Joachim Rogall
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Wer erwartet hatte, die politische Wende 1989 werde auch im Bereich der deutsch-polnischen Geschichtswissenschaft einen völligen Neuanfang auslösen, sah sich getäuscht. Die Themen und Akteure blieben auf beiden Seiten zunächst weitgehend unverändert. Ein Generationswechsel hatte sich ja bereits vor 1989 angebahnt.

Die Zusammenarbeit deutscher und polnischer Historiker hatte es auch vor 1989 schon gegeben. Natürlich war der Zugang zu manchen Quellen in Polen jetzt leichter, etwa zum Parteiarchiv oder bestimmten Spezialbeständen.

Die Aufarbeitung von früheren Tabuthemen hatte bereits vor 1989 begonnen. Paradebeispiele sind die deutsche Minderheit und die Vertreibung der Deutschen. Lange Zeit in Polen teils verschwiegen, teils verfälscht, hatten sich bereits seit Mitte der achtziger Jahre polnische Historiker, aber auch Soziologen mit diesen Themen befasst, fanden damals aber kaum deutsche Diskussionspartner. Denn auf deutscher Seite waren diese Themen vor 1989 vorwiegend die Spielwiese von Vertriebenenverbänden. Von Ausnahmen abgesehen, setzte die deutsche Beschäftigung damit wirklich erst mit der politischen Wende ein. Polen ist diesbezüglich den deutschen Historikern auch heute noch voraus. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurde ein bedeutendes Projekt, die Dokumentation der Vertreibung aus polnischen Quellen, von einer deutsch-polnischen Historikergruppe gemeinsam bearbeitet. Die Ergebnisse liegen mittlerweile in polnischer Sprache bereits vor, in deutscher Sprache ist die Edition im Gange.

Es gab innovative Ansätze in der Sozialgeschichte, Milieugeschichte, Geschlechterforschung, Gleichberechtigung der Sprachen. So wurden Treffen von deutschen und polnischen Nachwuchshistorikern organisiert, auf denen beide Sprachen gleichberechtigt verwendet werden konnten, da deutsche wie polnische Teilnehmer die Sprache der anderen Seite zumindest passiv beherrschten.

Leider ging der Abbau der politischen und ideologischen Grenzen mit dem Aufbau finanzieller Grenzen einher. Denn die Kosten der Wiedervereinigung führten in Deutschland, das bei gemeinsamen Projekten in der Regel der Haupt-, wenn nicht der Alleinfinanzier war, zur Reduzierung der Förderung in diesem Bereich, so dass viele Projekte nicht so schnell vorangetrieben werden konnten, wie man gehofft hatte. Immerhin konnte die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit mit ihren beträchtlichen, ja auch »deutschstämmigen« Mitteln, hier manche Hilfestellung leisten. Aber es ist bedauerlich, dass im Gegensatz zur Situation vor der Wende, wo es vergleichsweise viele Mittel für, aber wenig Möglichkeiten zur Kooperation deutscher und polnischer Historiker gab, es heute grundsätzlich umgekehrt ist.

Traditionell war in Deutschland eine der Grundlagen institutioneller Förderung des deutsch-polnischen Historikerdialogs der Bereich der sogenannten »ostdeutschen Forschungen«. Aus der Ostforschung hervorgegangen, mit dem Ziel, das kulturelle Erbe der Vertreibungsgebiete zu bewahren, durch den berühmten Paragraphen 96 des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes (BVFG) eine Verpflichtung des Bundes und der Länder, hatten sich Institutionen, Themen und Akteure in den achtziger Jahren entscheidend gewandelt. Es waren zunehmend jüngere Wissenschaftler, ohne Vertriebenenhintergrund, welche in diesen Institutionen den Dialog mit polnischen Partnern suchten und die gemeinsame Geschichte aufarbeiteten. Beispiele für viele sind das Institut Nordostdeutsches Kulturwerk in Lüneburg oder das Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte in Oldenburg. In der Ära Kohl hatte der Bund vergleichsweise umfangreiche Mittel für die ostdeutsche Forschung zur Verfügung gestellt und eine Vielzahl von Institutionen unterhalten, deren Arbeit von durchaus unterschiedlicher Qualität war. Die Bundesländer begannen sich allerdings zunehmend ihrer Verpflichtung nach § 96 BVFG zu entziehen, dabei die CDU-regierten behutsamer, die SPD-regierten teilweise vollständig. Mit dem Beginn der rot-grünen Regierung Schröder wurde der Bereich der ostdeutschen Forschung aus dem Innenministerium dem Bundesbeauftragten für Kultur und Medien übertragen und eine im Ansatz richtige, in der Ausführung aber leider inkonsequente Reform der institutionellen und inhaltlichen Förderung durchgeführt. Eine Zusammenlegung oder Schließung von Institutionen und eine Revision der Arbeitsprogramme war zwingend, aber es entstand der Eindruck, dass hier mit heißer Nadel, ohne wirklich durchdachtes Konzept und teilweise mit ideologischen Vorurteilen vorgegangen wurde. Jahrelang wurden so für den deutsch-polnischen Dialog wichtige Institutionen und Personen verunsichert und in ihrer Arbeit behindert. Der erhoffte und notwendige große Neuanfang blieb leider aus.

Das DHI Warschau, eine der wirklichen Innovationen, hat sich zu einem, wenn nicht dem wichtigsten Akteur im deutsch-polnischen Historikerdialog entwickelt. Es nimmt tatsächlich eine Schlüsselstellung ein und fördert den Dialog in idealer Weise. Durch seine Veröffentlichungsreihen mit Übersetzungen von Standardwerken aus beiden Sprachen in die jeweils andere wird das Forum für den deutsch-polnischen Dialog entscheidend erweitert. Sowohl die DHI-Mannschaft wie ihre ernstzunehmenden Partner bei den polnischen Historikerkollegen haben nach 1989 die Gunst der Stunde genutzt und einen Neuanfang gemacht. Stipendien und befristete Arbeitsplätze für junge deutsche wie polnische Nachwuchshistoriker sorgen für einen kontinuierlichen Aufbau der kommenden Generation im deutsch-polnischen Historikerdialog.

Die Regionalgeschichte führt nicht nur deutsche und polnische Berufs- und Amateurhistoriker zusammen, sie ist auch ein Vehikel, die Erkenntnisse aus den beiderseitigen Elfenbeintürmen in die Gesellschaft zu tragen. Denn deutlich wird immer wieder, wie gering der Verbreitungsgrad der modernen Geschichtsbilder ist, wie sie bei den meisten deutschen und polnischen Historikern heute Konsens sind. In Deutschland wie in Polen ist die Kenntnis der gemeinsamen Geschichte außerhalb des Kreises der Fachhistoriker noch wenig über die alten Mythen hinausgekommen.

Der Unterschied besteht allenfalls darin, dass bei fast allen Polen Interesse und Kenntnisse der deutsch-polnischen Geschichte vorhanden sind, wenn auch häufig einseitige und verzerrte, in Deutschland in den jüngeren Generationen dagegen häufig weder Kenntnis noch Interesse an der deutsch-polnischen Geschichte, auch an der Geschichte der früher deutschen Oder-Neisse-Gebiete besteht. Vielen scheint es aufgrund des NS-Schuldkomplexes vermutlich unschicklich, sich mit der deutschen Vorgeschichte dieser Gebiete zu beschäftigen. Es ist nicht abwegig, zu vermuten, dass im Deutschland der nächsten Generation Grass, Lenz und Bobrowski zwar noch als deutsche Dichter, aber aus Polen stammend, angesehen werden, indem heutige politische und nationale Grenzen in die Vergangenheit projiziert werden. Dabei könnten gerade diese früher deutschen, heute polnischen Gebiete eine geistige Brücke zu Polen und seiner Geschichte bilden.

In Polen frage man Normalverbraucher in Oppeln, Kolberg oder Allenstein über die Geschichte seiner oberschlesischen, hinterpommerschen oder ermländischen Heimat, und man wird erfahren, dass die Arbeit der unheiligen Allianz von Kommunisten und Nationalisten nach 1945 bei der Verbreitung geklitterter Geschichtsbilder von den wiedergewonnenen Gebieten bis heute erfolgreich geblieben ist. Hier kann gar nicht genug aufgearbeitet werden, und das geschieht am erfolgreichsten durch Arbeiten mit örtlichem, konkretem Bezug.

Festzustellen ist, dass es heute keine »Sprachlosigkeit« zwischen deutschen und polnischen Historikern gibt. Die deutschen Polen-Historiker sind fast durchwegs der polnischen Sprache nicht nur passiv, sondern aktiv mächtig. Sie haben den Generationswechsel gut geschafft, es gibt kein wirkliches Nachwuchsproblem.

Das alte Polonica non leguntur trifft auf sie längst nicht mehr zu. Sie arbeiten sine ira et studio, da sie nicht mehr der Erlebnisgeneration angehören und ihre emotionale Bindung an die deutsch-polnischen Beziehungen in aller Regel nicht mehr durch die eigene oder elterliche Herkunft, sondern allenfalls durch den polnische Ehepartner oder polnische Freunde begründet ist. Dass sie die deutsch-polnische Thematik noch nicht so normal empfinden wie z.B. die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, fällt vor allem durch den bei ihnen weitverbreiteten Gebrauch der polnischen Ortsbezeichnungen auch in deutsch geführten Gesprächen auf. Hier wirken die ideologischen Lager des Kalten Krieges bis heute nach, als der Gebrauch des deutschen Ortsnamens Breslau anstelle der polnischen Bezeichnung Wroclaw noch als Unterscheidung zwischen »Revanchisten« und »Entspannungsfreunden« angesehen wurde. Daß heute in deutsch-polnischen Historikerrunden, wenn in diesen deutsch gesprochen wird, nicht selten die polnischen Kollegen Breslau und die deutschen Wrocław sagen, zeigt, dass die Geschichte mehr Humor hat als die deutschen Historiker.

Polen hat großartige Historiker von internationalem Rang, die nicht nur, wenn sie sich auf deutsch-polnische Themen spezialisiert haben, häufig sehr gut bis ausgezeichnet Deutsch sprechen, fast auf muttersprachlichem Niveau. Die besten unter ihnen stehen weit über den früheren Geschichtsklitterungen und stellen für ihre deutschen Partner fordernde und anregende Kollegen dar. Leider sind sie aber nicht typisch für alle polnischen Historikerkollegen. Es gibt noch die polnischen Nationalhistoriker, die in kommunistischer Zeit die polnische Westidee, einst in der Auseinandersetzung mit der deutschen Ostforschung entstanden, bis 1989 fortgeführt und sich in der Rechtfertigung des polnischen Charakters der Oder-Neisse-Gebiete gegenseitig überboten hatten.

Solange die deutsche Seite wie bisher bereit ist, den auch heute noch teilweise unverhohlenen Chauvinismus und Nationalismus dieser polnischen Kollegen zu tolerieren, wird sie auch mit ihnen wunderbar zusammenarbeiten können.

Es ist gut, wenn auf deutscher Seite die Leichen aus dem Keller der Historiker heraufgeholt werden und die Rolle der Ostwissenschaftler zur NS-Zeit, darunter manche auch nach 1945 zur Spitze der Zunft gezählten Polen- und Osteuropahistoriker, kritisch aufgearbeitet wird. Wie kann man verlässlich sagen, ob die Betreffenden nur Opportunisten waren oder nach 1945 eine wirkliche Läuterung stattgefunden hat? In Deutschland hatten wir ja nun schon zum zweiten Mal die Stunde der Wendehälse, mit nahezu identischen Verhaltensmustern.

Die meisten dieser Ostforschungs-Dinosaurier sind ja auf deutscher Seite bereits aus Altersgründen von der Wissenschaftsbühne abgetreten. Aber auf polnischer Seite sind ihre Westforschungskollegen offenbar aus zäherem Holz geschnitzt und bevölkern noch den Historiker-Jurassic Park, d.h. sind auf Tagungen, Konferenzen und publizistisch noch präsent. Und dass man von deutscher Seite mit diesen polnischen »alten Kämpfern« unter den Historikerkollegen so umgeht, als fände man deren Schwadronieren von der nationalen Aufgabe der (polnischen) Historiker und ihre Geschichtsklitterung z.B. über die historischen polnischen Rechte auf die Oder-Neiße-Gebiete absolut gesellschaftsfähig und in Ordnung, das ist allenfalls mit dem Respekt vor ihrem Schicksal in Kriegs- und Besatzungszeit zu erklären. Aber es sollte diesbezüglich Grenzen der Toleranz geben. Vor allem, da auf polnischer Seite der Nachwuchs in dieser Hinsicht weder vom Umfang wie von der Konsequenz nicht vergleichbar mit der deutschen Seite mit dem Erbe gebrochen hat. Es ist zwar anzuerkennen, dass mancher polnische Alte Kämpfer auch Schüler gefördert hat, die andere Ansichten vertraten als er. Aber es gibt nach wie vor auch polnische Historiker der mittleren und sogar jüngeren Generation, die ein unverhohlen nationales Geschichtsbild pflegen und damit in Polen keineswegs geächtet sind. Sie sagen ihre wahren Ansichten den deutschen Kollegen zwar nicht direkt ins Gesicht, teilweise schreiben Sie auch schon mit Kreide, aber ihre wirklichen Gedanken sind in der Zunft durchaus bekannt. Es bleibt zu hoffen, dass sich hier eine ähnliche Evolution abspielen wird wie in den vergangenen Jahrzehnten auf deutscher Seite.

Ansätze zu gemeinsamen Forschungen und Publikationen gibt es eine ganze Reihe. Die Dokumentensammlung zur Vertreibung aus polnischen Archiven wurde bereits genannt. Dennoch bleiben Desiderata: ein gemeinsames deutsch-polnisches Geschichtsbuch beispielsweise, oder gemeinsam verfasste Regionalgeschichten Schlesiens, Pommerns oder Ostpreußens. Die bis heute erschienenen Geschichten Schlesiens sind durchweg entweder nur aus deutscher oder aus polnischer Feder.

Abgesehen davon, dass bei einer Geschichte Schlesiens auch die tschechischen Regionalhistoriker aus der Troppauer Ecke einbezogen werden müssen, sollten künftig auch Historiker aus anderen Ländern hinzugezogen werden. Entsprechendes Interesse kann vorausgesetzt werden.

Daß ein Engländer, Norman Davies, eine Geschichte Breslaus verfasst hat[1], die demnächst gleichzeitig in englischer, deutscher und polnischer Sprache erscheinen wird, ist bisher auf deutscher wie auf polnischer Seite nicht eben enthusiastisch begrüßt worden. Manchen Deutschen ist er wegen seiner polnischen Frau verdächtig, zu polenlastig zu sein, manchen Polen wiederum ist er wegen seiner historisch korrekten Darstellung des ganz überwiegend deutschen Breslaus vor 1945 unbequem.

Ein Beispiel für Themen, die noch der Aufarbeitung bedürfen, ist das deutsch-jüdisch-polnische. Das Beispiel Jedwabne, das kein Einzelfall ist, zeigt die Schwierigkeiten vor allem der polnischen Seite mit diesem Themenkomplex. Im Vergleich dazu erscheint heute das Thema Vertreibung der Deutschen als nachgerade problemlos. Ähnlich wie früher bei diesem ist aber bei vielen polnischen Historikern eine Abwehrhaltung festzustellen, eine Art nationaler Solidarität mit den polnischen Tätern, auch von solchen Historikern, die keiner antisemitischen oder, im Falle der Vertreibung, kommunistischer Einstellung verdächtig waren.

[1] N. Davies, R. Moorhouse, Die Blume Europas. Breslau–Wrocław–Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt, München: Droemer 2002.