Übersetzung: Herbert Ulrich
Die Zusammenarbeit der deutschen und polnischen Historiker stößt heute auf keine größeren objektiven Schwierigkeiten. Die Befreiung von der Zensur, ein breiter Zugang zu den Quellen, unbeschränkte Möglichkeiten zu gegenseitigem Austausch und Kommunikation und schließlich die Tätigkeit solcher Institutionen wie das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt, das Deutsche Historische Institut in Warschau, die Goethe-Institute, die Zentren der deutschen und der polnischen Kultur sowie andere zur Zusammenarbeit und Vertiefung des Wissens über das Nachbarland gegründete Einrichtungen – all das schafft eine die Annäherung erleichternde Atmosphäre. Dennoch sind die Verständigung und die Kooperation der Historiker aus beiden Ländern mit Problemen belastet, die gemeinsam gelöst werden können und müssen. Sie äußern sich in unterschiedlicher Form und Gestalt:
- Infolge der hauptsächlich die deutsche Seite belastenden Sprachbarriere sind manche Forscher gezwungen, bei der Schilderung der polnischen Wirklichkeit Quellen aus zweiter Hand zu benutzen, bzw. sind ausschließlich auf Texte angewiesen, die außerhalb der Grenzen Polens gedruckt wurden. Dieser selektive Zugang zur Literatur, die nicht immer auf entsprechendem Niveau ist (auf Bestellung ausländischer Herausgeber verfasste Texte sind oft allzu knapp und vereinfacht), sowie mangelnde Kenntnis der Quellen stellen Faktoren dar, die den Dialog mit den Historikern des beschriebenen Landes erschweren.
- Die Wissenschaft als öffentliches Unterfangen ist auf Kritik und Gedankenaustausch angewiesen – sowohl im eigenen Kreis als auch mit der öffentlichen Meinung – ohne die sie verkümmert. Indessen ist die Kunst einer nicht zerstörenden, sondern bereichernden Kritik in den historischen Wissenschaften deutlich im Schwinden begriffen. Das kann nicht allein durch den Zeitmangel und die Mehrfachbeschäftigung der polnischen Wissenschaftler erklärt werden.
- Die Wissenschaft darf gegenüber den neuen Phänomenen und Prozessen nicht gleichgültig bleiben, die die Wirklichkeit nach der deutschen Wiedervereinigung und der demokratischen Wende in Polen mit sich gebracht hat. Aber die geringe Immunität gegen den Einfluß der Medien und die Anbiederung an Modererscheinungen oder an von den Massenmedien diktierte Tendenzen hat negative Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Wissenschaftler aus beiden Ländern. Das führt zum Beispiel zu einem hauptsächlich germano- bzw. polonozentrischen Verständnis der Geschichte, zu einem manchmal allzu emotionalen und in der Konsequenz politisierten und ideologisierten Herangehen an die Probleme. Prioritäre Bedeutung gewinnt dann eine spezifisch verstandene Staatsräson und nicht die objektive Realität.
- Die Historiker begegnen einander im Rahmen ihrer engen Spezialgebiete. Dies bereichert zweifellos die eigene Werkstatt und methodische Herangehensweise. Aber es fehlt, besonders in der gegenwärtigen Zeit vehementer Veränderungen, an Begegnungen auf der Ebene vergleichender Untersuchungen. Die Beendigung des Kalten Krieges begünstigt die Behandlung von Themen, welche nur durch die Komparatistik entfaltet werden können. Ein Vergleich des Funktionierens des »realen Sozialismus« in der DDR und in Volkspolen, des Alltagslebens in der DDR und in der VRP, der Art der Transformation und der mentalen Veränderungen – all dies würde nicht nur zur Entwicklung der Wissenschaft beitragen, sondern auch praktische Schlußfolgerungen ermöglichen, die der polnisch-deutschen Annäherung dienen.
Methodische Mängel stehen weder mit der Nationalität noch mit den polnisch-deutschen Beziehungen im Zusammenhang. Der Grad ihres Auftretens in der Wissenschaft ist davon abhängig, ob wir es mit einem guten oder einem schlechten Historiker zu tun haben. Allerdings können die Konsequenzen bestimmter Fehler die Art der Kommunikation zwischen den deutschen und polnischen Gelehrten negativ beeinflussen.
Mängel lassen sich in der Bereitschaft zum Dialog erkennen; damit dieser konstruktiv wird, müssen beide Seiten die Errungenschaften der jeweils anderen Seite gut kennen. Der auftretende Mangel an deutscher Literatur in Polen (meist aus finanziellen Gründen) sowie die Unkenntnis der polnischen Fachliteratur in Deutschland macht es unmöglich, die Argumente des Partners kennenzulernen, und erschwert dadurch nicht nur die Zusammenarbeit, sondern auch jegliche Kritik.
Die Meinungsverschiedenheiten, Mißverständnisse oder Fehlinterpretationen von Phänomenen und Prozessen resultieren manchmal aus einer unangemessenen Verwendung gewisser Begriffe, dem Fehlen exakter Definitionen und einem unterschiedlichen Verständnis solcher Begriffe wie »Nation«, »Nationalstaat«, »Demokratie« oder »Föderalismus«. Die mangelnden Kenntnisse der historischen Zusammenhänge sowie die mangelnde Betrachtung der jeweiligen Phänomene von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus (oft beurteilen wir sie einzig und allein unter engen, nationalen Aspekten) erschweren die wissenschaftliche Entwicklung wesentlich.
Ein gar nicht hoch genug einzuschätzendes Problem bildet in den deutsch-polnischen Beziehungen die Trennung der sachlichen Analyse von der Bewertung. Der oft praktizierte Moralismus bei der Skizzierung eines Schwarzweißenbildes der Wirklichkeit, besonders bei der Analyse neuralgischer Themen wie totalitäre Ideologien, radikaler Nationalismus oder Rassismus, sowie die Abrechnung mit der nazistischen und stalinistischen Vergangenheit hauptsächlich vom Gesichtspunkt der gegenwärtigen Wirklichkeit begünstigen das Fortbestehen alter Mythen und manchmal auch die Entstehung neuer. Ganz gewiß tragen sie nicht zu einer rationalen Kritik und zur Vertiefung unseres Wissens über die Geschichte des 20. Jahrhunderts bei.
Die gemeinsamen deutsch-polnischen Forschungen brauchen eine interdisziplinäre Vertiefung und ein vergleichendes Herangehen. Dies betrifft insbesondere die Themen und Probleme der letzten 50 Jahre. Meiner Ansicht nach verdienen folgende Punkte unsere besondere Aufmerksamkeit:
- Unbedingt notwendig ist eine gemeinsame Herausgabe der Quellen aus der jüngsten Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen (als Beispiel seien solche Projekte genannt wie: »Deutsche in Polen 1945–1950. Eine Auswahl von Dokumenten«, hrsg. von W. Borodziej und H. Lemberg, sowie die bisher 15 Bände der »Posener Deutschen Bibliothek« von H. Orłowski und Ch. Klessmann). Sie sollten vor allem die Außenpolitik beider Staaten, die Politik der VRP gegenüber den neuen polnischen West- und Nordgebieten sowie die Probleme der sog. Integration im Rahmen des RGW und des Warschauer Paktes umfassen.
- Die Geschichte der Beziehungen zwischen der DDR und der VRP (es fehlt an einer umfassenden monographischen Arbeit; unerläßlich wäre hierzu die Zusammenarbeit mit Historikern aus den neuen Bundesländern, die in den gemeinsamen polnisch-deutschen Projekten so gut wie überhaupt nicht vertreten sind).
- Die Faktoren und Bedingungen, die die gegenwärtige nationale Identität der Bürger Polens und der neuen Bundesländer bestimmen (die Rolle der Tradition, des Patriotismus, der politischen Kultur).
- Die Bedingungen, der Verlauf und die Konsequenzen der Transformation des politischen Systems und der Wirtschaft in Polen und in der ehemaligen DDR.
- Der politische Radikalismus, Nationalismus und Antisemitismus in der Theorie und Praxis sowohl der Bundesrepublik Deutschland als auch der Dritten Republik Polen. Bisher haben wir uns ausschließlich mit den verschiedenen Formen des Radikalismus in der BRD beschäftigt. Es ist an der Zeit, nun auch den politischen Extremismus in Polen näher zu betrachten und in politischer und kultureller Beziehung mit dem im deutschsprachigen Raum zu vergleichen. Die Diskussion über das Judenpogrom in Jedwabne sowie über die Verfolgungen und Morde an der deutschen Zivilbevölkerung in Polen nach dem Kriege muß durch eine gemeinsame polnisch-jüdisch-deutsche Beschäftigung mit diesen Themen vertieft werden.
- Die Evolution der Rolle der Intelligenz sowie der Eliten in beiden Ländern.
- Die Ideologie und Praxis des Kommunismus. Die Aufmerksamkeit der Forscher konzentrierte sich bisher auf die Abrechnung mit dem Kommunismus. Den Gegenstand der Analyse bildeten verschiedene Formen der Dekommunisierung in den Ländern der mitteleuropäischen Region. Aber es fehlt an einer allseitigen Analyse des Kommunismus als Ideologie und als Staatssystem, an Einschätzungen von Systemhistorikern, Ideengeschichtlern, Wirtschafts-, Sozial- und Kulturhistorikern. Es muß gemeinsam versucht werden, folgende Frage zu beantworten: Inwieweit ließ sich die Gesellschaft von der Ideologie verführen, und in welchem Grade erlag sie eher einem alltäglichen Konformismus? Was waren die realen Errungenschaften des Systems, und in welchem Ausmaß funktionierte es nur dank der von ihm beschworenen Mythen? Die historische Wissernschaft von der Gesellschaft wird Untersuchungen anstellen müssen über das Alltagsverhalten der Menschen, der sozialen Schichten und der einzelnen Berufsgruppen.
- Die Regionalgeschichte fordert von Historikern angefertigte Arbeiten.
- Neu durchdacht werden müssen die Bedingungen der europäischen Integration; aufzuzeigen sind die differenzierten Voraussetzungen der einzelnen Staaten hinsichtlich ihrer Struktur und Kultur, was in gewissem Maße zur Erklärung der unterschiedlichen Visionen Europas und der Schwierigkeiten beim Finden eines gemeinsamen Nenners für die künftige europäische Ordnung beitragen wird.
- Notwendig ist eine engere Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Forschungen zur historischen Anthropologie, besonders was das gemeinsame kulturelle Erbe im polnisch-deutschen Grenzgebiet betrifft.
- An den internationalen Projekten sind Ethnologen, Kulturwissenschaftler oder Linguisten nicht beteiligt, die doch einen erheblichen Beitrag zum Verständnis der politischen und sozialen Themen leisten könnten. Lohnenswert wäre auch eine Erweiterung der polnisch-deutschen Zusammenarbeit um Forscher aus der Ukraine, Belarus (Weißrußland), den baltischen Staaten sowie den ostmittel- und südosteuropäischen Ländern.
- Als notwendig erweist sich der Verzicht auf den Narzißmus der Nationalgeschichte; stattdessen muß der europäischen Perspektive mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
In unseren Forschungen sündigen wir oft durch ein einseitiges Herangehen an die polnisch-deutschen Themen, und wir erliegen der Versuchung, die historischen Phänomene vor allem durch Identifikation mit dem heutigen Gesichtspunkt zu beurteilen. In den Arbeiten zur jüngsten Geschichte wird manchmal der Druck aktueller politischer Bedürfnisse und eine Anbiederung an gewisse Erwartungen durch kategorische und emotionale Urteile erkennbar. Schließlich bewegen wir uns im Rahmen von Problemen, die immer noch andauern. Das Jahr 1989 hatte ganz gewiß einen starken Einfluß auf die Geschichtswissenschaft. Aber es lohnt sich, unter den neuen Bedingungen mehr gemeinsam als nebeneinander zu tun.
Ein Generationswechsel ist ganz sicher erkennbar. Aber vor allem fällt die rückläufige Zahl der überhaupt an der polnisch-deutschen Problematik interessierten Forscher ins Auge. Es gibt nicht viele junge Historiker, die solche – den Gegenstand unserer Reflexion bildenden – Themen wirklich mit Leidenschaft behandeln. Mit dem Erwerb akademischer Titel und zusätzlicher Erwerbsarbeit beschäftigt, sind sie nicht imstande, den an sie gestellten Erwartungen und Wünschen ihrer Epoche entsprechend gerecht zu werden. Es ist zu bedauern, daß weder in den Kreisen der deutschen Minderheit in Polen noch im Rahmen der polnischen Sprachgruppe in Deutschland ein Interesse daran besteht oder irgenwelche Aktivitäten auf diesem Gebiet erkennbar sind. Deshalb ist eine Unterstützung durch Stiftungen und Institutionen notwendig, in deren vitalen Interesse es liegt, neue Forschungsinitiativen zu initiieren.
Ein im Schwinden begriffenes Element im allgemeinen Bild der deutsch-polnischen Forschungen und der diesbezüglichen Zusammenarbeit bildet das, was ich die Klasse der Meister nennen würde (u.a. Prof. G. Labuda, K. Zernack). Ihre enorme Bildung und humanistische Kultur ermöglichte ihnen, die historischen Phänomene aus unterschiedlicher Perspektive zu beurteilen, sie miteinander zu vergleichen und die universellen Aspekte hervorzuheben. Dagegen ist das »Neue« eher durch Spartengeist und enge Spezialisierung gekennzeichnet. Dies hat durchaus seine guten Seiten, aber eben auch negative Nebenwirkungen. Von der Fragmentarisierung ist nämlich auch die Geschichte eingeholt worden. All den Spezialisten für die Regionen, für die Integration, für die Geschichte der Städte, die Geschichte des politischen Systems und für die nationalen Minderheiten fällt es schwer, einen gemeinsamen Nenner zu finden, d.h. eine gemeinsame Sprache für die Interpretation und entsprechende Definitionen, die zur Beschreibung der untersuchten Wirklichkeit unerläßlich sind, was ganz sicher einen Faktor darstellt, der die Zusammenarbeit erschwert.