Für die multikulturellen und multiethnischen Regionen in Polen bedeuteten die Jahre 1989/90 einen Umbruch von fundamentaler Bedeutung. Welchen Nutzen haben die Menschen in diesen Gebieten mit ihrer komplizierten Mehrfachidentität daraus gezogen? Mit welchen Herausforderungen sind sie konfrontiert worden? Wie wirken sich die Veränderungen auf die politische Kultur Polens und auf sein Verhältnis zu den benachbarten Nationen aus?
Der russische Dichter Fjodor Tjutschew hat einmal gesagt: »Glücklich, wer die Welt im Umbruch erlebt hat. Die Götter haben ihn in ihr Haus eingeladen, damit er ihr Mahl mit ihnen teile«. Für die multikulturellen und multiethnischen Regionen in Polen bedeuteten die Jahre 1989/90 einen Umbruch von fundamentaler Bedeutung. Ob die Menschen in diesen Gebieten mit ihrer komplizierten Mehrfachidentität heute wohl den Eindruck des Dichters teilen, dass ihnen beschieden war, mit Göttern zu feiern? Welchen Nutzen haben sie daraus gezogen? Mit welchen Herausforderungen sind sie konfrontiert worden? Wie wirken sich die Veränderungen auf die politische Kultur Polens und auf sein Verhältnis zu den benachbarten Nationen aus?
Der Charakter und die Reichweite des Umbruchs von den achtziger auf die neunziger Jahre lassen sich erst heute in vollem Umfang einschätzen – heute, da sich die Menschen bewusst werden, welchen Berg von Lasten die Dritte Republik auf dem Gebiet der Politik gegenüber dem sogenannten Fremden Kulturerbe von der Polnischen Volksrepublik geerbt hat. Das waren höchst destruktive Lasten, die von den Institutionen bis hin zu den Vorstellungen und dem Geist reichten. Die amtliche Politik und die Einstellung der Menschen zu den multikulturellen Regionen ergaben sich vor allem aus den Grenzveränderungen und den Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die antideutsche und antirussische Tradition, die während der Teilungen Polens über mehrere Generationen angewachsen war, vor allem aber der Verlust der polnischen Ostgebiete und der Gebietsgewinn im Westen, stellten für die vom Trauma des Krieges gezeichneten Polen eine enorme Herausforderung dar.
Die Situation nach 1945 stand unter einem besonderen Stern. In den Augen vieler Deutscher galten als Sieger die Russen und als Opfer die Juden; für die Polen blieb nur die Rolle der Räuber der deutschen Ostgebiete. In Polen wiederum dominierte als Reaktion auf die deutsche Politik der Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze und auf das vernehmlich eingeforderte Recht der deutschen Opfer der Zwangsaussiedlungen auf Rückkehr in ihre »alte Heimat« eine Neigung, bei den Menschen, die nun in den neuen Westgebieten angesiedelt wurden, Emotionen zu wecken und ihnen einzureden, sie fänden dort ihr Zuhause. Kann man sich danach darüber wundern, dass die Menschen, die unter der hitlerschen Besatzung und der sowjetischen Unfreiheit gelitten und zudem ihre Heimat im Osten verloren hatten, gern jeden Gedanken daran zurückwiesen, dass ihnen die neue Heimat fremd war, und sich gern dem Mythos von dem »seit ewigen Zeiten polnischen Charakter« dieser Gebiete hingaben? Sie suchten wohl auf den ihnen unbekannten Gebieten eben deswegen nach Spuren des Polentums, weil ihnen das ein Gefühl des Zuhauses und der Sicherheit gab.
Dieselben Gebiete bedeuteten den beiden Seiten nicht dasselbe. Für die Deutschen waren die verlorenen Ostgebiete ein Element einer verlorenen Geschichte; für die Polen waren es gewonnene Gebiete, ein Symbol der nationalen Hoffnung. Die Opfer der Zwangsaussiedlungen waren und blieben für die Polen »Aussiedler«; für die Deutschen waren sie »Vertriebene«. Auf beiden Seiten von Oder und Neiße war der Grundsatz verbindlich, die Geschichte dieser Gebiete nur einseitig darzustellen: entweder germano- oder polonozentrisch. Durch die dramatischen Bevölkerungsverschiebungen von Polen und Deutschen wurden Gruppen von Menschen aus dem von ihnen geschaffenen kulturellen Heimatmilieu herausgerissen und dieses von einem anderen Staat übernommen und mit neuen Bewohnern besiedelt. Jahrhundertelang waren diese Gebiete mit einer gemeinsamen Geschichte ideologisch und politisch instrumentalisiert worden: zuerst im Zeichen einer deutschen kulturellen Mission, dann mit der Theorie vom deutschen Volks- und Kulturboden und schließlich als Erbe ewigen Slawentums. Als Erbe des Kalten Krieges übernahmen wir ein verzerrtes Geschichtsbild dieser Gebiete, das die neuen wie die alten Bewohner dort der echten regionalen Geschichte ihrer Heimat beraubte. Die Polen übertrugen ihre Verletztheit auf die Gegenstände, die sie vorfanden; sie waren davon überzeugt, dass sie historisch und moralisch im Recht waren. Das engstirnige nationalistische Herangehen an das Problem, die Streitigkeiten der Nationen und Klassen führten dazu, dass die Anschauungen ins Extreme ausschlugen, und die Nationalität der Forscher setzte sich nicht selten über die historische Wahrheit hinweg. Archäologie und Architektur dienten den Polen wie den Deutschen als Waffen der Propaganda.
Der demokratische Umbruch in Mittelosteuropa und der Fall der Berliner Mauer brachten das ganze Elend ans Licht: die Verführbarkeit und Kurzsichtigkeit bei der nationalen Betrachtung des kulturellen Erbes. Sie machten deutlich, wie sehr eine einseitige Pflege des eigenen Geschichtsbildes und die Betonung bestimmter nationaler und kultureller Symbole zu einem Realitätsverlust führen (bei einigen Vertretern des Bundes der Vertriebenen) und den Weg zum Dialog blockieren (bei den Exponenten nationalistischer Gruppen in Polen). Die Tatsache, dass sowohl in der Geschichtsschreibung als auch im Bild der Öffentlichkeit beider Länder eine isolationistische und antagonistische, jeweils gegen den anderen gerichtete Betrachtungsweise der Geschichte dominierte, wohingegen die gegenseitige Durchdringung und Teilhabe der Kulturen und des europäischen Denkens so gut wie nie Gegenstand beiderseitigen Interesses waren, legte sich wie ein Schatten über die heutige Realität.
Zugleich aber leiteten die Demokratisierung und Pluralisierung, die zur Wende von 1989/90 führten, sowie die Schaffung der Grundlagen eines Rechtsstaates und staatsbürgerlicher Gesinnung tiefreichende und vielfältige Veränderungen ein. Diese eröffneten eine Aussicht auf:
- die Entdeckung, dass die Tradition sehr unterschiedliche Elemente vereint und als ein Element der Gestaltung einer aufgeschlossenen Identität zu verstehen ist;
- die Verwerfung des Dogmas, dass allein eine schematisch national ausgerichtete Interpretation der Geschichte der Masuren, Kaschubiens, Schlesiens und Pommerns der richtigen Wertordnung entspreche;
- die Suche nach einem sowohl lokal als auch allgemein gültigen Sinn für die Begegnung von Menschen im grenznahen Gebiet, die wieder als Nachbarn betrachtet werden können;
- die Wiederentdeckung des Wertes individueller, privater und familiärer Güter nach langen Jahren der aufgezwungenen Kollektivierung im Zusammenhang mit der Universalität und dem europäischen Charakter der umstrittenen Gebiete – dies war eine wichtige Lektion über moralische Teilhabe an der Geschichte der Peripherie, die zu einem bedeutenden Zentrum und gleichzeitig zu einem Experimentierfeld für ein Denken wurde, das für Austausch und Integration aufgeschlossen ist;
- die Erkenntnis des Wertes, den ein aufgeschlossener, auf Europa ausgerichteter Regionalismus darstellt;
- die Umkehr der Menschen und der gesellschaftlichen Gruppen zu ihren Wurzeln;
- eine grundsätzliche Neubewertung der Lebensbedingungen im östlichen und im westlichen Grenzbereich; die Erkenntnis, dass man durchaus eine vielfältige kulturelle Identität der Regionen institutionell, materiell und geistig pflegen sollte;
- die Aufgabe der polonozentrischen Betrachtungsweise der West- und Nordgebiete und den Versuch einiger Kreise, mit den früheren Bewohnern der Gebiete eine gemeinsame Sprache zu finden mit dem Ziel einer europäischen Deutung des multiethnischen Kulturerbes; das schließt die Bereitschaft ein, sich das deutsche Kultur- und Geisteserbe dieser Gebiete emotional und intellektuell anzueignen.
Was bedeuten diese Chancen für das Alltagsleben der Menschen, der sozialen Gruppen und des Staates? In welchem Maße sind sie beachtlich, akzeptiert und der Realität angepasst? Der begrenzte Rahmen meines Referats verlangt von mir eine gewisse Selbstbeschränkung, die mir nicht erlaubt, den ganzen Reichtum der Initiativen und Bemühungen aller Institutionen und Einzelpersonen aufzuzeigen. Bei aller Wertschätzung für die Bemühungen des Staates, der in internationalen Verträgen (zum Beispiel im Grenzvertrag mit Deutschland von 1990 und in dem Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit von 1991) die deutsche Minderheit wie auch die anderen ethnischen und religiösen Minderheiten anerkannt hat und ihr alle Rechte und Privilegien zugesteht, die das europäische Recht schützt, bleibt festzuhalten, dass die eigentlichen Helden der fundamentalen Veränderungen wenig bekannte geistige Giganten sind: Enthusiasten, Angehörige der lokalen Intelligenz, Historiker und Schriftsteller, die sich die Lebensaufgabe gestellt haben, den hinterlassenen Kulturgütern und der ganzen Kulrurlandschaft ihren europäischen Glanz zurückzugeben.
Dutzende von Publizisten und Wissenschaftlern haben ohne große finanzielle Unterstützung in Allenstein, Sejny, in Schlesien, dem Ermland und in Masuren, in Stettin, Danzig, Oppeln, Breslau und Posen große Schätze in Form von alten Kulturdenkmälern entdeckt und bei den Bewohnern ein Potential guten Willens freigesetzt, nachdem dies in einem Umfeld der Freiheit und der Toleranz möglich geworden war. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und Institutionen zur Bestimmung der Art und der Zielrichtung der Pflege des multikulturellen Erbes wurden geschaffen. Nach den ersten freien Parlamentswahlen wurden ein Sejmausschuss für Fragen der nationalen und ethnischen Minderheiten und ein Büro für Minderheitenfragen biem Ministerium für die Kultur eingerichtet. Die Verfassung sowie bilaterale Verträge mit den Nachbarstaaten garantieren eine freie Pflege multiethnischer und multinationaler Traditionen, Kulturen und Sprachen. Polen wird damit allen internationalen Standards gerecht. Die Verordnung des Ministers für nationale Erziehung vom 24. März 1992 regelt die Organisation »der Bildung, die die Erhaltung der nationalen, ethnischen und sprachlichen Identität der den Minderheiten zugehörigen Schüler ermöglicht«. Im deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 ist die Rede von »der jahrhundertelangen gegenseitigen Bereicherung der Kulturen beider Völker«. Die Präambel des Vertrages über kulturelle Zusammenarbeit mit Deutschland vom 14. Juli 1997 beruft sich auf die gegenseitige Durchdringung und Bereicherung der Kulturen in einer jahrhundertelangen Vergangenheit. Unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft und unter dem Einfluss globaler Faktoren erlangten neue Instrumente für die differenzierte Deutung des kulturellen Erbes große Bedeutung.
Die Multikulturaliät als Grundlage der Identität der Bürger und der gesellschaftlichen Gruppen ist schon an sich ein Wert, erlangt aber ihre wahre Bestimmung erst, wenn sie als solche anerkannt und behandelt wird. Wenn diese Gemeinsamkeit der Bewohnung des Raumes in einem kulturellen Sinne eine neue Qualität bewirkt, so kann diese die Basis für eine dauerhafte Symbiose der vielen einzelnen zum Wohle der Gesamtheit darstellen. In einer Demokratie, die sich von der Hinterlassenschaft des Kommunismus befreit, kann die Gesellschaft einen neuen Blick für die komplizierte pluralistische Realität gewinnen. Zugleich aber setzt sie sich der Konfrontation mit neuen Herausforderungen aus. Nachdem sie jahrzehntelang dem Diktat einer Ideologie unterworfen gewesen war, erwartet sie jetzt zuviel vom Staat. Die nationale und geistige Homogenisierung und Uniformierung ist der Grund dafür, dass wir die Akzeptanz der Unterschiedlichkeit, die oft als eine Bedrohung der Integration und der nationalen Einheit verteufelt wird, nur mit Mühe und großem Zeitaufwand lernen. Das jahrhundertealte Streben nach nationaler Souveränität veranlasst viele, eine übermäßig starke und schnelle übertragung von Souveränitätsteilen an übergeordnete europäische Institutionen oder an nachgeordnete regionale und lokale Selbstverwaltungsorgane als Verrat an den nationalen Interessen und als Diktat neuer Machthaber zu betrachten.
Die Renaissance der ethnischen Identitäten oder die so genannte ethnische Mobilisierung, die mit der Demokratisierung Polens einhergehen, sind an sich schon zweischneidige Angelegenheiten. Wie die meisten Begleitprozesse der demokratischen Transformation des Landes haben sie zum Erwachen der während der Zeit der Volksrepublik schlummernden Kräfte der nationalen und regionalen Minderheiten mit ihren Möglichkeiten für geistige und kulturelle Aktivität geführt. Gleichzeitig sind, wenn auch nur in geringem Ausmaß, regionale Nationalismen, Partikularinteressen und separatistische Bestrebungen in Erscheinung getreten, zum Beispiel die schlesische Nationsideologie. Diese sind zu Elementen der Desintegration und des Konflikts mit anderen Ideologien geworden. Nationalistische Gruppierungen haben das natürliche Interesse an der Heimat als Verrat an den nationalen Interessen betrachtet, als Streben nach Desintegration und als ein Bestreben, sich einer illusorischen Volksgemeinschaft zu entziehen. Denn die Identifikation mit der Region kann als ein Beweis für Separatismus angesehen werden, so dass die Schaffung von Euroregionen als Versuch erscheinen kann, den Staat zu schwächen.
Als die Freiheit ausbrach, entstanden die Vorbedingungen für einen Wechsel der Paradigmata auf drei Hauptgebieten:
- dem der engeren Heimat,
- dem der Symbole und des Geistes und
- dem der historischen Erinnerung.
In der postkommunistischen Dritten Republik vollzog sich eine Entpolitisierung der Geschichte der Städte und Ortschaften in den Grenzgebieten. Die Regionen an der Peripherie machten diejenigen, die die Multikulturalität der grenznahen Gebiete zu schätzen wussten, zum Zentrum ihrer eigenen Welt, wo alles übersichtlicher ist, wo man auf der Erde seine Spur hinterlassen kann und wo der Mensch als einzelner zählt und nicht, wie vorher, nur als amorphes Kollektiv. Hier verstummte die Angst vor der Bedrohung und der Vorläufigkeit, und wir konnten zeigen, wie schön wir uns von einander unterscheiden. Freilich packte manchen dann doch die Angst, wenn er merkte, wie sehr wir selbst innerhalb der Grenzen unseres Staates verschieden sind. Nicht alle konnten diese Wahrheit ertragen.
Die früher von Gott und der Welt vergessenen Regionen glänzten nun in der ganzen Pracht ihres multikulturellen Gewandes. Die Menschen, die aus der Enge ihres Kulturkreises herausgerissen und in eine ihnen fremde Gegend verschlagen worden waren, brauchten erst einmal Zeit, um sich in der neuen Umgebung, ihrer materiellen Kultur und ihrer Symbolik einzuleben. Unter extrem ungünstigen Bedingungen hatten die Kaschuben, eine kulturell und ethnisch eigenständige Gruppe, jahrhundertelang ihre besondere Sprache erhalten; jetzt konnten sie sie in den lokalen Zeitungen, bei festlichen Veranstaltungen und regionalen Feiern pflegen. Inzwischen ist darüber eine wissenschaftliche Debatte entbrannt. Zugleich mit dem Ausbruch der Freiheit bildete sich eine Bewegung zur Belebung und Pflege der engeren Heimat. Symbolische Formen und Räume rückten in das Bewusstsein: die Art der Bodenbearbeitung, die Umbenennung von Straßen, Schulpatronen und öffentlichen Plätzen, der Anstrich der Häuserfassaden, die Beisetzung der Verstorbenen und die Kultstätten. Mit Begeisterung widmete man sich der Rettung des lange vergessenen kulturellen Landschaftsbildes. Die materielle Infrastruktur war während des Krieges zuerst in Polen durch Deutsche, dann nach dem Krieg in den von Deutschland übernommenen Gebieten durch Polen zerstört worden.
Hat sich jetzt ein Gleichgewicht eingespielt? Dank der Initiative aktiver lokaler Gruppen wurde in den östlichen und westlichen Grenzgebieten mit der gemeinsamen Pflege von Friedhöfen begonnen. Besonders bemerkenswert ist hier das Beispiel der Kulturvereinigung »Borussia«, der junge Leute aus Litauen, Weißrussland, der Ukraine, Deutschland, Lettland und Estland angehören. Inzwischen werden hunderte von Friedhöfen regelmäßig betreut. Bei diesen Initiativen spielen auch pädagogische Erwägungen eine Rolle. Die Rettung der Nekropolen ist ein Teilergebnis des wiedererwachten Interesses für die Regionalgeschichte, die automatisch den multikulturellen Reichtum ans Licht brachte. Denn alle diese Gebiete waren niemals »ethnisch rein« gewesen; immer hatten sich hier verschiedenen europäische Kulturen gegenseitig überlagert.
Die Rückkehr der Erinnerung in den polnischen West- und Nordgebieten erfasste auch die übersetzung von Texten der deutschen Heimatliteratur und Gedichten nur örtlich bekannter Künstler. In der Kultur, die die Menschen verbindet, die die Erinnerung wiederbelebt, die ideologische und parteipolitische Gräben überwindet, lassen sich gegensätzliche Interessen am leichtesten miteinander vereinbaren. Am Beispiel des früheren Ostpreußen, das sich heute in russischer, litauischer und polnischer Hand befindet, kann man ablesen, wie es einer Handvoll begeisterter Leute gelingt, das Licht alter Denker wieder zum Leuchten zu bringen, Kontinuität zu suchen und das vielstimmige Vaterland wieder schätzen zu lehren.
Als die Hindernisse abgeräumt waren, die in den totalitären Staaten die Weiterleitung der Hinterlassenschaft der Familien und des lokalen europäischen Erbes unterbrochen hatten, türmten sich neue Hindernisse auf: die Konkurrenz der Werte, die demographischen Veränderungen, die Wiederentdeckung verdrängter Inhalte, die früher als »konservativ« verteufelt worden waren. Fragen und Zweifel stellen sich ein: Wie kann man die kulturelle Bildung so vermitteln, dass sie zur europäischen Integration hinführt, und gleichzeitig den ganzen Reichtum der Verschiedenheit erhalten? Verdient jede Minderheitengruppe die Anerkennung? Wie kann man die Wünsche der Minderheiten und der Mehrheit auf einen Nenner bringen? Multikulturalität ist ja nicht schon für sich allein ein Faktor, der Konflikte mildert. In den Grenzregionen bilden sich verschiedene Einstellungen. Hier nimmt die Stellungnahme deutlichere und schärfere Formen an. Nicht jede ethnische Kultur muss auch nationale Kultur werden und nicht jede ethnische Gruppe muss eine eigene Nation darstellen. Die Rivalität der Kulturen im Streit um die Seelen der Menschen führt häufig zu gewaltsamer Auseinandersetzung. Angesichts des Wandels der Gesellschaft wird die Schaffung eines reellen Bildes vom Kulturerbe, das für alle kulturellen Gruppen akzeptabel ist, besonders dringlich. Hier gibt es verschiedene Interpretationsmöglichkeiten. Das polnische Kulturerbe wurde geprägt durch den Verlust der staatlichen Unabhängigkeit, durch die Dominanz der Staatsidee und durch die katholische Bevölkerung. Unterschiedliche religiöse, regionale und multiethnische Traditionen spielten kaum eine Rolle. Heute brauchen wir die Akzeptanz der kulturellen Minderheiten für eine bestimmte Version der Interpretation der Vergangenheit.
Die Erfahrung lehrt, dass eine beiderseitige Akzeptanz des neu entdeckten gemeinsamen kulturellen Erbes ein Gefühl der Sicherheit vermittelt und es dem einzelnen erleichtert, seinen Platz in der sich schnell wandelnden Umgebung zu finden. Sie bietet Kontinuität. Notwendig ist dabei ein gewisser Stolz auf die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe, ein positives Selbstgefühl, ein Gefühl der Selbstsicherheit nach Jahren der Diskriminierung und partikularer Ressentiments. Vielfach wird diese Situation erleichtert durch das Streben nach Entwicklung der Region, durch neue örtliche Demokratie, durch das Streben nach Selbstverwaltung, durch die Gemeinschaften der Selbstidentifikation, der Kultur und der Wirtschaft entstehen.
Als am wertvollsten haben sich indes die Begegnungen der Menschen erwiesen. Die früheren und die heutigen Bewohner, oft die Nachkommen polnischer und deutscher Vertriebener, stoßen auf unterschiedliche Erwartungen, werden mit der neuen Realität konfrontiert. Auf der einen Seite stehen die Hausherren in diesen Gebieten, sehr arm, nach Jahren eines Gefühls der Vorläufigkeit von neuen Ängsten befallen, die einige Vertriebenenfunktionäre geweckt haben, auf der anderen Seite die Gäste eines nostalgischen Tourismus, die durch ihre Wohlhabendheit auffallen. Die deutschen Vertriebenen begegnen dem von ihnen hinterlassenen Erbe auf sehr verschiedene Weise. Ein großer Teil der früheren Bewohner der heute polnischen Gebiete sieht eine Chance in der Zusammenarbeit mit den neuen Herren: Sie bereichern Museen mit persönlichen Andenken, beteiligen sich an der Gründung von Museen und Stiftungen und zeigen Interesse am Leben der Region. Einige kommen ausschließlich, um Spuren des Deutschtums zu finden, und nehmen das slawische, das tschechische oder schlesische, ja überhaupt das europäische Erbe gar nicht zur Kenntnis. Eine kleine Minderheit möchte nur die Ungerechtigkeit der Geschichte demonstrieren und erklärt arrogant: »Ich komme hier zurück zu dem, was mir gehört.« Das alles vollzieht sich in der engeren Heimat, wo man seine Gefühle vor den anderen kaum verbergen kann. Die Menschen dort freuen sich mächtig über das, was sie dort schaffen, und schämen sich bitter, wenn sie Niederlagen und Schwächen eingestehen müssen. In denselben Gebieten begegnen sich Deutsche, die ihre frühere Heimat besuchen, und Polen, die aus der Gegend von Wilna oder Przemyśl vertrieben worden sind, und sich hier verwurzeln und mit der neuen Gegend identifizieren müssen. Die einen möchten anerkannt, die anderen akzeptiert werden. Nicht alle machen sich klar, dass auf diesem Raum genug Platz ist als Heimat für viele und für gegenseitige Wertschätzung, die man einem Nachbarn entgegenbringt und mit der man sich an dem Reichtum der Kultur erfreut.
In den multikulturellen Gebieten hat eine Umwertung der Grundlagen stattgefunden und es haben sich neue Grundsätze gesellschaftlichen Lebens herausgebildet. Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Mitgliedschaft Polens in der Europäischen Union haben ganz neue Rahmenbedingungen geschaffen, besonders für eine neue Generation von Menschen, die geistig in der Region, in Polen und in Europa verwurzelt ist. Nach zehn Jahren polnischer Transformation und an der Schwelle zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union sind in Polen jedoch Nebenerscheinungen des Wandels zu Tage getreten. Der internationale Terrorismus und die innenpolitischen Probleme in Polen und Deutschland haben bewirkt, dass die Realisierung der Bemühungen um eine Erweiterung und Vertiefung Europas in die Ferne gerückt ist und die menschenfreundlichen Motive und die politische Begeisterung in den Hintergrund gedrängt werden. Sorgen schieben sich vor die Hoffnung. Diese Grundbedingungen sind auch der Grund für die Unterschiede in der Kultur der historischen Erinnerung. Die jüngsten Aktivitäten um das Zentrum gegen Vertreibungen lassen auf beiden Seiten die Grenzen erkennen, die eine Rhetorik zieht, die für die Zeit des Kalten Krieges typisch gewesen ist. Der Streit um das Zentrum lässt unterschiedliche Prioritäten bei der Kultur der Erinnerung erkennen. Das wirkt sich auf das Klima des schwierigen deutsch-polnischen Dialogs am Beginn des 21. Jahrhunderts aus und zeigt, wie schwach und brüchig dessen Wurzeln sind und wie groß das Defizit an Empathie und an Wissen übereinander ist.
Diese Debatte hat auch den Opportunismus der Politiker ans Licht gebracht. So wie keiner der westdeutschen Politiker den Mut aufgebracht hatte, denjenigen Vertriebenen, die die Rückkehr in ihre alte Heimat verlangten und die Anerkennung der Grenze an Oder und Neiße verweigerten, ihre Illusionen zu rauben, – noch bei dem Schlesiertreffen 1985, an dem Helmut Kohl teilnahm, gab es die Losung »Schlesien ist unser« – so hat es die politische Klasse im wiedervereinigten Deutschland nicht geschafft, eindeutig gegen die Ideen von Erika Steinbach Stellung zu beziehen. Gestern wie heute zählen vor allem die Wählerstimmen von Millionen Vertriebenen und ihren Nachkommen. Ein bedeutender Teil der deutschen Bevölkerung behandelt die Vertreibungen losgelöst von ihrem Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und setzt das, was sich zwischen 1939 und 1945 ereignet hat, mit dem gleich, was nach 1945 darauf gefolgt ist. So ergibt sich eine Gegenseitigkeit des Unrechts.
Die Heftigkeit der polnischen Reaktionen wurde durch die Erkenntnis vertieft, dass sich die bisherigen Forderungen und Vorwürfe von Funktionären des Bundes der Vertriebenen ausschließlich an kleinere und schächere Länder richten: an die Tschechen und an die Polen. Erika Steinbach hat weder Entschuldigungen noch Genugtuung für die Bombenangriffe der westalliierten Siegermächte noch für Gewalttaten von Russen verlangt. Die Briefe, die mit Drohungen Rückgabe von Häusern fordern, werden nicht an die Bewohner von Kaliningrad gerichtet, sondern an frühere Umsiedler aus den verlorenen polnischen Ostgebieten, die in den von den Deutschen verlassenen Gebieten in Niederschlesien angesiedelt worden sind. Man kann eine solche Einstellung zu den üblichen politischen Spielchen von Vertriebenfunktionären zählen. Für viele Polen drückt sich darin aber eine Geringschätzung und Erniedrigung des schwächeren Nachbarn aus.
Die historische Erinnerung vollzieht sich nicht in spektakulären Gesten, sondern im Alltagsleben. Die Transformation der Erinnerung sollte der Erarbeitung überzeitlicher Ideale dienen, die die politische Kultur stützen können, nicht aber als Waffe gegen einen Gegner. Leider kann das geplante Zentrum eine solche Funktion nicht erfüllen. Polen und Deutsche brauchen jetzt nicht einen Museumskrieg oder einen Krieg der Symbole. Die jüngste Debatte hat gezeigt, in welchem Ausmaß wir Geiseln nationaler Mythen und partikularer Betrachtungsweisen sind, obwohl wir täglich unsere Solidarität und unsere Sorge um Europa verkünden. Der Streit hat gezeigt, dass wir mit verschiedenen Zungen reden, dass wir verschiedene Ziele im Blick haben und dass jeder bei dem bleibt, was er für die Wahrheit hält. Es gibt aber nur eine Wahrheit. Die Geschichte der Vertreibungen hat nicht erst 1945 begonnen. Ihr ist nicht nur der Holocaust vorausgegangen, sondern auch eine blutige Okkupation vieler Völker in Europa und die längste und brutalste Okkupation Polens mit Raub, Zwangsarbeit, Massenexekutionen, Verhaftungen, Torturen in Gefängnissen und Lagern, mit totalem Terror. Es hat sich gezeigt, dass sich diese fünf Jahre weder in deutschen Schulbüchern noch in Filmen, Dokumentationen, vor allem aber nicht im Bewusstsein der Deutschen widerspiegeln. Der Dialog verlangt Wissen und die Bereitschaft, die andere Seite zu verstehen; ohne die Erfüllung dieser elementaren Bedingung wird es bei zwei Wahrheiten über die jüngste deutsch-polnische Geschichte bleiben.
Eine neue Einstellung zum kulturellen und historischen Erbe mag sich als eine Chance für die internationale Zusammenarbeit erweisen – nicht nur der deutsch-polnischen. Dazu bedarf es aber nicht nur bloßer Worte und zwischenstaatlicher Verträge, sondern vor allem gegenseitiger Empathie und Taktgefühls. Die Konzeption von der alten Heimat, wie sie früher von Vertriebenenfunktionären vertreten worden ist, steht einer Verständigung im Wege. Eine selektive Geschichtsbetrachtung, Realitätsverlust und Nostalgie nach einer untergegangenen Welt der Kindheit haben die realen Möglichkeiten behindert. Ein Beispiel für kontraproduktive Aktionen war die zu Beginn der neunziger Jahre von Oppelner Deutschen begonnene Erneuerung und Wiederaufstellung von Denkmälern zur Erinnerung an die Schlesier, die während der beiden Weltkriege in der deutschen Armee gekämpft hatten. Hier ging es um militärische Symbole, um Eiserne Kreuze, Schwerter, Helme und Ortsnamen, die in der Hitler-Zeit ausgegeben worden waren. Nach jahrelangen Emotionen beruhigen sich jetzt die Gemüter.
Die Meinungsverschiedenheiten darüber, wer mehr zurm kulturellen Erbe beigetragen hat und wessen Symbole wichtiger sind, führen zu nichts. Die Kriegerdenkmäler stellen für die deutsche Minderheit im Oppelner Schlesien (in der es kaum eine Intelligenzschicht gibt) einen Beweis für die historische Gemeinschaft mit den Deutschen dar – für die Teilnehmer an den schlesischen Aufständen sind sie ein Symbol des Einsatzes zum Wohle Polens. Beide Seiten vergessen dabei, dass diese Symbole dazu dienen können, Wertschätzung für die andere Seite zu wecken, statt sich auf das eigene Leiden zu konzentrieren und eine Identität in Opposition zu ihnen selbst aufzubauen.
Wir leben jetzt in einer Zeit des Umbruchs. Der Staat wandelt sich, die Demokratie und damit auch die Rolle des Staates in der Ethnien-Politik. Einer mit dem Wandel einhergehenden Assimilation steht gegenwärtig der ethnische und kulturelle Pluralismus im Wege. Die Herausbildung einer Bürgergesellschaft begleitet ein zunehmender Respekt für die Kultur von Minderheiten. Gleichzeitig wird in der Globalisierung die eigene Besonderheit deutlich. Die große weite Welt zwingt zur Suche nach kleinen Nischen, die man kennt und in denen man sich einnisten kann. Als die wichtigste Aufgabe unter den derzeitigen Bedingungen erachte ich die Überwindung der Nationalisierung der Vorstellungen. Diese Aufgabe ist schwieriger und anspruchsvoller als die Privatisierung von Landwirtschaft und Industrie in Polen. Die Anbahnung eines Dialogs, der sich nach Europa öffnet, gestützt auf vertieftes Wissen, ist der sicherste Weg zur Weckung eines Gefühls der Zugehörigkeit zu dem größeren, europäischen Vaterland. Dieser Weg führt über die Akzeptanz verschiedener Identitäten. Den Weg dorthin mögen uns die Worte von Siegfried Lenz weisen, der unter anderem geschrieben hat (Rückübersetzung aus dem Polnischen): »Die Vergangenheit gehört uns allen. Man kann sie weder teilen noch auslöschen; denn das alles wächst aus sich selbst heraus, kreuzt und stärkt sich gegenseitig im Wunsch des Besitzens, in der Herrschaft und in den Niederlagen; manchmal auch, freilich sehr selten, in der Vernunft; aber wer versucht, die Dinge und die Beweise zu trennen, die wir geerbt haben, wer sich einen reinen Stammbaum schaffen will, der weiß sehr wohl, dass er dazu Gewalt anwenden muss.«
Gemeinsames Kulturerbe als Chance
Die Deutschen und ihre Nachbarn im östlichen Europa
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