Beitrag zum Internationalen Colloquium »Ein Zentrum für Vertreibung?« vom 14. – 16.03.2003 in der Akademie Sankelmark
»Wir laden Deutsche und Polen zur Begegnung, zum Austausch über Geschichte, Kultur und Landeskunde sowie zum Gespräch über kommunale und regionale Entwicklung. Wir wollen erkunden, wie die früheren deutschen und die heutigen polnischen Einwohner von Stadt und Kreis und mit ihnen die junge Generation Brücken bauen können von der Vergangenheit in die Zukunft, zu partnerschaftlicher Zusammenarbeit in Europa.«
Mit diesen Worten lud die Ostsee-Akademie Travemünde im Jahr 2000 zur Veranstaltungsreihe »Nachbarschaft in Pommern« ein. Insgesamt wurden damals sechs deutsch-polnische Begegnungen in Kommunen Hinterpommerns durchgeführt, d.h. in den heutigen Wojewodschaften Westpommern und Pommern bzw. Pommerellen. Im einzelnen handelte es sich um die Städte Greifenhagen/Gryfino, Naugard/Nowogard, Pyritz/Pyrzyce, Kolberg/Kołobrzeg, Stolp/Słupsk und Bütow/Bytów. Hinzu kam im vergangenen Jahr, nun bereits verantwortet von der Academia Baltica, ein Seminar in Stuhm/Sztum im früheren Westpreußen. Und für dieses Jahr ist ebenfalls eine deutsch-polnische kommunale Begegnung in Lippehne/Lipiany in der Neumark geplant. Von den Erfahrungen, die wir bei diesen Begegnungen gemacht haben, möchte ich Ihnen im folgenden berichten – als ein Beitrag aus der Praxis, wie man Vertreibungen und ihre Folgen heute thematisieren kann.
Der Seminarreihe lag die Idee der Begegnung zugrund: deutsche Heimatvertriebene sollten in ihren alten Wohnorten den heutigen polnischen Bewohnern begegnen. Unwissenheit und daraus resultierende Ängste wollten wir auf beiden Seiten abbauen: Zu unseren Zielen zählte es, das Klischee abzubauen, alle deutschen Vertriebenen seien unverbesserliche Revanchisten oder rückkehrwillige Landaufkäufer. Den deutschen Vertriebenen wollten wir Wissen über die heutigen Bewohner vermitteln, wie und warum sie dorthin gekommen sind und wie die alte Heimat der Deutschen nach 1945 zur neuen Heimat der Polen wurde. Es lag uns auch daran, zu prüfen, ob die deutschen Vertriebenen wirklich willens und in der Lage sind, Brücken zu ihren Nachbarn im Osten zu bauen, wie es vielfach, u.a. vom Deutschen Bundestag, postuliert wurde.
An jedem Seminar nahmen etwa 20 Deutsche und 20 Polen teil, hinzu kamen Referenten und in den größeren Städten auch eine manchmal hohe Zahl von Tagesgästen, so dass zumindest zeitweise bis zu 70 – 80 Personen anwesend waren. Die simultane Übersetzung aller Seminare sorgte dafür, dass sprachliche Barrieren die Verständigung nicht behinderten. Auf Wunsch unserer deutschen und polnischen Partner haben wir versucht, auch die jüngere Generation für diese Begegnungen zu gewinnen. Dies konnte leider nur in wenigen Fällen auch verwirklicht werden.
Unsere Seminare hätten auch unter dem Motto »Von der Patenschaft zur Partnerschaft« stehen können. Fast alle Heimatkreise der Vertriebenen haben in den fünfziger und sechziger Jahren westdeutsche Kommunen oder Landkreise als Paten gewinnen können, die die Arbeit der lokalen Vertriebenenorganisationen mal mehr, mal weniger engagiert unterstützt haben. Aus diesen Patenschaften sind in den neunziger Jahren nicht selten partnerschaftliche Beziehungen zu den heute polnischen Herkunftsstädten und –gemeinden der Vertriebenen geworden. Häufig waren gerade Vertriebene Motor der Kontaktaufnahme nach Polen. Auch diese positive Entwicklung wollten wir mit unseren Seminare aufgreifen und haben deshalb sowohl Vertreter der Patenstädte bzw. –kreise als auch die jeweiligen Partnerstädte eingeladen. Ansprechpartner in Polen waren für uns die Kommunen und die Kreise. Relativ schnell haben sich die Bürgermeister und Starosten, mit denen wir Kontakt aufgenommen hatten, bereit erklärt, aktiv an der Durchführung der Seminare mitzuwirken. Nur in einem Falle äußerte ein Starost Bedenken dagegen, dass auch das Thema Vertreibung zur Sprache kommen soll. Es zeigte sich aber schon bald, dass es sich hier eher um ein Problem der Semantik als der Inhalte handelte. Denn nachdem wir im polnischen Text des Seminarprogramms das Wort »Vertreibung« durch »Aussiedlung« ersetzt hatten, wurden keinerlei Vorbehalte mehr geäußert.
Das Programm aller Seminare folgte einem einheitlichen Grundmuster, von dem wir jedoch immer wieder auch abgewichen sind: Am ersten Seminartag stand die Geschichte des jeweiligen Kreises bis 1945 auf dem Programm – aus deutscher und aus polnischer Perspektive. Kamen auf deutscher Seite überwiegend Zeitzeugen und Hobbyforscher zu Wort, so waren unter den polnischen Referenten mehr professionelle Historiker und andere Wissenschaftler vertreten. Dies führte zu einem gewissen Ungleichgewicht bei den Referaten, das sich aber kaum negativ bemerkbar gemacht hat, da im Mittelpunkt nicht das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse stand. Nach den Beiträgen zur älteren Geschichte referierten deutsche Zeitzeugen zu den Themen Flucht und Vertreibung. Um beide Aspekte darzustellen, haben wir versucht, immer einen Zeitzeugen zu finden, der von der Flucht berichten konnte und einen weiteren, der erst nach Kriegsende seinen Heimatort verlassen mußte. Es folgten polnische Zeitzeugen zu den Themen Neuansiedlung und Wiederaufbau. Häufig, aber nicht immer, handelte es sich dabei um Menschen, die ihrerseits ihre Heimat in den polnischen »kresy« verloren hatten. Den Abschluß des ersten Seminartages bildete dann in der Regel ein Diavortrag zur städtebaulichen Entwicklung vor und nach 1945 von einem deutschen oder einem polnischen Referenten.
Am zweiten Tag des Seminars fand eine Exkursion in das Umland statt. Dabei haben wir nicht nur verschiedenste Baudenkmäler besichtigt, sondern auch den Landschaftspark Unteres Odertal und den Słowinski-Nationalpark, es fanden Treffen mit Museumsleuten statt, mit Ortsbürgermeistern und –pfarrern, und einmal waren wir auch einem deutschen Landwirt zu Gast, der ein ehemaliges polnisches Staatsgut bewirtschaftete. Die Entwicklung vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart hinein diskutierten die Teilnehmer am dritten Tag der Begegnung. Hier dominierten naturgemäß die polnischen Referenten. Meist ließen es sich die Bürgermeister und Starosten nicht nehmen, selbst über die Nachkriegsentwicklung ihrer Städte und Kreise zu berichten. In anderen Städten, z.B. in Kolberg/Kołobrzeg, berichteten die Stadtarchitekten über die verschiedenen Etappen des Wiederaufbaus und – damit verbunden – der Aneignung Pommerns durch seine neuen Bewohner. Auch das Thema »Minderheiten« kam zur Sprache. Bei allen Seminaren stellte sich die deutsche Minderheit vor, in den Städten des östlichen Hinterpommern außerdem die Kaschuben. Betroffenheit bei den deutschen Zuhörern lösten fast regelmäßig die Berichte der durch die sog. »Aktion Weichsel« 1947 in die ehemals deutschen Grenzgebiete zwangsumgesiedelten Ukrainer aus. Perspektiven deutsch-polnischer lokaler Zusammenarbeit im zusammenwachsenden Europa stellten schließlich die Vertreter der deutschen Partnerstädte zusammen mit ihren polnischen Kollegen vor. Mehrere Seminare endeten mit einem ökumenischen und bisweilen auch zweisprachigen Gottesdienst, dessen Organisation manchmal mit Schwierigkeiten verbunden war, weil nicht alle katholischen Pfarrer dieser Idee aufgeschlossen gegenüberstanden. Von zentraler Bedeutung waren bei allen Seminaren die Berichte der Zeitzeugen. Die deutschen Zeitzeugen wurden meist erst durch ihre Teilnahme an dem Seminar dazu gebracht, sich ihre Erinnerungen an das Jahr 1945 wieder ins Gedächtnis zu rufen und niederzuschreiben. Für viele dürfte es auch Überwindung gekostet haben, in ihrer alten Heimat vor einem deutsch-polnischen Publikum und in Gegenwart polnischer Honoratioren über die damaligen Ereignisse zu sprechen. Die Stimmung im Saal war nicht selten beklemmend, denn die Berichte waren natürlich sehr emotional und dürften niemanden unberührt gelassen haben. Danach äußerten jedoch viele Teilnehmer ihre Zufriedenheit, dass gerade dieses schwierige Thema angesprochen wurde – es hatte für den weiteren Verlauf der Begegnung geradezu befreiende Wirkung.
Die Berichte der polnischen Zeitzeugen wiederum lösten bei den deutschen Anwesenden Erstaunen aus. Den meisten deutschen Vertriebenen war häufig nicht bekannt, daß es sich bei den heutigen polnischen Bewohnern dieser Region teilweise ebenfalls um Vertriebene handelt, deren Schicksal viele Parallelen zu ihren Kriegs- und Nachkriegserfahrungen aufweist. Dies gilt in besonderem Maße für die zwangsumgesiedelten Ukrainer, über deren Anwesenheit im Norden Polens so gut wie nichts bekannt war.
Mancher deutsche Seminarteilnehmer zeigte sich von den Berichten der polnischen Zeitzeugen beeindruckt. So sagte mir ein deutscher Pommer, der nur unter sehr großen Vorbehalten zu bewegen war, überhaupt an dem Seminar teilzunehmen, er sehe jetzt viele Dinge in einem andere Licht: Ausschlaggebend für ihn war die Erkenntnis, daß auch Polen und Ukrainer – wie er – ihre Heimat verloren hatten.
Neu war für die deutschen Vertriebenen die überwiegend vorurteilsfreie Offenheit der Gespräche. Viele waren mit der Erwartungshaltung bzw. Befürchtung nach Polen gereist, ihnen würde weiterhin von polnischen Historikern die alte nationale Meisterzählung der sog. »wiedergewonnenen Gebiete« präsentiert. Der gerade bei der jüngeren Generation in Polen unverkrampfte Umgang mit dem deutschen Erbe hat viele deutsche Teilnehmer unserer Seminare positiv überrascht. Zu dieser Überraschung mag auch beigetragen haben, daß dieser generationsbedingte Einstellungswandel in den klassischen Vertriebenenperiodika (zumindest in den mir bekannten) kaum thematisiert wird.
Dies heißt jedoch nicht, daß auf den Seminare nicht auch kontrovers diskutiert wurde. Dies war z.B. immer dann der Fall, wenn polnische Historiker der älteren Generation sich zum Thema Vertreibung bzw. Aussiedlung äußerten und dabei auf dem Terminus »Aussiedlung« beharrten. Wie diese Diskussionen auf deutsche Teilnehmer wirkten, geht aus einem Brief hervor, der mich nach einem Seminar erreichte. Hier heißt es: Eine ältere Dame »zweifelte die Ausführungen des polnischen Professors an«. Über seine Ausführungen hinsichtlich der »Aussiedlung« deutscher Landsleute (also nicht Vertreibung!!) sowie Ansiedlung polnischer Leute war sie sehr enttäuscht. Besonders über die Bemerkung: »Aussiedlung der deutschen Bewohner« war sie geradezu fassungslos; wörtlich sagte sie mir, dass sie am Seminarabend des 6. Oktobers 2000 während des Referats des polnischen Professors schweißgebadet gewesen sei und so schockiert, daß sie nicht in der Lage war, den »unrichtigen« Äußerungen des polnischen Professors zu widersprechen, obwohl sie das vorhatte. Sie sagte mir weiter: Ihre alte Mutter wurde von polnischen Behörden mit Stock- und Kolbenhieben aus dem Dorf Dölitz getrieben, ohne Rücksicht darauf, daß ihre alte Mutter sich krampfhaft an ihrer alten Nähmaschine festhielt, nicht nur festhielt... sie klammerte sich daran fest. Ist das Aussiedlung, frage ich???« In einem anderen Fall, nämlich gleich bei dem ersten Seminar der Reihe »Nachbarschaft in Pommern«, war es eine Gruppe junger polnischer Hobbyhistoriker, die den deutschen Zeitzeugen unter Hinweis auf Auschwitz bestritt, von einer »völkerrechtswidrigen Vertreibung« zu sprechen. Auch wenn die unterschiedlichen Sichtweisen so aufeinanderprallten (oder wie im oben zitierten Falle eher unterschwellig vorhanden und nicht immer geäußert wurden), so war es aber doch möglich, über das Thema Flucht und Vertreibung offen zu sprechen. Durch die in den Diskussionen aufgezeigten Widersprüche haben, so jedenfalls mein Eindruck, deutsche und polnische Teilnehmer voneinander gelernt. Auffällig war bei allen Seminaren die Homogenität der deutschen Teilnehmer. Da die Heimatkreise als Mitorganisatoren fungierten, gab es so gut wie keinen deutschen Teilnehmer, der noch nicht das Rentenalter erreicht hätte. Vertreter der jüngeren Generation aus Deutschland (unter 35 Jahre) fehlten fast völlig. Vielfach war es den Heimatkreisen nicht einmal möglich, 20 deutsche Teilnehmer für das Seminar zu mobilisieren. Zu denken gibt, daß dieses Problem auch bei engagierten Heimatkreisvorsitzenden auftrat, die schon ähnliche Seminare veranstaltet hatten und an einem Dialog mit Polen sehr interessiert waren.
Die deutschen Teilnehmer lassen sich meiner Meinung nach in drei Gruppen unterteilen: Eine Minderheit ist sehr an Kontakten mit Polen interessiert, pflegt zahlreiche persönliche Bekanntschaften vor Ort und setzt sich z.B. für die Errichtung von Gedenksteinen etc. ein. Dank ihrer Unterstützung war es nur möglich, diese Seminarreihe durchzuführen.
Sehr viele Teilnehmer betrachteten die Seminare primär als einen Besuch in der alten Heimat mit ein wenig Begleitprogramm. Sie sind gegenüber Polen eher indifferent bis distanziert, zeigten sich jedoch im Laufe der Seminare an der Thematik zunehmend interessiert.
Eine dritte Gruppe sind Teilnehmer mit starken antipolnischen Ressentiments. Sie interessieren sich kaum oder überhaupt nicht für die Gegenwart ihrer alten Heimat, da die Geschichte Pommerns für sie 1945 endete. Zentrales Anliegen der Vertreter dieser Gruppe ist es, auf die Unrechtmäßigkeit der Vertreibung hinzuweisen und Eigentumsansprüche einzufordern. In den Seminardiskussionen hielten sie sich dagegen auffallend zurück. Ein Teilnehmer äußerte sich nach dem Seminar in einem Brief: »Anmerken möchte ich aber auch noch zum Schluß, daß das Thema der 'Entschädigungsansprüche deutscher Heimatvertriebener' überhaupt nicht zur Sprache gekommen ist. Ihnen dürfte bekannt sein, daß in den Ostverträgen zwischen Deutschen und Polen die Entschädigungsansprüche Deutscher an Polen ausgeklammert wurden. Dieses ist zwar in Diskussionen ein unangenehmes Thema – hauptsächlich für Polen – kann aber nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden nach dem Motto: die Zeit wird es schon regulieren.«
Viele polnische Teilnehmer, die hohe Erwartungen in diese Begegnungen setzten, zeigten sich jedoch enttäuscht, als deutsche Teilnehmer lediglich eine »kleine Gruppe verbitterter alter Männer« anzutreffen – so eine polnische Teilnehmerin. Die polnischen Seminargäste waren dagegen in Alter, Herkunft und Bildung sehr gemischt. Bei einigen Seminaren waren ganze Schulklassen anwesend, bei anderen waren die polnischen Teilnehmer weitgehend mit der örtlichen Gruppe der deutschen Minderheit identisch. Rechtfertigen die Ergebnisse den Aufwand an Finanzen und Organisation? Für einen Teil der Deutschen sicherlich – sie wurden mit Ihnen völlig unbekannten Tatsachen konfrontiert (z.B. die Vertreibung der Polen und Ukrainer, das neue Verhältnis vieler Polen zur deutschen Geschichte dieser Regionen). Bisweilen waren deutliche Denkanstöße zu verzeichnen: Teilnehmer, die anfänglich sehr reserviert waren, erklärten am Ende der Veranstaltung, sie seien froh, dabei gewesen zu sein. Es erscheint mir jedoch notwendig, den Dialog zwischen Deutschen und Polen auch zu einem Gespräch zwischen den Generationen auszuweiten.