücklich wird in dem Gesetz auch der gegenwartsbezogene Auftrag betont: Das »Kulturgut« dieser Gebiete müsse im Bewusstsein des In- und Auslandes erhalten werden, Archive, Museen und Bibliotheken gelte es zu sichern, zu ergänzen und auszuwerten – dieser Auftrag wird heute in enger Abstimmung und Kooperation mit den östlichen Nachbarstaaten umgesetzt.
Da keinerlei Vorgaben bestehen, auf welche Weise oder gar mit welchem Ergebnis gefördert werden soll, war und ist es möglich, die Kulturförderung laufend zu modernisieren. Heute sind Kulturwissenschaftler und Museumsfachleute aufgerufen, ohne Vorgaben zu forschen und den historischen Befund mit all seinen positiven aber auch den negativen Aspekten zu akzeptieren und zu präsentieren, gleichgültig welche nationalen oder ethnischen Gewichtungen jeweils überwiegen.
Die Förderung des Bundes und der Länder auf Grund des genannten Gesetzes wurde, der allgemeinen politischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung entsprechend, immer wieder modifiziert:
In den fünfziger und sechziger Jahren stand die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft im Vordergrund. Das Erlebte war frisch im Gedächtnis und noch gänzlich unverarbeitet, die Menschen waren materiell und kulturell entwurzelt, Trauer und sogar Hass waren vorherrschend. So diente die Förderung auch der Bewahrung der kulturellen Identität der Vertriebenen ebenso wie der Selbstvergewisserung und dem mentalen Zusammenhalt. Sie diente auch der Fortführung historisch-landeskundlicher Forschungen an ehemals deutschen Universitäten wie jener im ostpreußischen Königsberg oder im schlesischen Breslau; deren Lehrkräften boten westdeutsche Universitäten, aber auch der 1950 gegründete Herder-Forschungsrat sowie das in Marburg seither bestehende Herder-Institut neue Wirkungsstätten. Das Nordostdeutsche Kulturwerk in Lüneburg, der Adalbert-Stifter-Verein und das Collegium Carolinum sowie das Südostdeutsche Kulturwerk in München erfüllten, finanziert von Bund und Ländern, wichtige integrative Aufgaben. Wer heute über die sog. »Vertriebenen-Kulturarbeit« der 1950er und 1960er Jahre urteilt, muss die damalige politische und wirtschaftliche Situation ebenso berücksichtigen wie die gewaltige Dimension der Aufgabe, Millionen von Menschen zu integrieren. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass diese Integration so erfolgreich verlaufen ist, und es gehört zu den großen Leistungen der jungen Bundesrepublik und vor allem der Vertriebenen selbst, dass es nicht zu einer Situation der politischen Instabilität gekommen ist. Die Förderung von Bund und Ländern hat hieran gewiss einen gewichtigen Anteil.
Meine Damen und Herren,
eine über zwei oder drei Jahrzehnte zurückblickende Betrachtung der Ergebnisse der öffentlichen Förderung, der wissenschaftlichen Publikationen, der kulturellen Breitenarbeit und der Präsentationen der Museen zeigt, dass allmählich immer stärker Aspekte der europäischen Beziehungen und des Austausches in den Mittelpunkt des Interesses getreten sind. Ebenso wie in der Politik hat in der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ostmitteleuropa innerhalb der letzten Jahrzehnte ein Paradigmenwechsel stattgefunden, der sich als Übergang vom Volkstumsparadigma zum Beziehungsparadigma bezeichnen ließe. Bei ersterem hatte die alte Volkstumslehre der Zwischenkriegszeit noch nachgewirkt, die sich wissenschaftlich in der sog. »Ostforschung« manifestierte, welche sich einseitig auf die deutschen Kulturleistungen im östlichen Europa konzentrierte, während die historischen Leistungen der anderen Nationen eher gering geschätzt wurden.
Die Ostpolitik der endsechziger und siebziger Jahre hat dem Beziehungsparadigma bei der Beschäftigung mit den Gebieten Ostmittel- und Südosteuropas zum Durchbruch verholfen. Bezugspunkte dabei sind die historisch bedingten und historisch gewachsenen interethnischen, interkulturellen und zwischenstaatlichen Beziehungen. Das hat sich nicht zuletzt in der Novellierung des Bundesvertriebenengesetzes im Jahre 1971 niedergeschlagen.
1982 wurde vom Bundesministerium des Innern, zu dessen Ressort damals die thematisch einschlägige Förderung gehörte, eine »Grundsatzkonzeption zur Weiterführung der ostdeutschen Kulturarbeit« herausgegeben. Die gesellschaftliche Integration der Vertriebenen konnte als weitgehend abgeschlossen gelten und außer der zahlenmäßig schwächer werdenden sog. Erlebnisgeneration sollten neue Adressaten angesprochen werden. Deshalb wurde nun die Notwendigkeit einer strukturellen Modernisierung betont, auf den gesamteuropäischen Aspekt verwiesen sowie darauf dass für den Kulturaustausch neue Formen gefunden werden müssten.
Es setzte nun eine stärkere Ausrichtung der Förderung an wissenschaftlichen Standards ein. Diese bezog sich zuerst auf das Herder-Institut und das Collegium Carolinum, wirkte sich dann auf die Kulturwerke in Lüneburg und München aus und fand eine Vertiefung in der Einrichtung einschlägig arbeitender Projektbereiche an Universitäten. Genannt seien das 1982 gegründete und bis heute geförderte Gerhard-Möbus-Institut für Schlesienforschung an der Universität Würzburg oder der 1985 eingerichtete Projektbereich schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart; 1986 wurden die Immanuel-Kant-Stipendien zur Förderung des akademischen Nachwuchses ins Leben gerufen; 1989 wurde das Bundesinstitut in Oldenburg als unabhängige wissenschaftliche Institution mit einem konkreten Beratungsauftrag gegenüber der Bundesregierung gegründet.
Ende der 1980er und in den 1990er Jahren wurde ein weiterer Schritt getan durch die Planung und Gründung sogenannter Landesmuseen – mit regionaler Ausrichtung etwa auf West- und Ostpreußen, Siebenbürgen oder Schlesien. Die jüngsten Einrichtungen sind das 2001 in Greifswald eröffnete Pommersche Landesmuseum sowie das Schlesische Museum, das nach jahrzehntelanger Planung seit 2001 in Görlitz seinen Sitz hat und dessen endgültige Eröffnung im nächsten Jahr sein soll.
Die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland und in seinen östlichen Nachbarländern seit 1989/90 mit dem Ende des Kalten Krieges, den Nachbarschafts- und Freundschaftsverträgen mit Polen, Tschechien, Ungarn, der Slowakei und Russland haben die Möglichkeiten für eine gemeinsame Aufarbeitung von Kultur und Geschichte binnen eines Jahrzehnts in einem kurz vorher noch unvorstellbaren Maße erweitert und zu einer eigenen Aufgabe werden lassen.
Die Mitwirkung polnischer, tschechischer, ungarischer oder rumänischer Kollegen an Fachtagungen, Ausstellungen und Veranstaltungen in Deutschland, die gemeinsame Herausgabe von Publikationen wurden zur Selbstverständlichkeit. Die Kooperation von Personen und Institutionen über alle Grenzen hinweg hat sich in ungeahnter Weise intensiviert.
Noch etwas gilt es festzuhalten: Die Beschäftigung mit den hier wichtigen Gebieten in ihren gesamten zeitlichen und thematischen Bezügen ist in den östlichen Nachbarländern vielfach intensiver geworden als in Deutschland selbst. In Polen beispielsweise bestehen wissenschaftliche Institutionen wie Vereinigungen der Breitenarbeit unterschiedlichster Art, die sich mit Geschichte und Landeskunde Ober- und Niederschlesiens, Pommerns oder Preußens befassen. Von einer »Tabuisierung« des Beitrags der Deutschen, kann längst nicht mehr die Rede sein. Vielmehr werden hier zunehmend gerade die Themen aufgegriffen, deren Behandlung früher politisch schwierig war. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass ein grenzüberschreitender Diskurs der Partner auf beiden Seiten bedarf, dass schon allein aus diesem Grund der wissenschaftliche Nachwuchs bei uns gefördert werden muss.
Diese völlig veränderten politischen, fachlichen und mentalen Bedingungen in Deutschland und im östlichen Mitteleuropa machten eine konzeptionelle Anpassung der Kulturförderung des Bundes unausweichlich.
Im Jahr 2000 legte der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, in dessen Ressort die einschlägige Kulturförderung 1998 übergegangen war, eine neue »Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa« vor. Diese wurde vom Bundeskabinett verabschiedet und bildet seitdem Grundlage der Förderung des Bundes.
Eine längerfristige Betrachtung verdeutlicht, dass die Neukonzeption 2000 keinen Bruch darstellt. Vielmehr werden strukturelle und konzeptionelle Veränderungen, deren Notwendigkeit zum Teil längst formuliert wurden, nunmehr konsequent umgesetzt. Die Neukonzeption ist primär auf die Zukunft ausgerichtet und trägt den veränderten und sich weiter verändernden Verhältnissen in Deutschland und in Europa Rechnung. Lassen Sie mich einige Merkmale der Neukonzeption hervorheben:
Die Aufarbeitung der deutschen Kulturtraditionen im östlichen Europa wird als wesentlicher Bestandteil des allgemeinen Kulturaustauschs mit den östlichen Nachbarn verstanden. Die Thematik soll stärker als bisher in das bestehende Netzwerk der bi- und multilateralen Kooperation integriert und in besonderer Weise im Geist der Verständigung und Aussöhnung bearbeitet werden. Wissenschaftlicher und kultureller Dialog mit den Nachbarn, grenzübergreifende Kooperationsprojekte, mithin die internationale Vernetzung bilden deutliche Schwerpunkte.
Die Neukonzeption unterstützt gezielt eine noch stärkere Professionalisierung gerade der Museums-, Forschungs- und Breitenarbeit, um möglichst viele Menschen in der gesamten Gesellschaft zu erreichen. Voraussetzung für professionelles Arbeiten ist Unabhängigkeit und Freiheit von Vorgaben, wie sie für die universitäre Forschung und Lehre auch gesetzlich verankert ist sowie die Vermittlung der Ergebnisse mit modernen Methoden und Medien an die Öffentlichkeit.
Als konkrete organisatorische Veränderungen wurde die Förderung nach einem pragmatischen Regionalprinzip neu strukturiert, um inhaltliche und geographische Überschneidungen vermeiden und Schwerpunkte bilden zu können. Die Förderung wurde verstärkt auf Interdisziplinarität ausgerichtet, wobei die Projektförderung an Hochschulen besonderes akzentuiert wurde.
Bestehende Museen wurden ausgebaut und dadurch gestärkt, dass an jedem Museum ein für die jeweilige Region zuständiger Kulturreferent eingestellt wurde. Dadurch wurde die Breitenarbeit eng mit der Museumsarbeit verknüpft und können Synergieeffekte genutzt werden. Auch hierbei wurde eine engere Kooperation mit den Trägern der allgemeinen Kulturszene in Deutschland und seinen Nachbarstaaten angestrebt.
Viele teils in jahrzehntelanger Arbeit bewährte Einrichtungen wurden und werden weiterhin gefördert. Mehrere Institutionen wurden umstrukturiert und ihre Trägerschaften neu geordnet. Aus dem Nordostdeutschen und dem Südostdeutschen Kulturwerk haben sich angesehene wissenschaftliche Institutionen entwickelt. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa in Potsdam wurde als regional übergreifende Einrichtung der Breitenarbeit neu ins Leben gerufen. Im Gegenzug wurde die Förderung anderer Institutionen beendet.
Die Präsentation wichtiger Einrichtungen im Foyer verdeutlicht, dass es in Deutschland zu allen hier einschlägigen Regionen veritable Einrichtungen gibt, die untereinander ebenso wie europaweit vernetzt sind.
Gerade aktuelle politische Turbulenzen zeigen, wie wichtig die Bundesförderung und die internationalen Kooperationen »unserer« Einrichtungen sind: Kommende Woche findet hier in Berlin die Tagung des Arbeitskreises deutscher und polnischer Kunsthistoriker statt, die vom Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Humboldt-Universität und dem Oldenburger Bundesinstitut veranstaltet wird und sich ebenfalls mit einem Thema des »Gemeinsamen Kulturerbes« befasst. Dass Sie, Frau Staatsministerin, zusammen mit ihrem polnischen Amtskollegen Herrn Minister Waldemar D¹browski gemeinsam die Schirmherrschaft übernommen haben, ist ein wichtiges in die Zukunft weisendes Zeichen für unsere Arbeit.
Zu den bereits von der Bundesregierung initiierten thematisch einschlägigen Stiftungsprofessuren an den Universitäten in Düsseldorf, Heidelberg, Erfurt, Greifswald, Leipzig und Stuttgart wurden weitere Stiftungslehrstühle in den östlichen Nachbarländern geschaffen, die für eine neue Dimension der grenzübergreifenden Arbeit stehen. 2003 konnte in Olmütz in Tschechien ein Stiftungslehrstuhl für die deutsche Literatur der böhmischen Länder eingerichtet werden, außerdem 2004 eine thematisch vergleichbare Professur an der Universität Klausenburg in Rumänien.
Ein wichtiger Bereich ist auch die Denkmalpflege. Gerade hier ist die Kooperation von Einrichtungen vor Ort und von deutschen Institutionen ermutigend. Die im Jahr 2000 abgeschlossene Sicherung und Wiederherstellung des Königsberger Doms war eines der ersten und zugleich umfangreichsten denkmalpflegerischen Projekte, die die Bundesregierung im östlichen Europa unterstützte. Unter Mitwirkung des Bundes wurde auch die Friedenskirche im schlesischen Jauer, einer der größten sakralen Fachwerkbauten Europas, restauriert; mit ihrer Schwesterkirche in Schweidnitz wurde sie 2001 von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
Im vergangenen Jahrzehnt konnten etwa 150 derartige internationale Kooperationen unterstützt werden. Gerade diese Initiativen stärken das Bewusstsein für die Bedeutung des Kulturerbes, das in unseren Nachbarländern zunehmend als ein Teil der regionalen Identität akzeptiert und gepflegt wird.
Meine Damen und Herren,
es steht in der Verantwortung von uns allen, dass das in einem Begegnungsraum vieler Nationen gelegene Kulturerbe auch künftig wirksam bleiben kann. Eine Abkehr von dieser Thematik hieße, die Erinnerung an Kulturlandschaften in Frage zu stellen, die, wie nur wenige andere, gemeinsames europäisches Kulturgut und gemeinsame europäische Vergangenheit repräsentieren.
Es erscheint dringend geboten, die zukunftsweisende Chance einer kooperativen Aufarbeitung der vielgestaltigen nationalen wie übernationalen Kultur und Geschichte im östlichen Europa auch weiterhin beherzt zu ergreifen und verstärkt zu nutzen. Jacques Le Goff hat dies treffend ausgedrückt, so möchte ich ihn abschließend zitieren: »Auf dieses Erbe, das [...] Europa befähigt hat, gerade wegen seiner Einheit und Vielfalt einen solchen Reichtum an Kulturgut, eine solch außergewöhnliche Kreativität zu entfalten, muss sich die Zukunft stützen«.
Gemeinsames Kulturerbe als Chance
Die Deutschen und ihre Nachbarn im östlichen Europa