Deutsche Sprachspuren im östlichen Europa
Wolf Oschlies
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Der Sommer ist fast vorbei, die Ernte ist in die Scheuer gebracht – es darf gefeiert werden. In Osteuropa lässt man sich das nicht zweimal sagen, und wenn deutsche Gäste mitfeiern, werden sie sich ganz heimisch fühlen – weil schon der Name der Feste ganz urdeutsch, ganz altdeutsch ist.

Obwohl dieser Ursprung nicht immer sofort erkennbar ist. Slavische Sprachen agglutinieren nicht – sie kleben keine Wörter aneinander: Ein deutscher Donaudampfschiffahrtskapitän ist in keiner Slavine imitierbar. Wozu hat man denn Adjektive, die derartige Zusammenballungen von Substantiven umgehen lassen? Ein solches Adjektiv sprang mir kürzlich in der Slowakei in die Augen: Da wurden jarmočné lízátka angeboten, also Jahrmarktsleckereien. Das Adjektiv jarmočné hat zwar keine deutsche Entsprechung, ist aber deutschen Ursprungs – es wurde von jarmok gebildet, bei dem der deutsche Jahrmarkt eindeutig Pate gestanden hat. Wann das geschehen ist? Vor etwa 800 Jahren, als die ersten Deutschen in die Slowakei, damals noch »Oberungarn«, kamen und ihre Siedlungen nach altdeutscher Art bauten: Erstmal den großen Marktplatz für Wochen- und Jahrmärkte, dann die Häuser drum herum und alles möglichst hinter soliden Stadtmauern verborgen. Und weil man mit slowakischen, ungarischen, ruthenischen etc. Nachbarn friedlich zusammenlebte, haben sich in den Sprachen unserer slavischen Nachbarn unendlich viele deutsche Wörter eingenistet. Mag es in Osteuropa auch nur noch wenige Deutsche geben, wenigstens verglichen mit den rund 10 Millionen, die bis Ende des Zweiten Weltkriegs dort lebten – deutsche Wörter sind geblieben und werden immer mehr.

Sagen wir es so: Was heute der Gastarbeiter ist, der in allen slavischen Sprachen heimisch wurde, das war früher der Jahrmarkt, der überall noch quicklebendig ist. Allerdings lebt er in zwei Formen: Bei Russen bedeutet jarmarka und bei Ukrainern jarmarok so viel wie Messe: Wenn russische Blätter von jarmarka »Zelenaja nedelja« v Berline oder jarmarka igrušek v Njurnberge berichten, dann haben sie die Messe »Grüne Woche« in Berlin oder die Spielwarenmesse in Nürnberg im Blick, als Ereignisse, die schon ob ihrer streng kommerziellen Orientierung nichts mit einem deutschen Jahrmarkt zu tun haben.

Bei anderen Slaven sind Name und Veranstaltung noch »deutscher«, etwa auf einem slowakischen jarmok oder bei Tschechen, die 2004 erstmalig ihr internationales Folklore-Festival Pražský jarmark (Prager Jahrmarkt) ausrichteten und es wegen des großen Erfolgs seither alljährlich im August 2005 wiederholen. Damit haben die Prager eine Tradition wiederbelebt: Jarmarky hat es in tschechischen Dörfern und Kleinstädten immer gegeben. In polnischen übrigens auch: Co robiono dawniej na jarmarku? Handel i festyn. – Was war früher auf dem Jahrmarkt los? Handel und Festivität