In der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen markieren der Zweite Weltkrieg und seine unmittelbaren Folgen (insbesondere die Flucht, Vertreibung und die Grenzverschiebung) den zentralen Punkt sowohl für das kollektive Gedächtnis beider Gesellschaften als auch für die historisch-politische Bildung der jungen Generationen. Dieser Zeitabschnitt in den nachbarschaftlichen Beziehungen (1939–1949) ist im Prinzip der einzige, der in Polen und in Deutschland auf gleich großes Interesse stößt. Die gemeinsame Kulturlandschaft könnte meiner Meinung nach ein weiterer Bereich interessanter Zusammenarbeit und zugleich eine Herausforderung für die historisch-politische Bildung sein. Ich denke da besonders an den Kulturraum, der sich von Olsztyn (Allenstein) und Gdańsk (Danzig) über Słupsk (Stolp), Szczecin (Stettin), Zielona Góra (Grünberg) und Poznań (Posen) bis nach Wrocław (Breslau), Opole (Oppeln) und Katowice (Kattowitz) erstreckt. Über Jahrhunderte waren das Gebiete des polnisch- bzw. slawisch-deutschen Zusammenlebens, eines ethnischen, kulturellen und nationalen Grenzlandes. An vielen Orten verschmelzen dort polnische und deutsche kulturelle Einflüsse, sind bis heute vor allem Spuren des preußischen Kulturerbes zu sehen.
Landschaft
Bevor ich diese Gebiete näher charakterisiere, würde ich gerne auf die Landschaft als Träger kollektiver Vorstellungen eingehen, die das kulturelle Gedächtnis von Gesellschaften tradieren. Mit diesem Problem haben sich bisher weniger Literaturwissenschaftler, Historiker und Soziologen denn Gesellschaftsgeografen und Experten aus dem Bereich der Raumplanung befasst. Es sind sogar wissenschaftliche Subdisziplinen in der Psychologie entstanden (z.B. Umwelt- oder Raumpsychologie), für die der Zusammenhang zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Landschaft das Hauptuntersuchungsfeld abgibt. Uns dagegen interessiert hier der imaginierte Raum. Er wird von unserem Bewusstsein, durch die Imagination und Erinnerung bestimmter Elemente des real vorhandenen Raums, gebildet. Auf diese Weise eignen wir uns, losgelöst von Realien, die Kulturlandschaft an. Dabei ist sie nicht nur ein »Produkt des Augenblicks«, sondern auch ein Erfahrungsraum früherer Generationen sowie des gesamten heutigen Bildungssystems. Der imaginierte Raum wird also zu einer Art kulturellem Gedächtnis der Gesellschaft. Die »Heimatlandschaft« ist ein wichtiger Faktor für die räumliche Verwurzelung, die Gestaltung symbolischer Vorstellungen über die eigene ethnische oder nationale Gruppe. Je offener unsere eigene Identität ist, desto mehr sind wir imstande, das Andere, das Fremde der uns umgebenden Landschaft zu akzeptieren.
In den 1990er Jahren ist in Europa und den Vereinigten Staaten eine lebhafte Debatte über das Thema Landschaft und Umwelt entbrannt. Ein Aspekt darin – die Landschaft als Teil menschlicher Vorstellungen und Teil des kollektiven Gedächtnisses – interessiert hier besonders. Ihn betrachtet auch der amerikanische Wissenschaftler Simon Schama.[1] Er inszeniert eine Reise durch die im kollektiven Gedächtnis verankerten Naturmythen und versucht, eine Antwort darauf zu finden, wie menschliche Vorstellungskraft aus der einfachen Natur nationale Heiligtümer schafft. Wichtig ist darüber hinaus auch die Landschaft als Ausdruck des ökologischen Bewusstseins.[2]
Der Zusammenhang zwischen natürlicher und kultureller Landschaft und dem kollektiven Gedächtnis gewinnt zusätzliche Bedeutung in der Zeit der Massenkommunikation und der Herausbildung moderner Nationalismen, die nach attraktiven Ausdrucksmitteln für ihre Ideologie suchen. In den deutsch-polnischen Beziehungen öffnet dieser Zusammenhang einen doppelt interessanten Raum: Auf der einen Seite ist es notwendig, dass sich die jungen Polen, die es im Alltag gewohnt sind, in einer monokulturellen Gesellschaft zu leben, eine »fremde« Landschaft aneignen. Auf der anderen Seite geht es darum, das Gedächtnis der jungen Deutschen zu »reanimieren«, so dass die Tradition preußischer Allgegenwart in den Gebieten östlich der Oder weder Schrecken einjagt, noch Tabu ist, sondern ein positives Merkmal bei der Herausbildung und Bereicherung eines eigenen Bewusstseins.
Preußen
Nach dem Krieg wurde fast alles, was sich auf einem Drittel des polnischen Territoriums befand, »postdeutsch«: Postdeutsch waren die Häuser, in denen wir wohnten. Postdeutsch war das Straßenpflaster, solange kein polnischer Asphalt es überdeckte. Postdeutsch (aus der Zeit des Deutschen Ordens) waren schließlich auch die Backsteinburgen. Diese Kulturgüter wurden von allen mit solcher Natürlichkeit und Spontanität angenommen, dass es schnell selbstverständlich schien, dass das alles uns gehört – den Polen. Wenn die entsprechende Eintragung im Grundbuch fehlte, wurde sie eben schnell eingefügt, oder das Baudenkmal dem Vergessen anheimgegeben. Auf diese Weise hat sich Polen sogar die Marienburg angeeignet, die doch eine Hochburg der einstigen Erzfeinde, der Ritter des Deutschen Ordens war. Die Baudenkmäler, die weniger Glück hatten, verfielen schnell.
Die Aneignung fremden Raumes wurde zum Grundsatz der Integrationspolitik. Wollte man versuchen, anhand der Straßennamen zu bewerten, welche polnische Stadt die »polnischste« sei, würde vermutlich auch heute noch Szczecin (Stettin) den ersten Platz einnehmen. Dort klingen die Straßen besonders patriotisch, obwohl der Ort selbst über einige Hundert Jahre mit Polen nichts gemein hatte. In Warschau ist es umgekehrt. Hier wimmelt es von »fremden« Namen, und weder an der Saska Kępa (Sachsenwerder) noch am Park Saski (Sachsen-Park, Sächsischer Park) stört sich irgend jemand. Diese Orte werden, nota bene, nur von wenigen mit den Deutschen in Verbindung gebracht.
Fünf Archetypen kann ich heute entdecken, die die preußische Landschaft in den westlichen und nördlichen Gebieten Polens charakterisieren: die gotische bzw. neugotische Backsteinkirche, die Ordensburg, Herren-und Gutshäusern, Soldaten- und Protestantengräber sowie Bahnhöfe, hauptsächlich Kleinstadtbahnhöfe, typischerweise etwas entfernt vom Zentrum der Stadt. Von diesen einzelnen Dominanten geht immer noch die Aura der städtischen und ländlichen Raumbeherrschung aus, die sich von der benachbarter Landschaften, wie Masowiens und Podlachiens stark unterscheidet. Heute haben wir meistens keine Bedenken mehr, die Patina unserer Amnesie von den preußischen Spuren zu entfernen. Das Thema der Vertreibung von Deutschen durch Polen ist nicht mehr blockiert. Das hat Sicherheit im Umgang mit solchen Themen wie der Kulturlandschaft geschaffen. Die Baudenkmäler können wieder »preußisch« werden!
Projekte
1. Einführung in das Projekt Die Entdeckung der europäischen Kulturlandschaften. Regionalgeschichte in Deutschland, Polen, Russland und Litauen am Beispiel Ostpreußens3
Teilnehmer: Lehrer und Multiplikatoren
Die beiden Weltkriege haben Europa im 20. Jahrhundert gezeichnet. Unmittelbare Folge der Kriegshandlungen und der Besatzungspolitik waren Millionen von Opfern, zum Symbol für diese Vorgänge wurde die Ermordung der europäischen Juden.
Das 20. Jahrhundert ist zugleich durch das Entstehen neuer und die Wiedergeburt früherer Nationalstaaten geprägt: Grenzen wurden verschoben, bis in die Gegenwart kommt es zu Tragödien der Vertreibung und der Zwangsmigration. Eine zwangsläufige Konsequenz der Kriege und Grenzveränderungen war der Verlust von Landesteilen und nationalen Kulturgütern bzw., aus der Perspektive der neuen Einwohner, die Übernahme »fremder« Landesteile und Kulturgüter.
Am Beispiel der deutsch-polnischen Beziehungen und der Beziehungen Polens zu seinen östlichen Nachbarn lässt sich zeigen, dass die Vermittlung dieser Verflechtungen dazu beiträgt, den europäischen Gedanken zu stärken und den europäischen Einigungsprozess zu fördern. Wie kann die Beschäftigung mit »fremdem« Kulturerbe den Aufbau einer offenen Gesellschaft fördern? Wie kann man Tabuisierung verhindern? Wie kann der »Verlust« verarbeitet werden? Führt er zu neuen Konflikten oder lässt er sich fruchtbar machen? Wie kann man über die Aneignung von Kulturlandschaften mit Jugendlichen diskutieren?
Auf diese Fragen möchten wir anhand der Kulturlandschaft der früheren Provinz Ostpreußen Antworten finden. Die Wahl ist nicht zufällig: Diese Region war immer schon Schnitt- und Reibungspunkt von Einflüssen verschiedener Nationen und Kulturen – der deutschen, polnischen, litauischen, holländischen, masurischen, ermländischen. Das Gebiet an der Ostsee ist heute integraler Teil Polens, Litauens oder Russlands und wird von Minderheiten bewohnt, vor allem der ukrainischen, und deutschen.
Wir wollen ein Modellprojekt zum historischen Umgang mit multikulturellen Regionen aufbauen.
Da es bisher ähnliche internationale Unternehmen noch nicht gibt, besteht die Möglichkeit, die Erfahrungen auf andere Gebiete zu übertragen, die eine ähnlich komplizierte Vergangenheit haben.
Wir wollen in unserem Projekt von fünf Schlüsselbegriffen ausgehen: Burg, Denkmal (Friedhof), Kirche und Gutshaus, Bahnhof. Diese fünf architektonischen Elemente der Kulturlandschaft verstehen wir als Ausgangspunkte. Wir beabsichtigen, das Denken über die Zukunft durch die Integration der sichtbarsten Zeichen der Vergangenheit in unserer Umgebung zu gestalten. Im Falle Ostpreußens sind das für jeden heutigen Einwohner Polens, Litauens und Russlands: Burgen, Kirchen, Gutshäuser und Denkmäler (Friedhöfe).
Sie bilden einen Einstieg, über den die Vergangenheit und ihre zeitgenössische, gesellschaftliche Rezeption erkannt werden kann. In Deutschland ist Ostpreußen in den letzten Jahrzehnten aus den Bildungsprogrammen verschwunden und wird nur noch von Menschen kultiviert, die durch ihre Lebenserfahrungen unmittelbar mit diesem Land verbunden sind. Was kann man aus der vergessenen oder ungewollten Tradition machen? – Das ist eine wichtige Frage für die deutschen Teilnehmer des Projektes.
2. Präsentation des Projektes: »Unser Ort« – »Aneignung« fremder Kulturlandschaften durch die Aufdeckung ihrer Geschichte und durch die gemeinsame Gestaltung einer neuen Sichtweise auf die Kulturlandschaft
Teilnehmer und Organisatoren: Abiturienten und Studierende aus Polen und Deutschland und Jugendliche aus den für das Projekt ausgewählten Dörfern/Kleinstädten, hauptsächlich aus den nördlichen Gebieten Polens, die nach dem Niedergang der ehemals staatlichen Agrargroßbetriebe von einer Strukturkrise betroffen sind.
Projektidee: Die Idee zum Projekt entstand aus der einfachen Annahme, dass fast jede Kleinstadt und fast jedes Dorf seinen »historischen Ort« hat. Es geht keineswegs nur um alte Burgen oder Kirchen, es können ebenso gut nur schwer zu entdeckende Überreste eines Gutshofparks sein, ein Friedhof oder eine erhaltene ländliche Raumordnung. An jedem dieser Orte kann man den ganzen Reichtum des an ihm haftenden Erbes neu entdecken und viele Gestaltungsmöglichkeiten für ein interessantes Projekt auftun, dessen Ergebnisse wiederum in der Zukunft genutzt werden können. Inspiriert zur Projektidee hat uns aber nicht nur die weit zurückliegende Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart: Der schwierige Prozess, nach 1945 in einer neuen Umgebung heimisch zu werden, sowie die soziale und strukturelle Krise, die mit dem Zusammenbruch der großen staatlichen Landwirtschaftsbetriebe einherging. Das Projekt verbindet also die Vergangenheit mit der Gegenwart und soll so zusätzliche Attraktivität bei der einheimischen Bevölkerung erzielen.
Motivation: Für die polnischen und deutschen Organisatoren bietet dieses Projekt die Möglichkeit, unbekannte Orte der gemeinsamen Geschichte zu entdecken. Für die einheimischen Jugendlichen ist es nicht nur eine Gelegenheit, einer internationalen Gruppe von Gleichaltrigen zu begegnen, es ist zugleich der Versuch, einen neuen Zugang zur eigenen Umgebung zu finden, in ihr, möglicherweise, die von der Alltäglichkeit zerstörte Schönheit und eine Entwicklungschance an genau diesem Ort zu erblicken.
Ziele: Anliegen sind: 1. die Schaffung einer attraktiven Erholungsmöglichkeit für Jugendliche, die keine Möglichkeit haben, in die Ferien zu fahren; 2. der Versuch, ein interessantes kulturelles Ereignis zu gestalten, dessen zentraler Bezugspunkt Geschichte und Landschaft sind; 3. der Versuch, zu zeigen, dass »unser Ort« wichtig ist und dass es lohnt, auch für ihn »etwas« zu machen.
Realisierung: Im Fall der kulturellen Gesellschaft »Borussia« war die Wahl des Dorfes rein zufällig. Es geht um das Dorf Nakomiady früher Eichmedien. Es gibt dort Schlossruinen, die gerade rekonstruiert werden, und einen Schlosspark, von dessen Existenz kaum einer wusste. Das ganze Gelände ist gerade von neuen Besitzern erworben worden, zu den früheren besteht jedoch noch Kontakt. Weiter gibt es eine kleine Grundschule und eine katholische Kirche. Die Bewohner stammen zum Großteil aus den Gebieten des ehemaligen Ostpolen oder sind Ukrainer, die 1947 im Rahmen der »Aktion Weichsel« zwangsumgesiedelt wurden. Ausgangspunkt für die Arbeit der Jugendlichen wird ein Fragebogen mit dem Titel »Woher kommen wir?« sein. Der Schnittpunkt zwischen dem Dorf aus alter und dem aus heutiger Zeit ist das Jahr 1945: es bildet ein symbolisches Datum für die Begegnung »alter und neuer« Dorfbewohner. Während des Ferienlagers bereiten die Jugendlichen ein Modell »unseres Ortes« vor, nehmen an Treffen mit den ehemaligen und den heutigen Besitzern des Schlosses teil, organisieren Unterhaltung für die Kinder, die in den Ferien im Dorf geblieben sind. Das Projekt wird in kürze realisiert.
Jan Józef Lipski hat 1990 geschrieben, dass wir mit der Übernahme der ehemals deutschen Gebieten zu Nachlassverwaltern der dortigen Kulturgüter geworden sind. Der offene polnisch-deutsche Dialog und die gemeinsame Sorge um das Kulturerbe, die seit kurzem die Oberhand über unfruchtbare ideologische Diskussionen gewonnen haben, fordern dazu heraus, diese Formel zu ändern. Vielleicht werden wir auf ganz natürliche Weise von Nachlassverwaltern zu geistigen Miterben der Kulturgüter ehemals preußischer Lande. So können wir, paradoxerweise, den Nachkommen der früheren Bewohner einen Teil ihrer eigenen Geschichte näherbringen, dabei selbst um neue Erfahrungen reicher werden und Sensibilität für die notwendige Rettung dieser verfallenden Kulturgüter entwickeln.
Der Text erscheint in dem Buch »Erinnern und Gedanken. Zur Bedentung der historisch-politischen Bildung im deutsch-polnischen Jugendaustausch«, Postdam-Lublin [2002].
[1] Schama, Simon: Der Traum von der Wildnis. Natur als Imagination. Aus dem Englischen übertragen von M. Pfeiffer, München 1996
[2] Eine interessante Illustration hierzu bieten das Buch von Franz-Josef Brüggermeier über Tschernobyl, vgl. Brüggermeier, Franz-Josef: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung. DTV 1998; Kolbuszewski, Jacek: Ochrona przyrody a kultura (Naturschutz und Kultur) Wroclaw 1992; Kula Marcin: Ekologia humanistyczna (Eine humanistische Ökologie) Warszawa 1999.
[3] Bearbeitet von Elżbieta Traba, Robert Traba und Jörg Hackmann.