Es ist nicht auszuschließen, daß der Vorschlag, aus Berlin und Brandenburg ein neues Bundesland Preußen zu machen, eine natürliche Folge dessen ist, wie das Jahr 2001 als Preußenjahr vornehmlich begangen wurde: als Mittel zur Stärkung weniger der deutschen als der berlinisch-brandenburgischen Identität.
Königsberg, das heutige Kaliningrad, zum Zentrum der Feierlichkeiten zu machen, wäre historisch angemessener, politisch freilich weder möglich noch opportun gewesen. Allein der Anlaß des Preußenjahres, die Krönung des Kurfürsten von Brandenburg, Friedrich III., zum König Friedrich I. »in Preußen«, hätte ausreichend deutlich machen müssen, daß die Wurzeln der Hohenzollernmonarchie in Brandenburg und in Preußen liegen. Nennt man nun Brandenburg samt Berlin »Preußen«, dann kann es nicht um die begriffliche Wiederherstellung der regionalen Identität gehen. Warum dies nicht geht, wäre in Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« leicht nachzulesen. Doch der »preußische Geist« weht offensichtlich immer noch, wo er will. Geht es aber um den »Geist«, wie und wo ist er dann zu fassen? Irgendwo zwischen Toleranz und Militarismus, zwischen Bildung, Pflicht, Pünktlichkeit und (blindem) Gehorsam?
Wenn man Probleme mit der eigenen Identität hat, liegt es nahe, Nachbarschaftshilfe einzufordern. Schließlich gestaltet man das eigene Ich in hohem Maße durch den Vergleich mit dem Anderen, am besten mit dem Nächsten. Wirft man einen besorgten Blick zum polnischen Nachbarn hinüber, wie er auf die Wiederherstellung eines – freilich befriedeten – Preußens reagieren würde, stellt man Erstaunliches fest: Der polnische Nachbar hat Preußen längst für sich wieder entdeckt, und zwar aus gutem Grund: Erhebliche Teile des alten Polens gehörten eine Zeitlang zu Preußen (v.a. Großpolen), und die Spuren sind bis heute sichtbar; mehr noch, erhebliche Teile Preußens – des ursprünglichen (West- und teilweise Ostpreußen), des erworbenen (Hinterpommern) und des eroberten (Schlesien) Territoriums, dazu noch ostbrandenburgische Gebiete – gehören heute zu Polen und haben ihre frühere Identität keineswegs gänzlich verloren. Dabei geht es nicht um über Jahrhunderte hinweg »deutsche« Gebiete, vielmehr, insbesondere im Falle des alten Preußens, um außerhalb des alten Reiches befindliche Territorien, die nach der Ordenszeit mit dem alten Polen quasi durch Personalunion (Königliches – westliches – Preußen) oder durch ein Lehnsverhältnis (Herzogliches – östliches – Preußen) verbunden waren und ethnisch, konfessionell und kulturell jene Vielfalt und jene Spannungen aufwiesen, die im Zeitalter des modernen Nationalismus nur schwer nachzuvollziehen waren und in der (scheinbar) postnationalen Zeit vor der Vorstellung eines multikulturellen Paradieses geschützt werden müssen.
Die heutigen (in überwiegender Mehrheit) polnischen Bewohner dieser Gebiete haben das – spätestens seit 1989 auch politisch zugestandene – Recht, sich die ganze Vergangenheit ihrer Heimat anzueignen. Und immer häufiger nehmen sie dieses Recht in Anspruch. Dabei geht es nicht so sehr um die Frage, ob die Steine in diesen Regionen deutsch oder polnisch sprechen, vielmehr darum, was sie sagen. Um sich der Eindeutigkeit ethnischer Zuordnung zu entziehen, hat sich die Organisation, die sich der Wiedergewinnung der vielfältigen ethnischen und kulturellen Vergangenheit für die heutige Identität der Bewohner des alten und heute polnischen Preußens widmet, die lateinische, also begrifflich neutrale Entsprechung für Preußen, nämlich »Borussia«, als Namen gegeben. Und »Borussia« hat durch Publikationen, Veranstaltungen und Begegnungen Erfolge zu verzeichnen, die weit über die Region hinaus wirken. Auf diese Befestigung der Identität nicht durch Verengung, sondern durch Erweiterung des eigenen Horizonts verwies vor wenigen Tagen der Publizist Adam Krzemiński in der Wochenzeitung »Polityka« (Nr. 9/2002); er überschrieb seine Ausführungen mit dem Titel »Preußen, das sind wir«. Denn
»das wahre Preußen existiert weiter, und zwar bei uns. Die preußische Geschichte und das preußische Erbe sind ein Teil unseres eigenen Umgangs mit der Geschichte der Regionen, in denen wir seit über einem halben Jahrhundert wohnen.«
Den polnischen Protagonisten dieser Integrationsarbeit stand durch Vorbild und Engagement bis vor wenigen Tagen Gräfin Dönhoff, die Symbolfigur des »wahren Preußentums«, bei. Auch der »Westpreuße« Günter Grass ist aus diesem Zusammenhang nicht wegzudenken.
Polens »wahres Preußen« existiert »am Ort«, ist der Wohnort vieler Polen, und es ist keineswegs identisch mit dem 1701 entstandenen Königreich, obgleich es viel, sehr viel auch mit diesem Preußen zu tun hat. Der moderne Staat Preußen ist nämlich mittels seiner konsequent praktizierten, auch nach der Teilung Polens florierenden und angesichts des langen Endes Preußens auch post mortem nachwirkenden »negativen Polenpolitik« (Klaus Zernack) ebenso ein fester Bestandteil der polnischen Geschichte, wie es das alte Preußen in seiner positiven (obgleich nicht konfliktfreien) politischen Interessengemeinschaft mit dem alten Polen auch war. Die polnische Geschichtswissenschaft ist seit langem mit der Entdämonisierung des eigenen Preußenbildes beschäftigt (dies ist in den Werken etwa von Marian Biskup oder Stanisław Salmonowicz, in der in Posen entstehenden vierbändigen Geschichte Preußens 1500–1947 oder auch in Arbeiten jüngerer Historiker wie Robert Traba nachzulesen), ohne freilich den politischen Interessenkonflikt zwischen Preußen und Polen aus den Augen zu verlieren. Die differenzierte Sicht der Geschichte Preußens – des alten und des modernen – öffnet den Weg zu einer kulturellen Identifikation mit den preußischen Regionen. Die Restitution des Staates Preußen, auch in der zahnlosen Version eines Bundeslandes und in der Form des Etikettenschwindel betreibenden Brandenburgs, ist dieser polnischen Integration Preußens in das eigene historische Gedächtnis dagegen wenig hilfreich. Dass man sich über diese neue Preußen-Debatte in Polen nicht besonders aufregt, hängt mit der Einsicht in ihren politisch artifiziellen Charakter zusammen. Die in ökonomischer Verunsicherung wurzelnde Angst etwa vor dem Ausverkauf polnischen Bodens an ausländische, vornehmlich natürlich deutsche Fremde ist freilich ein soziales Problem, das auch ohne alle Preußen-Debatten floriert und politisch instrumentalisiert werden kann.
Aus der Sicht der polnischen »historischen Nation« war die Wiederherstellung der deutschen Einheit ein »natürlicher« Vorgang. Entscheidend war aus polnischer historischer Sicht, dass es Preußen zur Herstellung dieser Einheit nicht bedurfte. Und es könnte auch beim Konsolidieren dieser Einheit wie auch beim Ausbau regionaler bundesdeutscher Identitäten ruhig so bleiben.
Als Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe auf einer Veranstaltung des »Deutschen Kulturforums östliches Europa« am 21. Februar gefragt wurde, wie er es denn mit dem Namen Preußen für das neue Bundesland halte, gab er eine geradezu salomonische Antwort: Er habe auf seinen Polenreisen festgestellt, dass man sich dort sehr intensiv mit der preußischen Geschichte befasse. Man solle also die Polen – gewissermaßen als Experten – fragen, was sie denn von dieser Idee halten. Es lohnt sich hinzuhören.