Markus Meckel hatte sein Referat nicht schriftlich vorbereitet und stellte dem Kulturforum deshalb das Manuskript seiner Rede im Deutschen Bundestag vom 04.07.2003, das nach seinen Angaben die wesentlichsten Argumente enthalte und an Aktualität nicht eingebüßt habe, zur Verfügung.
Vertreibungen haben im Europa des 20. Jahrhunderts unsägliches Leid über Millionenunschuldiger Menschen gebracht. Ich freue mich sehr darüber, dass wir heute dieses Leidesgedenken und darüber entscheiden, ein europäisches Zentrum gegen Vertreibungen zuerrichten. Gleichzeitig sprechen wir eine Einladung an unsere europäischen Partner aus, sich nicht nur an der Ausführung eines solchen Zentrums zu beteiligen, sondern schon an derEntwicklung einer Konzeption mitzuwirken, um ihre eigenen Perspektiven und Erfahrungenin dieses gemeinsame Projekt mit einzubringen.
Bei einem solchen Zentrum wird es nicht nur um die Aufarbeitung und Dokumentation der Vergangenheit gehen, sondern ebenso um die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft. Noch in der jüngsten Vergangenheit haben wir in der Mitte Europas auf dem Balkan Vertreibungen erlebt. Auch wenn Demokraten wie Franklin D. Roosevelt oder Winston Churchill vor einem halben Jahrhundert noch glaubten, Vertreibungen sein ein legitimes Mittel, um politische Stabilität zu schaffen, so lehnen wir dies heute in aller Klarheit ab. Vertreibungen beruhen auf der Annahme von Kollektivschuld, sie verstoßen gegen geltendes Völkerrecht und setzen elementare Menschenrechte außer Kraft. Wir müssen heute alles dazu beitragen, dass so etwas in Zukunft nicht wieder geschieht. Um ein Zeichen zu setzen und die Geschichte für die gegenwärtige und zukünftige Generationen erfassbar und greifbar zu machen, möchten wir solch ein Zentrum errichten.
Erfreulich ist, dass es unter uns einen breiten Konsens darüber gibt, dass wir dieses Thema mit europäischen Partnern gemeinsam dieses Thema angehen sollen. Gerade die Diskussionen im Auswärtigen Ausschuß haben gezeigt, dass über alle Fraktionen hinweg eine europäische Ausrichtung des Zentrums gegen Vertreibungen befürwortet wird. Die Einladung, sich zu beteiligen, gilt allen europäischen Partnern. Ich denke insbesondere an Polen, Tschechen, Ungarn und Slowaken, aber natürlich auch an die Ukraine und Bosnien-Herzegowina – an alle Europäer, die in der Vergangenheit von Vertreibungen betroffen waren.
Es ist wichtig, diesen Ansatz über nationale Grenzen hinweg zu verfolgen. In der Mitte Europas ist unsere jeweilige nationale Geschichte eng miteinander verwoben. Jedes allein nationale Projekt birgt die Gefahr, dass es bei den Nachbarn für Aufregung und Verunsicherung sorgt. Wir müßten Sorge haben, dass solch ein nationales Projekt als gegen jemand anderen gerichtet verstanden wird. Zudem würden sich unsere Nachbarn fragen, warum wir über Themen diskutieren, die auch ihre nationale Geschichte betreffen, ohne sie zu konsultieren. Es kann und darf nicht darum gehen, das Leid des eigenen Volkes gegen das der anderen zu wenden oder aufzurechnen. Die jeweiligen historischen Hintergründe und Zusammenhänge von Vertreibungen und zwangsweisen Umsiedlungen waren sehr verschieden – das Leid der betroffenen Menschen dagegen ähnelt sich sehr. Wenn es uns gelingt, gemeinsam diese schwierige Geschichte aufzuarbeiten, wäre dies für die Zukunft Europas ein wichtiges Signal. In Mitteleuropa wäre dies zugleich ein Ausdruck wie auch ein weiterer Schritt im Zusammenwachsen Europas. Natürlich können und möchten wir niemanden dazu zwingen, sich an der Debatte zu beteiligen. Dies bleibt unseren Partner überlassen, wir glauben aber, das es gut wäre, miteinander in diesen Dialog zu treten.
Ich begrüße, dass auch im Antrag der CDU/CSU-Fraktion davon gesprochen wird, die »weltweite Vertreibung« zu dokumentieren und damit »Wege der Versöhnung und Verständigung« aufzuzeigen. Auch von »Europa« wird gesprochen. Leider weist das, was der Bund der Vertriebenen und Edmund Stoiber zu diesem Thema sagen, in eine andere Richtung. Edmund Stoiber z.B. hat auf dem Deutschlandtag der Ostpreußen am 23. Juni in Leipzig die Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen aufgegriffen. Er möchte dieses Zentrum, das auch nach seinen Vorstellungen in Berlin entstehen soll, auf die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten beschränken. Es spricht deshalb von einer »nationalen Errinerungsstätte«. Auch Frau Steinbach macht immer wieder deutlich, dass sie sich ein Zentrum gegen Vertreibungen nur als nationales Projekt vorstellen kann.
Wir wenden uns gegen ein nationales Projekt und werden uns für ein gemeinsames Herangehen mit unseren europäischen Partnern entscheiden. Deshalb legen wir heute auch keinen Ort eines Zentrums fest. Es ist richtig, dass ich vor einigen Monaten Breslau als eine Möglichkeit vorgeschlagen habe. Ich halte Breslau auch nach wie vor für eine gute Idee. Aber natürlich sind auch andere Orte möglich. Eine Entscheidung über den Ort sollte in einem europäischen Dialog gefaßt werden. Zudem könnte der Bundestag heute auch gar nicht über Breslau entscheiden, denn dazu hat er gar kein Recht. Dies könnte nur ein polnisches Angebot sein! Die Zukunft wird zeigen, ob es in Polen ein Interesse gibt, sich an diesem Projekt zu beteiligen und möglicherweise sogar Breslau als Ort des Sitzes vorzuschlagen.
Unser Antrag läßt nicht nur bewußt die Frage des Ortes, sondern auch die der Konzeption und der Trägerschaft eines europäischen Zentrums gegen Vertreibungen offen. Dies hat nichts damit zu tun, dass wir wichtigen Fragen ausweichen wollen. Diese Offenheit ist die innere Logik unseres Antrages! Würden wir entscheidende Fragen schon beantworten, dann wäre der Antrag keine ehrliche Einladung und kein ehrliches Angebot an unsere europäischen Partner, sich an der Ausarbeitung des Projektes von Anfang an zu beteiligen. Wir wollen sie nicht vor festgesetzte Tatsachen stellen, sondern gemeinsam eine Konzeption erarbeiten und über Ort und Trägerschaft entscheiden.
In naher Zukunft wird es also entscheidend darauf ankommen, wie unsere europäischen Partner reagieren. Der Bundestag lädt sie zur Mitwirkung ein, es bleibt ihnen überlassen, diese Einladung anzunehmen und damit Einfluß auf die Gestaltung des Zentrums zu nehmen.
So könnte sich möglicherweise schon Ende diesen Jahres, nach den Wahlen zum Deutschen Bundestag, eine Kommission mit Vertretern aus verschiedenen Ländern, die von Vertreibungen betroffen waren oder sind, bilden, die ein gemeinsames Konzept und Vorschläge für den Ort erarbeitet. Sicherlich wird die Beantwortung dieser Fragen einige Zeit in Anspruch nehmen. Angesichts der Sensibilität des Themas wird es auch notwendig sein, dass der Dialog sorgfältig und ausführlich geführt und in allen beteiligten Ländern öffentlich begleitet wird.
Ein solches Zentrum gegen Vertreibungen kann natürlich nur ein Baustein in unserem Bemühen sein, deutlich zu machen, dass wir Vertreibungen ablehnen. Wir können auch auf ganz anderen Ebenen unsere Aktivitäten verstärken. Schon 1992, angesichts der Kriege im ehemaligen Yugoslawien, hat die SPD-Bundestagsfraktion auf Initiative von Freimut Duve in einem Antrag angeregt, in internationalen Gremien auf eine »Internationale Konvention gegen Vertreibungen« hinzuwirken. Diese Konvention sollte Vertreibungen von Minderheiten oder Bevölkerungsgruppen verurteilen und sowohl die völkerrechtliche wie strafrechtliche Ahndung möglich machen. Ich halte es für lohnenswert, diese Initiative wieder aufzugreifen.