Zusammenfassungen der Referate: Mythos und Raum • Die Region Ida-Virumaa (Narva) • Der Kresy-Mythos I + II • Mythen schlesischer Landschaften • Arbeit am nationalen Raum • Wilhelminische Ostmarkenpolitik am Beispiel Masuren • Wilna als litauisches Hauptstadtprojekt und das polnisch-litauische Grenzland
Der diesjährige Historikertag fand in Kiel statt und stand unter dem Motto »Kommunikation und Raum«. Damit soll einerseits den historischen und aktuellen Besonderheiten des Austragungsorts Rechnung getragen werden: Kiel ist spätestens seit den Tagen des Hansebundes wirtschaftlich und kulturell mit dem Ostseeraum verbunden. Andererseits soll die Vieldeutigkeit von Räumen bewusst gemacht werden, denn räumliche Beziehungen sind nicht nur geographisch zu verstehen, sondern auf allen Ebenen historischer Zusammenhänge präsent. Raum prägt und gliedert Wirtschafts- und Handelsverbindungen ebenso wie politische, soziale und kulturelle Kontakte. Er bildet einen elementaren Faktor der Strukturierung und gegebenenfalls der Hierarchisierung von Netzwerken und »Systemen« in allen Bereichen des historischen Geschehens.
Auf besondere Resonanz stieß die Integration der vier Partnerländer des Historikertags (Polen, Estland, Lettland und Litauen), die explizit vom polnischen Historikerverband sehr begrüßt wurde.
Sektion »Mythos und Raum. Identitäsbildungs- und Legitimationsstrategien am Beispiel ausgewählter ostmitteleuropäischer Grenzregionen«
Mittwoch, 15.09.2004, 09.00–13.00 Uhr
Vorträge
- Heidi Hein, Marburg
- Mythos und Raum
Mythen werden als Produkt bestimmter politischer und gesellschaftlicher Vorstellungen verstanden, die historisch und damit veränderlich sind. Sie stellen durch ihre Vermittlungs- und Ausdrucksformen eine spezifische Form politischer Kommunikation dar, die dazu dient, historisches Gedächtnis und Identität zu vermitteln und Gebietsansprüche zu legitimieren. […]Olaf Mertelsmann, Tartu
- Die Region Ida-Virumaa (Narva) als Zivilisationsgrenze und Bollwerk gen Osten
Der Grenzverlauf zwischen Estland und Russland entlang der Narowa bildete sich bereits im 13. Jahrhundert im Zuge der Eroberung Estlands durch Kreuzritter heraus. Sie zählt zu den ältesten Grenzen Europas und unterlag nur geringfügigen Änderungen. […]Dr. Werner Benecke, Göttingen
- Der Kresy-Mythos
Ein besonderer, wenngleich niemals verbindlich definierter Bestandteil der polnischen Adelsrepublik, die im ausgehenden 18. Jahrhundert von ihren mächtigen Nachbarn geteilt wurde, waren die »Kresy«. Mit diesem assoziationsreichen Begriff, der in etwa dem deutschen Wort »Grenzland« entspricht, bezeichnete man die weit nach Osten reichenden Territorien Litauens, Weißrusslands und der Ukraine, die zwar im politischen Sinne zu Polen gehörten, niemals aber von einer ethnisch polnischen Bevölkerungsmehrheit besiedelt waren. […]Jerzy Kochanowski, Warschau
- Die Kresy als Erinnerungsort
Dieser Vortrag greift den im dritten Vortrag vorgestellten Mythos der polnischen Ostgebiete (Kresy) auf und zeigt, ob und wie sie nach 1945 als Erinnerungsorte in Polen und in der Emigration in den 1950er und 1980er Jahren dienten. Mit der Teilung Europas in Folge des Hitler-Stalin-Paktes gingen die Kresy in den territorialen Bestand der Sowjetunion über, der Anschluss an die UdSSR war gleichbedeutend mit einer massiven Deportation der polnischen Bevölkerung. […]Antje Johanning, Düsseldorf
- Mythische Raumvermessung. Mythen schlesischer Landschaften in Texten des 19. und 20. Jahrhunderts
Im Rahmen des Vortrags werden historische Raumkonstruktionen in der Literatur Schlesiens im 19. und 20. Jahrhundert daraufhin befragt, welche politischen Mythen und regionalen Identitätskonzepte vermittelt werden. In theoretischer Hinsicht wird dabei versucht, die Funktionen von Mythen und Räumen in Historiographie, Publizistik und Literatur und ihre Bedeutung für die Herausbildung einer regionalen oder nationalen Identität zu untersuchen. […]
Sektion »Arbeit am nationalen Raum. Deutsche und polnische Rand- und Grenzregionen im Nationalisierungsprozess um 1900«
Mittwoch, 15.09.04, 15.00–18.00 Uhr
Vorträge (Auswahl)
- Andreas Kossert, Warschau
- Wilhelminische Ostmarkenpolitik als infrastrukturelle Durchdringung? Die Region Masuren und der deutsch-polnische Antagonismus
Aus Berliner Perspektive blieb Masuren bis zur Reichsgründung ein peripheres Grenzgebiet im Osten Preußens, von einer polnischsprachigen, aber evangelischen Bevölkerung bewohnt, in der Öffentlichkeit kaum beachtet und wirtschaftlich rückständig. Nach 1871 richtete der deutsch-polnische Konflikt seinen Fokus auch auf Masuren, wodurch die Region zu einem Objekt nationaler Legitimationsansprüche wurde. […]Christoph Mick, Tübingen
- Die Ukrainermacher und ihre Konkurrenten: Strategien der nationalen Vereinnahmung des Landes in Ostgalizien
Der Beitrag beschäftigt sich mit dem Milieu der ukrainischen Nationalbewegung und den Methoden und Medien der Ukrainisierung von Bevölkerung und Raum zwischen 1900 und 1930. Um die Jahrhundertwende konkurrierten in Ostgalizien mehrere nationale Projekte, die allesamt auf die griechisch-katholischen Bauern zielten. Die Bauern definierten sich bis weit ins 19. Jahrhundert über ihren Glauben, ihre soziale Stellung und ihren Wohnort. […]Anna Veronika Wendland, Leipzig
- Region ohne Nationalität, Kapitale ohne Volk: Wilna als litauisches Hauptstadtprojekt und der nationale Argumentationswettlauf um das polnisch-litauische Grenzland
Um 1900 bestand die Bevölkerung der an der westlichen Peripherie des Russischen Reiches gelegenen Gouvernementshauptstadt Wilna (poln. Wilno, lit. Vilnius, jidd. Vilne) überwiegend aus Polen und Juden. Das agrarisch geprägte Umland war aus der Perspektive der nationalen Aktivisten ein noch unbeackertes Feld der »nationalen Arbeit«: Die bäuerliche Bevölkerung lebte in den Traditionen der agrarischen Gesellschaft, sprachlich-konfessionelle Zuordnungen waren nicht eindeutig, es dominierten lokale Identitäten. […]
- www.historikertag2004kiel.de
Weitere Informationen auf den Internet-Seiten des Historikertages 2004