Vortrag anlässlich des Symposiums Gemeinsames Kulturerbe als Chance am 20. September 2004 im Berliner Kronprinzenpalais
Prof. Dr. Karl Schlögel, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/O.
Prof. Dr. Karl Schlögel: »Wie bringt man das große Kapitel des deutschen Ostens dorthin zurück, wo es seit jeher hingehört: in den europäischen Zusammenhang?«Prof. Dr. Karl Schlögel: »Wie bringt man das große Kapitel des deutschen Ostens dorthin zurück, wo es seit jeher hingehört: in den europäischen Zusammenhang?«

Bei der Betrachtung der deutschen Geschichte im östlichen Europa hat man sich in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland von einer verengten nationalen Wahrnehmung gelöst. Das eröffnet neue Perspektiven.

Das neue Europa und der Deutsche Osten – ein Anachronismus?

Es scheint als ein heilloser Anachronismus, sich im Augenblick der Erweiterung der Europäischen Union mit dem »Deutschen Osten« zu beschäftigen. Das Neue Europa, das am 1. Mai auch formell Gestalt angenommen hat, ist etwas Gegenwärtiges, der Deutsche Osten ist von gestern, etwas Gestriges. Das neue Europa kann man mit Händen greifen, es pulsiert, der Deutsche Osten ist vergangen, Geschichte. Das neue Europa leuchtet in kräftigen Farben von Kodak und Fuji, das Europa, dem der »Deutsche Osten« angehört hat, ist schwarz-weiß, mit einem leichten Gelbstich. Wir prägen uns ein, wo die neuen Grenzen verlaufen und haben schon Mühe, die alten Grenzverläufe zu erinnern. Für die ganz Jungen gibt es die Grenzen schon nicht mehr. Sie pendeln und surfen ohne Probleme über die Grenzen hinweg. Die Rede vom Deutschen Osten oder der deutschen Kultur im östlichen Europa wirkt da leicht unzeitgemäß und liegt wie ein erratischer Block in dieser neuen, wie rasend veränderten Landschaft. Ein neuer Horizont baut sich auf, in dem ein Deutscher Osten eigentlich keinen Platz hat. Deutscher Osten ist etwas für ältere Leute. Der Name ist wie ein Epitaph, mit dem ein Ende beglaubigt ist, das Ende einer Geschichte. So sieht es jedenfalls aus.

Aber wer in dieses neue Europa hineingeht, betritt einen Schauplatz, auf dem es zu überraschenden Begegnungen kommt: zu Begegnungen mit einer Geschichte, die die meisten schon vergessen hatten. Wer im neuen Europa unterwegs ist, bekommt es mit Hinterlassenschaften dieser Geschichte zu tun, bald als Trümmer, die man mit bloßem Auge erkennen kann, bald als Spurenelemente, die man nur mit einiger Vorbereitung und Schulung erkennen kann. Das sind dann Städte, die einen russischen oder polnischen oder litauischen Namen haben, von denen es aber auch einen deutschen Namen und einen deutschen Stadtplan gibt. Das sind Inschriften an Geschäftshäusern, Hafenspeichern, Pensionen oder Hotels, in denen man als Tourist unterwegs ist. Das sind Grundrisse von Häusern, die uns irgendwie vertraut vorkommen. Es sind die Städte, deren Namen keiner mehr nennt, und die bei ihrem alten Namen zu nennen, wir eben erst wieder anfangen. Touristen werden in diesem Gelände leicht zu Archäologen, und Landschaften mit all ihrem Inventar leicht zu Palimpsesten, in denen man mit Neugier zu lesen beginnt. Es kann auch nicht anders sein. Wir sind mit dem deutschen Osten und den Deutschen im Osten Europas verbunden, auch wenn wir keinen besonderen Wert darauf legen und darauf keine besondere Aufmerksamkeit verwenden. Wir brauchen nur einmal kurz um uns zu blicken; auf die Bücher, die gerade auf dem Tisch liegen: die soeben erschienenen Kant-Biographien, die nicht nur vom Ewigen Frieden oder dem kategorischen Imperative handeln, sondern von der Stadt, in der Kant die Welt gedacht hat; eine Autobiographie – es ist die von Reinhard Baumgart –, die uns nach Breslau führt; ein Roman – Landnahme von Christoph Hein –, der uns mit der Erfahrung der »Übersiedler« der DDR bekanntmacht; die Vita des jetzigen Bundespräsidenten, dessen Lebensstationen von Bessarabien über Wolhynien und Leipzig in den deutschen Südwesten führen und von dort nach Washington D.C. und Berlin. Es ist nicht nur wachsende zeitliche Distanz, nicht bloße Indifferenz und Gleichgültigkeit, wenn uns dieses Thema fremd geworden ist, sondern es hat etwas mit der Geschichte selbst zu tun, wenn es uns schwer fällt, davon zu sprechen: mit verbrannter Erde, Ostfront, Generalplan Ost, Einsatzkommandos, Deportationen ins Gas, schließlich Flucht und Vertreibung. Und doch: Es gibt eine Geschichte des Deutschen Ostens, die mehr und die älter ist als die Nazi-Geschichte. Es gibt eine große, nach Jahrhunderten bemessene Geschichte, beruhend auf der Arbeit von Generationen, verkörpert in einem unerhörten kulturellen Reichtum, Weltoffenheit und Weltläufigkeit, die durch die Katastrophe des 20. Jahrhunderts zugrundegerichtet worden ist, die aber deswegen nicht ungeschehen gemacht werden kann. Es gibt eine Geschichte, die zu vergegenwärtigen uns angelegen sein muss, ja: ohne die wir ein angemessenes Bild vom mittleren und östlichen Europa kaum gewinnen können.

Wie aber spricht man darüber, ohne in einen nostalgisch-verklärenden Ton zu verfallen? Wie spricht man vom Deutschen Osten und den Deutschen im östlichen Europa ohne volkstumsmäßigen Mief und auf eine moderne Weise? Wie spricht man auf eine nicht-revisionistische Weise von einer zweiten Aneignung? Wie finden wir jenen Ton, der die Musik macht und der alle ermuntert mitzuarbeiten an der Verfertigung eines angemesseneren Bildes auf der Höhe der Zeit? Und wie bringt man endlich das große Kapitel des deutschen Ostens dorthin zurück, wo es seit jeher hingehört: in den europäischen Zusammenhang?

Der Zauber des Deutschen Ostens und wie man von ihm sprechen kann, ohne Revisionist zu sein

Dass der Deutsche Osten etwas von großer, ja überwältigender Schönheit war, kann man bei Gräfin Dönhoff lernen. In ihren Beschreibungen und Erinnerungen schlägt sich die Erfahrung einer einzigartigen Natur und Kulturlandschaft nieder. Sie sind – wie manch andere literarische Zeugnisse auch – Vergegenwärtigungen einer in Europa untergegangenen Landschaft und Lebensform. Es ist wichtig, sich dem Zauber der von ihr geschilderten Landschaften auszusetzen. Denn es wird darin sichtbar: Es gibt eine Art des Sprechens und Nachdenkens über die untergegangene Welt, die zwar erfüllt ist vom Zauber und von der Trauer, aber gänzlich frei von Ressentiment und Bitterkeit. Es gibt einen Zauber Ostpreußens, eingefangen in wunderbaren Naturschilderungen und Beschreibungen jener Welt von gestern, noch vor aller politischen Erörterung und Reflexion. Gräfin Dönhoff, sensibel, aber unsentimental, geschichtlich versiert, aber nicht nostalgisch, hat wohl verstanden, dass sich dieser Zauber nicht nur auf sie selbst erstreckte. Im Vorwort zu Namen, die keiner mehr nennt, nennt sie ihr Buch ein Buch des Abschied von den Bildern ihrer Jugend. Der von Gräfin Dönhoff geschilderten Landschaft ließen sich andere hinzufügen, die für Jahrzehnte aus dem Blickfeld verschwunden und damit »untergegangen« waren – die Steilküste des Samlands, die Dünen der Nehrung und die Badeorte. Der Deutsche Osten besteht ja gleichsam aus einer Karte, auf der die lieux de memoire eingetragen sind: Ordensburgen, Dome, Zisterzienserklöster, Herrensitze, Flusslandschaften, und immer wieder: Städte – Königsberg, Tilsit, Allenstein, Breslau, Stettin. Was geschieht mit einer Kultur, der diese Räume, diese lieux de memoire, die Städte und Landschaften abhanden gekommen sind, die für Jahrhunderte Produktionsstätten der deutschen Sprache, Literatur und Kultur gewesen waren? In einer Ausstellung der frühen 1990-er Jahre, die »Großen Deutschen aus dem Osten« gewidmet war, sehen wir die Porträts von Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, von Georg Dehio und Otto Hinz, von David Hilbert und Ernst von Baer, von Andreas Gryphius und Johann Gottfried Herder, von Erich Mendelsohn und Andreas Schlüter, von Jakob Böhme und Johann Georg Hamann. Das Verschwinden der Orte und Landschaften aus dem Horizont der Deutschen war ein großes Unglück, Widerschein der säkularen Katastrophe mit dem Namen »Zusammenbruch des Deutschen Ostens«, die der Zerstörung Europas durch die Deutschen gefolgt war. Sie hat den Deutschen die Sprache verschlagen, daher ist er bis heute das bevorzugte Feld für Ressentiment, Aufrechnen, Abrechnen, Eiferertum. Gräfin Dönhoff hatte aber gezeigt, dass es schon sehr früh eine Sprache gab, in der man über die Katastrophe sprechen konnte, ohne in Rechthaberei und Gleichgültigkeit abzugleiten. Sie war auch deshalb so glaubwürdig, weil sie aus ihrem Schmerz und ihrer Trauer nie ein Hehl gemacht hatte. Sie, die entschieden für die Neue Ostpolitik gestritten hatte, vermochte es doch nicht, im November 1970 dabei zu sein, als der deutsch-polnische Vertrag unterzeichnet wurde. »Zwar hatte ich mich damit abgefunden, dass meine Heimat Ostpreußen endgültig verlorengegangen ist, aber selber zu assistieren, während Brief und Siegel darunter gesetzt werden, und dann , wie es nun einmal unvermeidlich ist, ein Glas auf den Abschluss des Vertrages zu trinken, das erschien mir plötzlich mehr, als man ertragen kann« (zit., Kuenheim 101).

Es gibt längst eine neue Zuwendung und lebendige Vergegenwärtigung, die sich frei gemacht hat von Rechthaberei und Revisionswünschen. Es gibt längst eine gemeinsame Arbeit am Erbe und eine Anerkennung der doppelten, wenn nicht drei- oder vierfachen Vergangenheiten von Städten und Denkmälern. Was vor 10 oder 20 Jahren noch undenkbar erschien, ist schon gute Routine geworden: der Wiederaufbau des Königsberger Doms und die Rückführung des berühmen Denkmals von Kant im Vorhof der Albertina (wenn auch als Kopie); die Wiederherstellung von Kirchen und Friedhöfen; die Arbeit an der Erfassung von in alle Winde zerstreuten Bibliotheken; Themen, die längst spruchreif geworden sind, werden von jungen Wissenschaftlern – ob deutschen, polnischen oder russischen – gemeinsam bearbeitet: die Wirkung des Bauhauses in Polen, die Entwicklung der von Flucht, Vertreibung und Aussiedlung ausgepowerten Territorien der Tschechoslowakei in der Nachkriegszeit; Studien zum »Generalplan Ost«; deutsch-polnische Quelleneditionen zur Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus Polen; die Verwandlung Stettins in Sczeczin; kulturelles Gedächtnis in einer Stadt wie Bromberg/Bydgoszcz; die Schicksale der Schwarzmeerdeutschen im Stalinismus. Das Reisen hin und her – ob touristisch oder in beruflicher Absicht – ist zur Routine geworden. Der Fall der Grenze, die Möglichkeit, sich umsehen zu können, das Ende der alten Feindbeobachtung – all das hat einen neuen Zugang ermöglicht. Eine Bedingung, sich dieser längst erledigt geglaubten Geschichte zuzuwenden, war aber auch, sich zu fragen, was dem bisher im Wege gestanden hat, und die Blockierungen aufzulösen, die einer modernen Auseinandersetzung mit dem ehemaligen Deutschen Osten im Wege gestanden hatten.

Der »Deutsche Osten«, »Deutsche im östlichen Europa« – ein erratischer Block, der deutsche Ostkomplex

Hartmut Boockmann hat im ersten, Ostpreußen und Westpreußen gewidmeten Band, der bei Siedler erschienenen »Deutschen Geschichte im Osten Europas« über die terminologischen Metamorphosen des Deutschen Ostens oder Ostdeutschlands gespottet und die semantische Schrumpfung von einem weiten Deutschen Osten auf die neuen Länder ironisiert. In der Tat ist es nicht ganz einfach, den Deutschen Osten genau zu definieren. Im Katalog der Ausstellung »Große Deutsche aus dem Osten«, die nach der Wiedervereinigung und der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als der endgültigen deutsch-polnischen Grenze gezeigt wurde, heißt es etwa: »Der geographische Begriff Osten bezieht sich historisch auf diejenigen Reichsgebiete, die nicht zu den seit dem 3. Oktober 1990 zur Bundesrepublik zusammengeschlossenen Teilen Nachkriegsdeutschlands gehören, und auf die deutschen Siedlungsgebiete außerhalb des Deutschen Reiches im Osten und Südosten Europas. Insgesamt war dies ein Lebensraum von mehr als 16 Millionen Deutschen, davon nach dem Ersten Weltkrieg etwa 10 Millionen Inlandsdeutsche« (aus dem Ausstellungskatalog).

In einer älteren Definition bei Otto Hoetzsch, einem der Begründer des Fachs osteuropäische Geschichte in Deutschland, wurde darunter »nicht nur das rein deutsch besiedelte Gebiet, sondern auch das Gebiet der nationalen ›Gemengelage‹ und dazu das Gebiet kultureller Ausströmung und Ausstrahlung der Deutschen in den Osten hinein« verstanden (Hoetzsch 212). In beiden Formulierungen ist jedenfalls nicht die Reichsgrenze maßgeblich, weil es Deutsche der Sprache und Kultur nach auch jenseits der Reichsgrenzen gab. Im Baltikum, in Kongresspolen und dann in der Zweiten Republik, in der Donau-Monarchie und in den aus ihrem Zerfall hervorgegangenen Nachfolgestaaten, in historischen Landschaften, in denen sie und die deutsche Sprache und Kultur eine bedeutende Rolle spielten: in der Bukowina, in Bessarabien, in der Gottschee, in Siebenbürgen, in den Siedlungen der Donauschwaben, in Böhmen, nicht zuletzt bei den Schwarzmeerdeutschen und den Russlanddeutschen an der Wolga.

Der grenzüberschreitende Terminus von »Deutschem Osten« ist natürlich anfechtbar, weil hier zwei Begriffe zusammenkommen: ein politischer, staatsbürgerlicher Begriff und ein ethnischer oder volksmäßig, völkischer. Man könnte sich dezisionistisch auf die Ostprovinzen des Reiches beschränken und einfach einen Schnitt machen zwischen Ostprovinzen des Reiches und den Deutschen in den Staaten des östlichen Europa, zwischen Reichsdeutschen und Auslands- oder Volksdeutschen. Aber man ist damit das geschichtliche Problem nicht los, das darin bestand, dass staatliches Territorium, Ethnos oder Nationalität, Sprache und Kultur im östlichen Mitteleuropa, in das auch das Deutsche Reich hineinreichte, nicht identisch waren. Deutsche lebten auch außerhalb des Deutschen Reiches, was im Rahmen der Vielvölkerreiche auch kein Problem, sondern eher eine Selbstverständlichkeit war und erst im Zusammenhang des Nationalismus und der Volkstumskämpfe zu einem Problem wurde. Es ist daher wahrscheinlich angemessener, die Komplexität, das geradezu Flüssige und Unbestimmte des Deutschen Ostens aufzunehmen und die geschichtliche Evolution seiner Bedeutung zu untersuchen und zu fragen, weshalb und unter welchen Bedingungen er zum Kampfbegriff werden konnte.

Der Deutsche Osten ist, wie man beim Studium der einschlägigen Literatur schnell feststellen kann, nicht nur vieldeutig, sondern geradezu ein vielgestaltiger, polymorpher, wuchernder Begriff. Osten und Deutscher Osten taucht seit den 20er Jahren in unendlich vielen Variationen und Kombinationen auf: Ostwunder, Ostarbeit, Ostraum, Ostsendung, der Wille zum Osten, Ostnot, Ostmark, Ostwendung, Ostwanderung, Osterlebnis, Ostprogramm, Oststudium, Stil des Deutschen Ostens, das »ostdeutsche Volk«, Ostuniversitäten, Ostsemester, die Ostfrage, »die Menschen des Ostens«. Später kamen natürlich noch andere gravierende Erfahrungen hinzu, die »den Osten« semantisch aufluden, ja: so stark imprägnierten und kontaminierten, dass ein naiver Umgang mit »dem Osten« nicht mehr möglich erschien – das Ostfronterlebnis im Zweiten Weltkrieg, Generalplan Ost, die Erschließung des Ostraumes, »der Osten« als allgemeine Richtungsbezeichnung für Deportationen und Massenmord, Hauptschauplatz des Judenmordes, dann aber auch Kriegsgefangenschaft im Osten und schließlich Flucht und Vertreibung aus dem Osten.

Es haben sich in diesem Terminus viele Elemente amalgamiert. Die Rede vom Deutschen Osten spiegelt fast einen Komplex wieder, ein Syndrom, einen Mythos. Die Karriere des Deutschen Ostens beginnt in der Zeit der Germanisierungspolitik in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches noch vor dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber nach der Niederlage 1918 und dem Frieden von Versailles und der erbitterten Revisionspolitik der Weimarer Republik gegenüber der zweiten polnischen Republik. In den 20er Jahren entsteht die Ideologie des »Deutschen Kulturbodens« und des »Volks-Lebensraums«, mit der die Auslands- und Volksdeutschen für die Revisionspolitik eingespannt und instrumentalisiert werden. Hier ist bereits eine Wendung zum Volkstum und ins Völkische, mit seiner Überlegensheitspose und mit seinem Sendungsbewusstsein gegenüber den östlichen Nachbarvölkern angelegt, auf der dann das nationalsozialistische Deutschland spielen kann und spielen wird, um sie später radikal rassistisch zu überbieten.

Was immer man darunter in den verschiedenen Epochen verstanden haben mag: Es handelt sich um keinen unschuldigen Begriff, er ist, wenn man es kurz sagen will: ein Kampfbegriff, entstanden in der Zeit des modernen Nationalismus und Imperialismus. Der Deutsche Osten trägt die Züge einer Konstruktion, einer Projektion, manchmal gemäßigt in Form eines liberalen Kulturträgertums, manchmal militant, militärisch, ja: mörderisch. Das Vokabular ist, wenn man die wissenschaftlichen und die populären Veröffentlichungen der Weimarer Zeit und dann des Dritten Reiches liest, aufschlussreich: Es geht immer um Verteidigung, Abwehr, Behauptung, Selbstbehauptung, Durchhalten, die Tugenden der Kolonisten und Kolonialisten, um eine Mission und um Pioniere, um eine Avantgarde, um Opfer, Heroismus, um einen Ausnahmezustand, wie er an vorgeschobenen Posten und Grenzländern Gang und Gäbe ist. Es erinnert immer ein wenig an Frederick Jackson Turners Rede von der Frontier im amerikanischen Westen. Eine Art Wilder Westen im Osten. Städte sind Ausfalltore, Brückenköpfe. Es ist das Feld einer permanenten Selbstüberforderung und Überanstrengung, die klassische Kolonialsituation und die Psychologie des Kolonisten/Kolonialisten.

Kurzum, »Deutscher Osten« ist beides: ein Mythos, ein Phantasma der Grenzenlosigkeit, der Entgrenzung, der Weite des Raumes, der unbegrenzten Möglichkeiten, aber auch die Rhetorik der Überanstrengung, des Heroischen, Missionarischen, Gewalttätigen, eine Geschichte von Schicksal und Opfer. Dieses Doppelte – Phantasma und Trauma – ist eingetragen in die Mental Maps der Deutschen. Ihre Analyse würde unschwer auf die Spur eines spezifischen deutschen Orientalismus führen, ein Amalgam aus phantastischem Ausgreifen und Angst, aus großmaßstäblichen Planungsphantasien und Furcht, sich in der Grenzenlosigkeit zu verlieren. Man könnte vielleicht sagen, dass die Analyse des deutschen Orientalismus ein zentraler Beitrag zur Entschlüsselung der »deutschen Seele im 20. Jahrhundert« wäre, ein Schlüssel, der vielleicht eher im Osten als im Westen zu finden ist. Aus all diesen Gründen ist klar, weshalb wir uns schwer tun mit dem Deutschen Osten: Es ist ein Terminus, der wie viele andere Vokabeln auch, kontaminiert und semantisch korrumpiert ist und für immer unbrauchbar geworden zu sein scheint.

Nachdenken über Ostforschung: die Auflösung des Komplexes

Zu den schon genannten »Ost-Kombinationen« gehört oder gehörte auch die Ost-Forschung und die Ostkunde. Eine der Definitionen, die man finden kann, versteht darunter eine Forschung, »die den Beitrag der Deutschen zu Kultur und Geschichte des östlichen Europa untersuchte, wobei in der Regel von der Dominanz deutscher Kultur und der einseitigen Einflussnahme auf das kulturelle Leben der Nachbarvölker ausgegangen wurde (›Kulturträger‹-Theorie). Die Möglichkeit einer wechselseitigen Befruchtung wurde entweder schlicht abgestritten oder aber als Frage gar nicht erst aufgeworfen.« (Beate Störtkuhl: Deutsche Ostforschung und Kunstgeschichte, 119) In ihr sind alle Disziplinen, die sich mit dem Osten beschäftigen, zusammengeschlossen: Zu ihr gehörten Geschichte und Soziologie, Politik und Alltagskultur, Recht und Demographie, aber immer nur, soweit sie auf den Osten bezogen sind. Sie ist an einen politischen Auftrag gebunden, und ihre Geschichte als Fach, als Tätigkeitsfeld beginnt in dem Augenblick, wo der Osten und der Deutsche Osten für das Reich relevant wird, also seit dem späten 19. Jahrhundert. Ostkunde und Ostforschung sind, wenn man es positiv sehen will: politikbezogene Area Studies, eine Art von Intelligence. Die Deutsche Ostforschung hat den Blick auf den Osten generiert, präpariert, konditioniert. Sie ist das denkende Organ, das der deutschen Politik im europäischen Osten zur Seite steht, ihr zuweilen vorauseilt, und deren Zeit in der »Stunde der Experten« kommen wird. Sie hat glänzende Leistungen aufzuweisen und sie hat mörderische Komplizen hervorgebracht. Konstitutiv für sie ist, wie Michael Fahlbuch gezeigt hat, die Verschmelzung von Deutschtumsfixierung, Volks- und Kulturbodentheorie sowie der Ostmitteleuropa-Bezug. Sie ist, dies eine Formulierung von Günter Stökl, »Konstituierung und Institutionalisierung einer akademischen Hilfswissenschaft der Außenpolitik«, eine Art Think Tank der jeweiligen politischen Klasse. Sie war, wie Theodor Schieder meinte, der es wissen musste, »Ganzheitsforschung im umfassendsten Sinne des Wortes und damit zum sichtbarsten Ausdruck des Strebens nach Ganzheit innerhalb der deutschen Landes- und Volksforschung«.

Sie hat ihre Geschichte, ihre Institutionen, personellen Netzwerke, die häufig auch die Brüche der politischen Systeme überdauert haben. Sie war mit ihren Institutionen der institutionelle Ort für die Generierung der Bilder vom europäischen Osten und vom deutschen Osten, und sie hat sich erstaunlich zäh über die politischen Zäsuren, ja Zusammenbrüche hinweg gerettet, bevor sie am Ende des Kalten Krieges funktionslos wurde und gleichsam abstarb. Dabei lassen sich deutlich drei Entwicklungsetappen unterscheiden.

Nach Versailles wurde die Ostforschung stimuliert durch eine energische Revisionspolitik, vor allem gegenüber Polen (aber es gab auch eine Westforschung, wie Peter Schöttler gezeigt hat). Deutsche jenseits der Reichsgrenze fungierten nun als bedrückte Minderheiten, als Inseln und Brücken deutschen Volkstums, und wurden als Fünfte Kolonnen der Revisionspolitik benutzt. Die in den 20-er Jahren von Geographen, Volkskundlern, Historikern, Sprachkundlern entwickelte Theorie von Volkstum und Kulturboden lieferte hierzu eine anspruchsvolle Legitimation. Die Theorie des Kulturbodens lief im Grunde auf eine Territorialisierung deutscher Revisionsansprüche hinaus. Diese Volkstumsgeschichte ist, wie zahlreiche Forschungen mittlerweile gezeigt haben, wohl ethnozentristisch, aber nicht notwendigerweise rassistisch. Dies ändert sich mit dem Machtantritt des Nationalsozialisten.

Im Dritten Reich kam es zu einem Übergang von einer deutschtumszentrierten, völkischen zu einer offen rassistischen Linie im Dienste nationalsozialistischer Aggression und Herrschaft. Volkstumsforschung gibt sich jetzt antislavisch und antisemitisch. Volkstumsforschung wird nun ein Instrument nicht nur von Revisionspolitik, sondern zum Instrument weitgehender ethnopolitischer Umgestaltungsplanungen im besetzten Europa (»Generalplan Ost«). Es ist durch Forschungen längst erwiesen, wie eng führende Vertreter verschiedener Abteilungen der Ostforschung – Historiker, Soziologen, Demographen, Geographen – mit dem Regime zusammengearbeitet haben. »Die Stunde der Experten« hatte Michael Burleigh diesen Augenblick genannt.

Nach 1945 war es der Übertritt ins westliche Lager des Kalten Krieges, diesmal im Namen des Abendlandes und des Kampfes gegen den Kommunismus, der einen Bruch, eine Bilanz, eine Reflexion verhindert hat. 1945 ist kein Jahr des Bruchs. Theoretische Konzeptionen werden nach Tilgung der unmöglich gewordenen Formeln – Rasse usf. – weiterverfolgt, Institutionen und personelle Netzwerke existieren weiter oder werden reorganisiert. Ostforschung ist jetzt im Zeitalter des Kalten Krieges und der Konfrontation von Kommunismus und freier Welt buchstäblich »Frontwissenschaft« geworden. So wird es bleiben bis zum Ende des Kalten Krieges; Danach verliert sie ihre exponierte Stellung, auch ihre intellektuelle Schärfe – »Feindbeobachtung« – und Leistungsfähigkeit. Sie gerät irgendwie ins Aus. Das alles ist, wenn man die Karrieren von bedeutenden Ostforschern ansieht, beschämend und bedrückend, unterscheidet sich aber nicht so sehr von der »Eliten-Kontinuität« in anderen Bereichen.

Es hat lange gedauert, bis die Ostforschung in Deutschland einer selbstkritischen Überprüfung unterzogen wurde. Sie wurde in der Regel weder von den Ostforschern selbst, noch von deren Schülern in Angriff genommen, sondern kam, wie im Falle von Michael Burleighs Studie »Germany turns Eastwards« von 1987, »von außen«, oder blieb beschränkt auf einzelne Vorstöße wie Christoph Klessmanns bedeutenden Aufsatz über Osteuropaforschung und Lebensraumpolitik im Dritten Reich, dann schließlich von den »Enkeln«, die sich einen anderen Blick erlauben und sich eine grössere Freiheit herausnehmen konnten. Hier sei nur erinnert an die Auseinandersetzungen auf dem Deutschen Historikertag 1996 und an die Arbeiten von Historikern der mittleren und jngeren Generation (Götz Aly, Michael Fahlbusch, Willy Oberkrome, Peter Schöttler, Kai-Arne Linnemann, Ingo Haar, Thomas Etzemüller und Eduard Mühle; vor allem aber die vergleichenden Studien, die das deutsch-polnische Team Jan M. Piskorksi, Jörg Hackmann und Rudolf Jaworski herausgegeben haben).

So wie der europäische Osten der zentrale Schauplatz deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert geworden war, so ist auch die Ostforschung keine periphere akademische Angelegenheit gewesen. In ihrer Geschichte spiegelt sich möglicherweise das Drama der Politisierung und der Verstrickung der Sozialwissenschaften im Nationalsozialismus am krassesten. Herausragende »Fälle« wie die von Theodor Schieder, Werner Conze, Hermann Aubin, und anderen sind in den letzten Jahren erforscht und diskutiert worden, weitere werden noch vorgestellt werden – wie die Biographie des Autors von »Das Judentum im osteuropäischen Raum« (1938), Peter-Heinz Seraphim. Die Kritik der deutschen Ostforschung arbeitete heraus, dass es weithin eine personelle Kontinuität über die Brüche der Systeme hinweg gab: darunter die Netzwerke der Königsberger, der Breslauer, der Posener, der Göttinger usf. Sie legte die Kontinuität institutioneller Strukturen offen – Dahlemer Publikationsstelle, Herder-Institut, Nordost-Forschung usf. Und sie analysierte, was weitaus schwieriger war, die Kontinuität im Theoretischen und Methodischen. Diese Kontinuität bestand in der Pflege des volkstumsgeschichtlichen Paradigmas in der Geschichtsschreibung der Stellung der Deutschen im östlichen Europa. Genauer ging es in der Analyse um die Frage, wie sich in der volkstumsgeschichtlichen Wende der 20-er Jahre möglicherweise die völkische, dann auch ethnoradikale und rassistische Wende der Nazi-Zeit vorbereitet hatte, aber auch um die Frage, ob nicht in der Wendung auf eine Volksgeschichte hin jene methodische Modernisierung angelegt war, die dann nach dem Krieg als moderne Sozialgeschichte Schule machen sollte.

Es war vermutlich kein Zufall, dass der Ort dieser »Modernisierung« in den Gemenge- und Grenzlagen des »Deutschen Ostens« und des östlichen Mitteleuropa lag, und es war sicher auch kein Zufall, dass die Laboratorien dieses Denkens die Ost- und Grenzlanduniversitäten geworden waren, vor allem Königsberg und Breslau. Ostforschung war in vieler Hinsicht ein großes inter- und transdisziplinäres Projekt, in dem Demographie und Soziologie, historische Geographie und Kunstgeschichte, Anthropologie und Geschichte, Archäologie und Sprachforschung, Architektur und Kulturgeographie zusammenfanden. Die Konsequenzen der Wendung ins Völkische waren außerordentlich weitreichend: Wissenschaft hatte eine – politische – Mission, nämlich die Stärkung des »Volkstums«. Geschichte wurde retrospektiv in den Termini des Völkischen wahrgenommen und geschrieben – auch wenn es sich um Epochen handelte, in denen von deutscher Nation oder Deutschtum noch gar nicht die Rede sein konnte. Gesellschaftliche Prozesse, gefasst in völkischen Termini, ließen sich nicht mehr angemessen beschreiben: Modernisierung oder Rückständigkeit waren nicht etwas, was geschichtlich oder sozialwissenschaftlich erfasst werden konnte, sondern was sich aus einem »Wesen« oder »Charakter« eines Volkes ergab. Dies galt für wirtschaftliche Entwicklungen ebenso wie für Stilfragen und Kunstepochen. In einer volkstumszentrierten und dann auch völkischen Interpretation kamen Geschichte und Kultur der Völker und Gesellschaften des östlichen Europa immer nur als eine abhängige Variable deutscher Entwicklung vor, nie in ihrem selbständigen und für sich stehenden Wert. Sie verfehlten die »Gemengelagen« des östlichen Europa, sie bekamen die Hybrid- und Mischkulturen, die für diesen Raum charakteristisch waren, nicht zu fassen, sie eliminierten die Übergangs- und Grenzzonen zugunsten des Eindeutigen und eindeutig Zuordenbaren. Das Homogene zählte mehr als das Heterogene. Es war viel von Haltung, Charakter, wenig aber von Institutionen und politischen Formen die Rede. Die Volkstumsgeschichte wurde so, obwohl angetreten gegen die in der Staatsgeschichte liegende Verkümmerung, eine Schule methodisch und theoretisch legitimierter Exklusion, Separation, Segregation, letztlich: der Entmischung und Säuberung: Das Deutschtum war gleichsam der archimedische Punkt, von dem aus die Welt der anderen kategorisiert und hierarchisiert wurde. Mischformen und Übergangssituationen galten als minderwertig und bedrohlich. Die Nicht-Deutschen, später radikalisiert: die Nicht-Germanen und Nicht-Arier wurden zu Adressaten nicht eines Dialogs, sondern Objekt von Missionierung und Unterwerfung, und später, wie man weiß, auch der Vernichtung.

Die Ostforschung fand unmittelbar nach 1945 kaum die Zeit und noch weniger die Courage zu einer Selbstprüfung, Selbstmitleid, Weinerlichkeit und Ressentiment dominierten – von Ausnahmen abgesehen. Führende Köpfe wie Hermann Aubin, in der BRD Vorsitzender des Historikerverbandes, wollten explizit »kein Scherbengericht«. Der neue Kampf, diesmal gegen den Kommunismus, eröffnete neue Aufgabenfelder: Es ging jetzt gegen das »Vorrücken des Sowjetsystems an Elbe und Werra«. Walter Schlesinger meinte, dass »nach dem totalen Zusammenbruch des deutschen Ostens, der Vertreibung seiner Bewohner und der Verknechtung der Bevölkerung Mitteldeutschlands ... die Zielsetzung der deutschen Ostforschung wie zwischen den beiden Weltkriegen auch heute politisch bestimmt ist, dass sie der Revision des gegenwärtigen Zustandes dienen möchte, der Wiedervereinigung und der Klärung des Heimatrechts der Ostvertriebenen« (Schlesinger 346). Die Verknüpfung von Revisionspolitik und Ostforschung hat jene, die daran festhielten, auf kurz oder lang in die intellektuelle und politische Isolation geführt. Der Widerstand gegen die nach 1945 geschaffenen Tatsachen hat zu einer Isolierung und Verkümmerung der Wahrnehmung geführt, zu einer Ignorierung der Entwicklungen, die nach 1945 eingesetzt hatten. Zur Unfähigkeit der Betroffenen gesellten sich die Ignoranz und das Desinteresse der nicht unmittelbar Betroffenen, der so genannten »Normaldeutschen«, die nicht vertrieben worden waren, so dass wir von einer Verkümmerung des Themas des »deutschen Ostens« sowohl im Milieu der Vertriebenen wie auch innerhalb der akademischen Welt, aber auch in einer weiteren Öffentlichkeit sprechen können. Die allgemeine Geschichte interessierte sich nie sonderlich für das östliche Europa und schon gar nicht für das Thema der Deutschen im östlichen Europa. Das östliche Europa kam nur in den Blick, insofern es von den Nazis besetztes Europa war. Die Geschichte der Deutschen im östlichen Europa und die großen Kapitel kamen nicht mehr vor. So kann man vielleicht sagen, dass es nach einem Bruch, nach einer langen Fermate zu einer Neuentdeckung dieser Geschichte kommen wird, nein: Sie ist schon in Gang gekommen. Und es zeichnet sich ab, was eine Geschichte, die sich von Revanche und Rechthaberei losgesagt hat, bewerkstelligen kann.

Eine moderne Sprache für ein altes Problem. Die Reeuropäisierung des Deutschen Ostens

1989 hat die Situation vollständig verändert, wenngleich die Veränderungen schon lange vorher vorbereitet worden sind. Aber 1989 hat doch eine neue Situation geschaffen: Es ging nicht mehr um Feindbeobachtung, sondern um Verstehen; es ging nicht mehr um Rechtfertigungen und Entlarvungen, sondern um möglichst wahrheitsgetreue Berichte und Erzählungen. Endlich waren alle Archive geöffnet und die Quellen zugänglich. Die Zensur war abgeschafft, die Forscher, die sich etwas zu sagen hatten, konnten miteinander Kontakt aufnehmen und jene, die seit Jahrzehnten ihre Heimat nicht gesehen hatten, konnten sich umsehen. Eine glückliche Situation, in der die Geschichten erzählt und die Bilder gezeigt werden können, auf die wir ein halbes Jahrhundert haben warten müssen. Und in der Tat ist vieles geschehen, das im Einzelnen nicht aufgezählt werden kann. Ich werde es daher schematisch aufzählen:

Erstens: Der größte Zugewinn des letzten Jahrzehnts ist das Heraustreten aus einer verengten nationalen Wahrnehmung. Man ist, so scheint es, der retrospektiven Rechtfertigungen müde und findet sich bereit zur Anerkennung auch der jeweils anderen. Man gesteht sich die Dummheit ein, die darin liegt, die Streitigkeiten und Leidenschaften des Volkstumskämpfe des späten 19. Jahrhunderts in die Epoche des Hochmittelalters, und die Schrecken des Imperialismus in die Zeit der Städtegründungen und des Landesausbau des 12. und 13. Jahrhunderts zurückzuverlegen. Man ist sich über die Sinnlosigkeit von Wesenszuschreibungen und Kollektivseelen von Völkern einig – auch der Mythos vom »deutschen Drang nach Osten« ist ein solcher. Man gesteht sich ein, dass es nichts bringt, Kopernikus zu polonisieren oder zu germanisieren, hatte er doch einer Zeit angehört, in der man zwanglos beides sein konnte.

Zweitens: Die Geschichte der anderen steht für sich, ist nicht allein und erst im Hinblick auf die Deutschen interessant. Zunächst handelt es sich um eine Wendung des Blicks. Es ist die Abdankung des Blicks von oben herab, das Ende der Missionierungsperspektive, die den ganzen Osten nur als weisse, unbeschriebene Fläche sieht, als tabula rasa, ein Gelände, in das Kultur »verpflanzt« werden muss. Die Pluralisierung der Perspektiven entspricht auch am ehesten den gemischten Gesellschaften und den Grenzländern der ostmitteleuropäischen Gemengelage. Das heißt: Die Geschichten bekommen ihre Komplexheit zurück, und damit ihren wirklichen Reichtum.

Drittens: Der Osten und der Deutsche Osten auf den Mental Maps der Deutschen ist weithin terra incognita, weißer Fleck. Es gibt keine Geschichte dieses eigentümlichen deutschen Orientalismus, in dem, wie in jedem bedeutenden kulturellen und mentalen Komplex viel zusammenkommt: Raum, Natur, Weite, die Situation der Frontier, Grenzenlosigkeit, Selbstgesetzgebung und Autarkie, »Wilder Osten«, das Authentische, Feld der Bewährung, aber auch traumatische Erfahrungen. Der Osten und der Deutsche Osten im besonderen ist ein einzigartiger Projektions- und Erfahrungsraum, ohne dessen Ausleuchtung wir vermutlich nicht verstehen werden, was im 20. Jahrhundert geschehen ist. Er hat viel mit dem zu tun, was Sigmund Freud, den »inneren Orient« genannt hat, nach außen projiziert.

Viertens: Was geschieht, wenn Grenzraum und Gemengelage nicht als Defekt, sondern als spezifischer Reichtum verstanden werden? Grenzräume, Grenzländer, die in einer ethnozentrierten Perspektive Abgrenzungs, Selbstbehauptungs-, Selbstverteidigungs und Ausfallräume werden, erscheinen in einer pluralen Perspektive, die der Gemengelage weit angemessener ist, als offene Räume, als Orte der Begegnung, der Vermischung, des Übergangs, der Produktion von Reichtum. Es ist der Ort der Vielsprachigkeit, der Multikulturalität und der Ausprägung von »pluralen Identitäten« zu einem Zeitpunkt, da es das Wort dafür noch gar nicht gab. Es ist leicht auszumalen, was geschieht, wenn wir Autoren wie Johannes Bobrowski oder Hermann Sudermann, Franz Kafka oder Paul Celan unter solchen Gesichtspunkten lesen. Borderland Studies tragen dem längst Rechnung, und man fragt sich, warum es so lange gedauert hat, bis die Erfahrungen der modernen Anthropologie und Ethnologie endlich in das unendlich reiche und komplexe Feld Europas vor seiner Säuberung und seiner Homogenisierung Eingang gefunden haben. Wir können die Ergebnisse einer neuen Beschäftigung mit den Vielvölkergesellschaften und vergessenen Grenzregionen des alten Europas schon ahnen, wenn wir neuere Arbeiten lesen: Norman Davies' Studie zu Breslau, Jeremy Kings Arbeit zu Budweis/České Budějovice, Andreas Kosserts Studie über Masuren. Solche Eröffnungen lesend, wird deutlich, dass der Deutsche Osten mit dem Mief der Volkstumsideologen wenig zu tun hatte und ein ziemlich weltoffener Raum war. Der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, vermutlich auch der europäischen, steht die Wiederbegegnung mit diesem großen Kapitel erst noch bevor.

Fünftens: Viele alte Themen werden, wenn man die Deutschtums-Fixierung hinter sich hat, neu verhandelt werden können – oder genauer: sind schon behandelt worden. Zentral in der Auseinandersetzung um den Deutschen Osten war immer die Frage nach der Ostwanderung und so genannten Ostkolonisation. Es handelt sich in der Tat um einen epochalen Vorgang, der einer neuen Vergegenwärtigung bedarf. Die deutschtumsmäßige Interpretation der Ostkolonisation litt unter den gewaltsamen nationalen retrospektiven Projektionen. Vom Korsett einer volkstumsgeschichtlichen Interpretation befreit, wird sie schlicht zur Geschichte eines grandiosen, säkularen Wanderungsvorgangs mit größten zivilisatorischen Wirkungen. Als Moment einer europäischen Wanderungs- und Migrationsgeschichte, die sich aus vielen Impulsen speiste und in mehreren Wellen ablief, ist sie eine gesamteuropäische Erscheinung wie die polnische Ostsiedlung oder die magyarische oder später die russische auch. Die Reformulierung der deutschen Ostsiedlung als Teil der europäischen Migrationsbewegung des Hochmittelalters und späterer Epochen dürfte profitieren von der heute aufs Neue gemachten Erfahrung großer transnationaler Wanderungen.

Sechstens: Damit verbunden ist das große Kapitel von Städtebildung, die bis heute weiten Teilen des mittleren und östlichen Europa ihr Gepräge verliehen hat. Es handelt sich dabei um Transfer entwickelter Rechts- und Organisationsformen und kulturellem Know-Hows. Ius Teutonicum war eben nicht so sehr eine ethnische Angelegenheit, als vielmehr die Ausbreitung innovativer und moderner Rechts- und Verfassungsformen. Stadtgeschichte im mittleren und östlichen Europa ist weniger eine der Ethnien, sondern eine Geschichte der bürgerlichen und zivilgesellschaftlichen Entwicklung. Stadtgeschichten sind vielleicht der genaueste Indikator für das Ineinander und das Komplexe der Gemengelage im mittleren und östlichen Europa, die freilich unter den Schlägen gewaltsamer Bevölkerungsverschiebungen fast unkenntlich geworden sind und gezielte Anstrengungen historischer Rekonstruktion erfordern.

Siebtens: Und hier schließlich wird vollends klar, dass der Rahmen einer rein nationalen Historiographie gesprengt wird. Den gewaltsamen Bevölkerungsverschiebungen, der »Bereinigung der ethnographischen Landkarte«, wie Hitler sie im Oktober 1939 angekündigt hatte, fielen im vergangenen Jahrhundert wohl zwischen 40 und 60 Millionen Menschen zum Opfer, darunter am Ende auch die Deutschen, die ihre Heimat im östlichen Europa und in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches verlassen mussten. Wie sollte die Verschiebung von Grenzen, ganzen Staaten und ihren Bevölkerungen in einem bloß nationalen Narrativ überhaupt erzählbar sein!

Schluss

Die Geschichte dieses Raumes, zerrieben in den Kämpfen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts, wird neu zusammengesetzt. Die Bilder vom »davor« und von »danach« werden nebeneinander gelegt und zusammen gesehen. So wird eine Verbindung, ja eine Kontinuität wiederhergestellt, die niemand im Moment des totalen Zusammenbruchs vor mehr als einem halben Jahrhundert sich hatte vorstellen können. Von zwei oder noch mehr Seiten wird an derselben Sache gearbeitet. Landschaften, die die einen als Heimat verloren hatten, sind zur Heimat der anderen geworden. Es gibt eine Fortsetzung der Geschichte nach dem Ende. Es gibt eine Gegenwart, die auf ein abgeschlossenes Kapitel folgte. Wovon wir einmal endgültig Abschied genommen haben, wird zum Ort einer Wiederbegegnung, ein Glück, auf das wir eigentlich nicht mehr hoffen konnten. Die Namen, die keiner mehr nennt, werden wieder genannt, zwanglos, ohne Eiferertum, eher der historischen Vollständigkeit und der Wahrheit wegen. Die Zeit des Desinteresses, ja sogar der Missachtung und Geringschätzung für die verschwundenen Regionen müsste eigentlich vorüber sein. Ich glaube, dass die kommenden Jahre eine Zeit der Wiederbegegnung mit Orten und Geschichten werden wird, die man vergessen, ignoriert, verdrängt hatte. Diese Wiederbegegnung erfolgt auf dem Boden der Anerkennung der Tatsachen, im Heute, in einer Welt, in der – wie durch ein Wunder – die Geschichte weitergegangen ist. Das ist nicht nur ein Moment der Melancholie oder Nostalgie, sondern des Abenteuers der Wiederbegegnung in einem veränderten Europa, in dem fast jeder seine verlorenen Provinzen hat, und in dem es kaum jemanden gibt, der nicht eine Heimat verloren hat. Der Deutsche Osten war eine solche Provinz sowie die Kresy, Galizien, Transsylvanien es auch waren. Ihren Reichtum und ihre Schönheit herauszulösen aus den falschen Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts, sie neu zu vergegenwärtigen und dem neuen Europa einzufügen, eine schönere und faszinierendere Arbeit lässt sich kaum denken. Die Zeit dafür ist reif. So reif, dass sie auch Irritationen aushält.

Links

Gemeinsames Kulturerbe als Chance
Die Deutschen und ihre Nachbarn im östlichen Europa

www.euv-frankfurt-o.de
Die Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) im Internet