Robert Traba
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Aus zwei Gründen ist diese Nummer der »Borussia« außergewöhnlich: erstens ist sie zweisprachig und zweitens einem einzigen Thema gewidmet. Für diejenigen, die die »Borussia« zum ersten Mal lesen, möchte ich deutlich machen, daß sie weder eine historische –und noch viel weniger eine deutsch-polnische Zeitschrift ist. Sie ist vielmehr eine Zeitschrift von kulturell-literarischem Profil, die seit mehr als elf Jahren die kulturelle und literarische Landschaft in Polen mitgestaltet und dabei vor allem ihre Motive aus den Orten schöpft, in denen sie gemacht wird: Allenstein, das Ermland, Masuren, das Gebiet zwischen der unteren Weichsel und der Memel...Von hier aus ist es nur noch ein Schritt, um zu verstehen, weshalb ausgerechnet der deutsch-polnische historische Dialog im Mittelpunkt unseres Interesses stand: das Bedürfnis nach Austausch wurde durch die Geographie der Koexistenz selbst und das Aufeinandertreffen polnischer und deutscher Einflüsse bestimmt. Es genügt, einige regionale Erinnerungsorte zu erwähnen, die sich in das überregionale kulturelle Gedächtnis von Deutschen und Polen eingegraben haben: Kopernikus, der Deutsche Orden, das »Heilige Ermland«, Grunwald (1410), Tannenberg (1914), die Plebiszite von 1920, das »Bollwerk«, der »cordon sanitaire«, die »Vertriebenen« und »die wiedergewonnenen Gebiete«.

Historische Themen begleiteten also von Beginn an auf natürliche Art und Weise die Publikationen und Tätigkeiten der Kulturgemeinschaft »Borussia«. In Besitz des Glücks der »späten Geburt«, rechneten wir vor allem mit einem System ideologisierter Erziehung ab, dessen Produkt wir in geringerem oder größerem Maße selbst waren. Aus diesem Grunde haben wir ganz bewußt in historischen Darstellungen darauf verzichtet, etablierte Thesen ausgewiesener Autoritäten zu wiederholen. Meistens haben wir uns auf individuelle Erlebnisse berufen, auf die Erinnerungen Einzelner oder einer Gruppe. Wir haben jene Erinnerungsorte gesucht und wiederentdeckt, die bewußt verwischt und zeitweise in Vergessenheit geraten waren. Diese »Wiederbelebung« der Erinnerung war manchmal schmerzhaft. Die einen sahen in uns »Verräter an der nationalen Tradition«, andere »Germanophile«. Es gab schließlich auch solche, die in unserer Selbstkritik einen notwendigen Impuls zur Transformation »allein richtiger« nationaler Paradigmen in eine national offene Haltung sahen.

Schriftsteller und Lyriker schalteten sich in die Diskussion über die Vergangenheit ein, indem sie in ihren Werken eine fiktive, aber dennoch wahre Wirklichkeit einer vergangenen Welt geschaffen haben, voll Bitterkeit und Emotion, wofür in den historischen Analysen kein Platz war. Im Jahr 1997 erschien ein Sonderheft, das der »Metaphysik des Ortes« am Beispiel Nord- und Westpolens gewidmet war. In literaturwissenschaftlichen Arbeiten begann sogar die Bezeichnung eines »literarischen Kreises der »Borussia«« aufzutauchen. Wichtigere Debatten über die Vergangenheit haben wir im Rahmen redaktioneller Diskussionen, zum Beispiel über die Geschichte des Ermlandes und Masurens nach 1945 (Nr. 2, 1992), oder über die gegenwärtige Transformation der Kultur (Nr. 17, 1998) unter anderem mit Stanis³aw Stomma (Nr. 6, 1993), Klaus Zernack (Nr. 15, 1997), Hartmut Boockmann (Nr. 7, 1993) und Wojciech Wrzesiñski (Nr. 1, 1992) geführt, aber auch während Konferenzen, deren Nachlese einen Platz in den Spalten der »Borussia« fand.

Heute versuchen wir uns mit dem, was die Historiker in den vergangenen zwölf Jahren als professionellen wissenschaftlichen Ertrag erbracht haben, auseinanderzusetzten. Forschungen zur Gegenwart sind nie frei von Emotionen und kontroversen Diskussionen in der Öffentlichkeit. Meiner Meinung nach mindern solche Erscheinungen – falls sie nicht einer nationalen Ideologie oder einem konjunkturellen Druck durch das Umfeld unterworfen sind – keineswegs die Bedeutung historischer Analysen. Der Streit um das Problem der Zwangsaussiedlung von Deutschen verweist auf einen interessanten Kontext von eben solchen Interpretationen und ethischen Grundeinstellungen. Dass er in Deutschland wieder durch den Schriftsteller Günter Grass und auf politischer Ebene durch CDU-Politiker, in Polen durch den Chefredakteur der »Gazeta Wyborcza« Adam Michnik und den bekannten Journalisten der »Polityka« Adam Krzemiñski an Aktualität gewonnen hat, läßt wieder jene »stetig wiederkehrende« Frage aufkommen: Welche Rolle kommt den Historikern bei der Entstehung von Vorstellungen über die Vergangenheit tatsächlich zu?

Vor kurzem wurde ich anläßlich der Organisation einer internationalen Konferenz darum gebeten, bei der Suche nach einigen jüngeren, polnischen Historikern, die sich mit den Problemen der deutschen Besatzung in Polen während des Zweiten Weltkrieges befassen, behilflich zu sein. Ich konnte Niemanden finden! Was natürlich nicht bedeutet, daß sich tatsächlich niemand dieser Problematik widmet. Mir scheint es jedoch unzweifelhaft, daß diese Forschungsrichtung stark vernachlässigt wird. Alle, die sich vordem mit dem Zweiten Weltkrieg befaßt haben, forschen gegenwärtig zur sowjetischen Besatzung und zum Kampf polnischer Partisanen in den ehemaligen Ostgebieten Polens. Diese Beobachtung ist um so interessanter, als in Polen aus der Perspektive der Diskussion um die »Vertreibung«, leicht Verbitterung wegen der Verwischung von Ursachen und Folgen aufkommt. Vielleicht ist der Grund dafür, dass beide nationalen Geschichtsschreibungen eine ganz natürliche Welle der Wiederentdeckung des »eigenen Ostens« erleben. In Polen haben die Fesseln der Zensur, in Deutschland das Gefühl von Schuld und die »political correctness« linksliberal gerichteter Gruppen der Bevölkerung dazu geführt, daß der »Osten« bei bilateralen Debatten nicht existent war. Heute gibt es ihn wieder, thematisch jedoch zumeist beherrscht von den Erinnerungen als »verlorenes Paradies« und den Beschreibungen »ausschließlich eigener« nationaler Traditionen.

Bereits 1993 (»Regional« oder »national«? Nr. 6) habe ich versucht eine kritische Diskussion hinsichtlich neuer Interpretationsansätze vor allem regionaler Geschichte anzuregen. Dieses Heft ist sozusagen die verspätete Erfüllung jenes Wunsches. Es setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten versuchen wir vor dem Hintergrund allgemeiner Veränderungen in der polnischen und deutschen Geschichtsschreibung des letzten Jahrzehnts (Borodziej) die wichtigsten aktuellen Diskussionsfelder zu den deutsch-polnischen Beziehungen: die sogenannte »Preußendebatte« (Kerski, Lawaty) und das Problem der Zwangsaussiedlung, aber hier aus der deutsch-tschechischen Perspektive (Hahn), aufzuzeigen. Im zweiten Teil übertragen wir allgemeine historische Probleme in den Bereich der Regionalgeschichte und akzentuieren dabei drei Aspekte: die Probleme des wissenschaftichen Diskurses (Hackmann), dessen Platz in der öffentlichen Diskussion (Lipscher) und im Umfeld der Ausbildung historischer Vorstellungen nicht nur in der jüngeren Generation (Traba). Im dritten Teil dokumentieren wir schließlich Einschätzungen von 15 Historikern, die an einer Umfrage der »Borussia« teilgenommen haben.

Dieses Heft ist einem Thema gewidmet, aber keine Monographie. Das befreit uns von der einer vollständigen Bearbeitung des Themas, allgemeinen Resumés und künstlichen Paritäten im Namen einer nicht näher bestimmten »höheren Vernunft«. Wir würden uns wünschen, die Diskussion käme nicht zu einem Ende, sondern begänne erst und könnte zu neuen interessanten Lösungsmöglichkeiten inspirieren. Unsere Hauptthese lautet folgendermaßen: Es handelt sich schon nicht mehr um einen Dialog, sondern immer mehr um eine Diskussion, deren unterschiedliche Seiten sich durch Kompetenz und Professionalität und nicht durch nationale Zugehörigkeit definieren.