Dialog – Deutsch-Polnisches Magazin, Nr. 68 • 01.11.2004
Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Magazins Dialog
Die Befürworter des Zentrums gegen Vertreibungen begründen ihren Vorschlag der Ansiedlung eines solchen zentralen Ortes in Berlin mit der Notwendigkeit, das »leidvolle« Schicksal der deutschen Vertriebenen sowie ihr Kulturerbe in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zu bewahren. Unter den Argumenten für die Gründung eines neuen Zentrums besitzt die These von der angeblichen Vermeidung dieses Themas in der Vergangenheit oder gar seiner Behandlung als »Tabuthema« einen hohen Stellenwert. Dieser These zufolge sollte es Aufgabe des Zentrums sein, jahrzehntelange Versäumnisse aufzuholen und »weiße Flecken« zu füllen. Im Eifer der seit Ende der neunziger Jahre geführten Diskussionen wird die Tatsache völlig übergangen, dass in Deutschland seit Jahrzehnten ein gut ausgebautes, von Bundes- und Landesbehörden großzügig unterstütztes Netz von Museums- und Forschungseinrichtungen existiert, die sich mit dem deutschen Kulturerbe in den Ländern Mittel- und Osteuropas beschäftigen.
Ministerialdirektor Knut Nevermann, Abteilungsleiter bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur- und Medienangelegenheiten versichert, dass das Thema von Flucht und Vertreibung der Deutschen seit den sechziger Jahren einen angemessenen Raum in den Geschichtsbüchern der gesamten BRD einnehme. »Es stimmt nicht, dass diese Materie stiefmütterlich behandelt worden ist«, versichert Nevermann. Die Förderung kultureller Aktivitäten, die der Erinnerung an die bis 1945 zu Deutschland gehörenden Gebiete dienen, machte nur einen kleinen Teil der Hilfe aus, die den deutschen Vertriebenen zuteil wurde. Bis 2003 wurden allein aufgrund des Lastenausgleichsgesetzes von 1952 Leistungen in Höhe von 64 Milliarden Euro gezahlt. Von dieser Summe entfielen 45,5 Milliarden Euro auf Entschädigungszahlungen des deutschen Staates für Verluste, die infolge der Vertreibung erlitten wurden. Die Soforthilfen, die nach Kriegsende noch vor Inkrafttreten des Gesetzes ausgezahlt wurden, werden auf eine Höhe von 6,2 Milliarden DM geschätzt (3,1 Milliarden Euro).
Nach ihrer Regierungsübernahme 1998 beschloss die Regierung von SPD und Grünen unter Gerhard Schröder das Profil der Museums- und Forschungseinrichtungen, die sich mit dem deutschen Kulturerbe im Osten befassen, zu verändern. Von Institutionen, die hauptsächlich die Klientel der Vertriebenen bedienen, wandeln sich diese in Zentren, die offen sind für Kontakte und die Kooperation mit den östlichen Nachbarn. »Zu Zeiten des Kalten Krieges wurde die Forschung oft zur Rechtfertigung von Ansprüchen benutzt«, sagt Christina Weiss, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur- und Medienangelegenheiten. Die Deutschen bemühten sich mithilfe von historischen Argumenten ihr Recht auf Heimat zu untermauern, die Polen suchten wiederum Beweise für den urpolnischen Charakter dieser Gebiete. »Die Wissenschaft hat sich schon seit langem von dieser Dienerrolle gegenüber der Politik emanzipiert«, stellt Weiss fest. Bei der finanziellen Förderung von Forschungsprojekten und der Renovierung von Kultur- und Geschichtsdenkmälern der Deutschen in Osteuropa verfolgt die deutsche Regierung keine versteckten nationalen Interessen. »Es geht eher darum, gemeinsam mit unseren Partnern in Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien und den baltischen Ländern unsere Geschichte zu erforschen, die gemeinsame kulturelle Vergangenheit zu akzeptieren und so zur Versöhnung beizutragen«, versichert Weiss.
Bestes Beispiel für ein Museumsprojekt mit neuem Charakter ist das Pommersche Landesmuseum in Greifswald. »Bei unserer Tätigkeit orientieren wir uns ausschließlich an wissenschaftlichen Kriterien. Weder politische Parteien noch Interessengruppen, einschließlich der Vertriebenenorganisationen, entscheiden über unsere Programmgestaltung«, versichert Museumsdirektor Uwe Schröder, ein langjähriger Mitarbeiter der Universität. »Die Unabhängigkeit des Museums wird von allen politischen Gruppierungen anerkannt«, fügt der deutsche Historiker nicht ohne Stolz hinzu. Schröder prophezeit, die Problematik von Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg werde »nur eine von vielen und keineswegs der wichtigste Aspekt« der gegenwärtig im Aufbau befindlichen Dauerausstellung zur Geschichte Pommerns sein. Der Direktor betont, über die Art der Darstellung dieses kontroversen Themas würden nur die Bewertungen der Wissenschaftler, nicht die Emotionen der Vertriebenen entscheiden. Solche Stellungnahme von einer Person, die immerhin eine Einrichtung leitet, deren gesetzlich festgelegtes Ziel es ist, das kulturelle Erbe der Gebiete Mittel- und Osteuropas im Bewusstsein der Deutschen zu bewahren, aus denen sie nach 1945 vertrieben wurden, wäre vor nicht allzu langer Zeit noch als Provokation angesehen worden.
Die Verpflichtung, die kulturelle Tradition der ehemaligen deutschen Gebiete zu pflegen, ergibt sich für die deutschen Bundes- und Landesbehörden aus Paragraph 96 des 1953 vom Bundestag angenommenen Bundesvertriebenengesetzes. Die aus der Staatskasse subventionierten Einrichtungen waren programmatisch und personell mit den deutschen Landsmannschaften verbunden und wurden als Einrichtungen angesehen, die den Kreisen der Vertriebenen zu dienen hatten. »Noch heute kommt es vor, dass die Chefs der Landsmannschaften unmittelbar auf die Arbeit der Museen und Forschungseinrichtungen Einfluss nehmen«, merkt Schröder kritisch an. Das seit vier Jahren arbeitende Museum in Greifswald gehört zusammen mit dem Schlesischen Museum in Görlitz und dem Deutschen Kulturforum Östliches Europa zu den jüngsten Einrichtungen, die erst nach der deutschen Vereinigung gegründet wurden. Nach Ansicht des Greifswalder Museumsleiters sollte seine Einrichtung die Rolle eines »Diskussionsforums« für die Länder spielen, die in Gegenwart und Vergangenheit mit Pommern verbunden waren und sind, also für Deutschland, Polen, Dänemark und Schweden. Die Worte des Direktors sind nicht nur leere Floskeln. Die in Greifswald organisierten Ausstellungen werden auch in Polen gezeigt, in Stettin, Stolp, Kolberg und Lodz. Im wissenschaftlichen Beirat sitzt neben Vertretern aus Dänemark und Schweden auch Eugeniusz Kus, Direktor des Schlosses der Pommerschen Herzöge in Stettin. Im Herbst finden polnische Kulturtage statt.
Der Start des Museums, eine seit Sommer 2000 eröffnete Bildergalerie, ist ein gutes Beispiel für die wechselhaften Geschicke Pommerns. Der Grundstock der Sammlung, die etwa 200 Bilder, unter anderem von Frans Hals, Caspar David Friedrich, Max Liebermann und Vincent van Gogh umfasst, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts im damals deutschen Stettin angelegt. 1945 lagerten die deutschen Behörden die Bilder aus Angst vor Bombenangriffen nach Coburg und später nach Kiel aus. Seit vier Jahren kann man sie in Greifswald besichtigen. Diese Möglichkeit nutzten bisher fast 100.000 Menschen, darunter auch Touristen aus Polen, die Erläuterungen zu den wichtigsten Werken auch auf Polnisch hören können.
Zu den neuen Grundsätzen der Einrichtungen, die sich mit der deutschen Kulturtradition im Osten beschäftigen, gehört auch ihre Abnabelung von den Einflüssen der Vertriebenenorganisationen. »Kulturaustausch ist Verständigungspolitik mit West und Ost« lesen wir in den vor vier Jahren verfassten Richtlinien der Regierung. »Austausch und Verständigung sind Aufgaben des ganzen Landes, aber keine Domäne einzelner Interessengruppen wie etwa der Vertriebenenverbände« fügen die Verfasser des Programms hinzu. Weiss unterstreicht, Aufgabe der vom Staat unterstützten Einrichtungen sei nicht, Klientelpolitik für Vertriebene zu machen, sondern die deutsche Gesellschaft für dieses Thema zu gewinnen sowie mit den Nachbarländern Deutschlands zusammenzuarbeiten. Die neuen Grundsätze stießen auf heftige Proteste der Vertriebenenverbände und der sie unterstützenden christdemokratischen Parteien CDU/CSU. »Die rot-grüne Regierung ignoriert die Kultureinrichtungen der deutschen Vertriebenen und schließt sie aus dem finanziellen Förderungssystem aus«, alarmieren die Verfasser eines Resolutionsentwurfs von CDU/CSU, dessen erste Lesung im Bundestag im Frühsommer dieses Jahres stattfand. Kein Wunder – erhöhte doch die Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl die Finanzhilfe für die Kulturarbeit der Vertriebenen von drei Millionen DM (1,5 Millionen Euro) 1982 auf 23 Millionen Euro 1998. Wie die Wochenzeitung Die Zeit im letzten Jahr berichtete, wurden aus diesen Mitteln unter anderem 30 Stellen für Kulturbeauftragte bei den Vertriebenenverbänden geschaffen. »Die Landsmannschaften, die Zuschüsse erhalten haben, bildeten ein gewisses Reservoir an Wählerstimmen für die Christdemokraten« lesen wir in der Zeit. Wie die Hamburger Wochenzeitung ausgerechnet hat, übersteigt die Höhe der Subventionen für die Kulturzentren der Landsmannschaften die der gesamten staatlichen Filmförderung.
Im Jahr 2000 kürzte die Regierungskoalition von SPD und Grünen die Mittel auf ca. 20 Millionen Euro. Im laufenden Jahr liegt dieser Posten noch bei 14, 8 Millionen Euro und wird sich die nächsten Jahre wohl auf diesem Niveau halten. Zur Zeit werden aus den Kassen von Bund und Ländern 15 Museen, Forschungs- und Kultureinrichtungen unterstützt. Neben den Museen in Greifswald und Görlitz sowie dem Forum in Potsdam befinden sich auf der Liste der unterstützten Institutionen unter anderem Standorte in Lüneburg, Münster, Gundelsheim, Ulm und Regensburg. »Lieblingskind« der Ministerialbeamten ist das im Dezember 2000 gegründete Deutsche Kulturforum Östliches Europa in Potsdam. Einer der ersten Preisträger des seit dem vergangenen Jahr vergebenen Preises ist der polnische Architekt Andrzej Tomaszewski. Bei einer Diskussion eben dieses Potsdamer Forums schlug der SPD-Politiker Markus Meckel vor, das Zentrum gegen Vertreibungen nicht in Berlin, sondern in Breslau anzusiedeln und löste damit die bis heute andauernde heftige Debatte über den Standort des Zentrums aus.
Zu den Einrichtungen, die nach der Reform die staatliche Subventionierung eingebüßt haben, gehört die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen mit Sitz in Bonn. Unter Federführung dieser Institution werden unter anderem Publikationen über die »offenen« Vermögensfragen in den deutsch-polnischen Beziehungen herausgegeben.
Kulturstaatsministerin Weiss ist überzeugt, dass es in Deutschland eine genügende Anzahl von Einrichtungen gibt, die sich der Kultur des ehemaligen deutschen Ostens widmen. »Wir brauchen weder ein neues nationales Zentrum noch eine neue Ausstellung. Wir haben alles, was wir brauchen«, erklärt Weiss´ Mitarbeiter Knut Nevermann. Die Regierungsvertreter weisen außerdem auf die vom Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland vorbereitete Ausstellung »Flucht und Vertreibung« hin, deren Eröffnung für 2006 angekündigt wurde. Die neueste Idee von Christina Weiss, die mit ihren Amtskollegen aus Polen und anderen mitteleuropäischen Ländern abgestimmt wurde, ist die Einbeziehung der deutschen Museen und Forschungseinrichtungen in das internationale Netzwerk »Erinnerung und Solidarität«, welches Museen und Forschungseinrichtungen umfasst, die sich mit der Dokumentation und wissenschaftlichen Erforschung von Zwangsmigrationen und Vertreibungen im 20. Jahrhundert beschäftigen. Nach Ansicht von Weiss ist das die einzige vernünftige Alternative zu dem vom Bund der Vertriebenen vorangetriebenen Projekt eines nationalen Zentrums gegen Vertreibungen in Berlin, das um ein Haar »den Frieden in Europa gefährdet hätte«.
Aus dem Polnischen von Ulrich Heiße
Der Journalist Jacek Lepiarz ist Korrespondent der Polnischen Presseagentur (PAP) in Deutschland.
Blühende Erinnerungslandschaft
Der gesamte Artikel in der Online-Ausgabe des Magazins Dialog
Gemeinsames Kulturerbe als Chance
Die Deutschen und ihre Nachbarn im östlichen Europa