Die Frage nach den Perspektiven des deutsch-polnischen Dialogs in der Geschichtsforschung und der Geschichtsschreibung wirft für den fast 150 Jahre alten Historischen Verein für Ermland besondere Probleme auf. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist er weit entfernt von der Region tätig, die Gegenstand seines wissenschaftlichen Interesses ist. Wie kann ein Dialog über die Geschichte der Region des ehemaligen Ostpreußen funktionieren, deren Bevölkerung nach 1945 zu mehr als 90 Prozent ausgetauscht wurde. Noch drängender stellt sich die Frage in Bezug auf das Ermland, eine spezifische Kulturregion innerhalb der Region zwischen unterer Weichsel und Memel. Die »Ermländer« in Deutschland leben nicht nur räumlich entfernt von ihrer Heimat, sondern sie entfernen sich auch im Grad der Identifizierung von ihrer Ursprungsregion, während in der Landschaft, die »Ermland« historisch und kulturell einmal gewesen ist, eine Bevölkerung aus sehr unterschiedlichen Herkunftsregionen mit ethnisch und konfessionell unterschiedlichen Gedächtniskulturen lebt. Sie wird in den nachfolgenden Generationen vermutlich in immer geringerem Maße geneigt sein, sich mit dem vorgefundenen historischen und kulturellen Erbe der Region zu befassen.
Der gute Wille zur Zusammenarbeit von Deutschen und Polen auf dem Feld der regionalen Geschichtsforschung, wie er sich bisher in Ansätzen gezeigt hat, reicht nicht aus. Es genügt nicht, daß jede Seite »weiße Flecken« auf der historischen Landkarte der Region auszufüllen sich bemüht. Dies bleibt gewiß eine Aufgabe, die aber in stärkerem Maße gemeinsam, in gemeinsam geplanten und durchgeführten Projekten angegangen werden sollte. Die isolierte Aufarbeitung historischer Themen erschwert den Dialog, besonders wenn die Ergebnisse nur jeweils in der eigenen Sprache veröffentlicht werden. Wichtig ist, Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß kontinuierlich nicht nur kurze Zusammenfassungen oder Berichte über den Fortgang der Forschung, sondern auch die wichtigsten Abhandlungen selbst in der jeweils anderen Sprache veröffentlicht werden können.
Um solche konkreten Probleme einer Lösung näher zu bringen, scheint es vordringlich zu sein, erst einmal gemeinsam über Sinn und Nutzen der Regionalgeschichte nachzudenken. Was kann sie für die Gestaltung der Lebenswelt der jetzigen Bewohner und – in anderer Weise – der Nachfahren der ehemaligen Bewohner in ihren neuen Lebensbereichen beitragen? Für die historische Kulturlandschaft des Ermlands verspricht beispielsweise die Erforschung der Epoche der Zugehörigkeit zum polnisch-litauischen Doppelreich einen solchen Nutzen, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie nicht einseitig unter nationalen Gesichtspunkten geschieht, sondern der Horizont der Forschung europäisch ausgeweitet und zugleich ihre Arbeitsweise durch neue regionalgeschichtliche Methoden vertieft wird. Es bereichert die bisherigen Perspektiven der Geschichtsschreibung und dient zugleich der Gesellschaft, wenn das Alltagsleben der Menschen, nicht zuletzt das religiöse und kulturelle Leben, in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt wird.
In Bezug auf die kirchlich-konfessionell geprägte Geschichtslandschaft des Ermlands und die Erforschung der Geschichte der Diözese Ermland in ihren historischen Grenzen stellt sich die Frage, welche Rolle die kirchlichen Leitungsorgane auf beiden Seiten in der Ausrichtung ihrer pastoralen Arbeit der Geschichte und dem Geschichtsbewußtsein einzuräumen bereit sind und welche Konsequenzen daraus für die historische Bildung des Klerus und der Träger der kirchlichen Bildunsgarbeit gezogen werden.
Die wichtigste Aufgabe in der Kommunikation zwischen denjenigen, die sich der Verantwortung für die Pflege des historischen Gedächtnisses bewußt sind, ist der breite und kontinuierliche Diskurs über die hier angedeuteten grundsätzlichen Fragen einer gemeinsamen Erforschung der Regionalgeschichte und der Vermittlung des Kulturerbes in die Lebenswelt der Menschen, die in unterschiedlicher Weise mit der Region verbunden sind. Um diesen Dialog zu intensivieren, gilt es auch, Überlegungen darüber anzustellen, wie den bisher entwickelten Beziehungen – trotz der auf beiden Seiten mangelnden Unterstützung durch die Gesellschaft und die Politik – eine festere und dauerhaftere Struktur gegeben werden kann.