15. Mitteleuropäische Nachwuchsgermanistentagung in der Bildungs- und Begegnungsstätte »Der Heiligenhof«
Ein Bericht von Gustav Binder, Studienleiter Heiligenhof, und Dr. Vera Schneider, Deutsches Kulturforum östliches Europa
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Aufmerksam lauschen die Studierenden von Prof. Dr. András Balogh (r.) den Referaten. Dank der strengen Zugangsreglements durfte der Mund-Nasen-Schutz am Platz abgesetzt werden.

Die europäischen Bäder und Kurstädte waren in ihrer Blütezeit im 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg Treffpunkte und Begegnungsorte des Adels und des Bürgertums, von Kulturschaffenden und Kreativen. 2021 wurden elf dieser Städte auf die Weltkulturerbeliste der UNESCO aufgenommen, darunter das böhmische Bäderdreieck mit den Kurstädten Franzensbad/Františkovy Lázně, Marienbad/Mariánské Lázně und Karlsbad/Karlovy Vary sowie Bad Kissingen, wo die Tagung »Bücher – Berge – Bäder« stattfand.

Die Bildungs- und Begegnungsstätte »Der Heiligenhof« hatte unter diesem Motto zur 15. Mitteleuropäischen Nachwuchsgermanistentagung eingeladen, um das Thema mit Fokus auf die Bäder im östlichen Europa in den Blick zu nehmen. Die Veranstaltung war bereits für Dezember 2020 vorgesehen, konnte aber pandemiebedingt nicht stattfinden und wurde auf 2021 verlegt. Trotz einiger kurzfristiger Absagen aufgrund der wieder steigenden Infektionszahlen konnte sie dann vom 28. November bis 3. Dezember 2021 durchgeführt werden.

Es nahmen fast ausschließlich Germanistikstudentinnen und -studenten aus Tschechien, Ungarn und Rumänien von den Universitäten Pilsen/Plzeň, Budapest und Klausenburg/Cluj-Napoca teil. Veranstaltet wurde die Tagung von der Akademie Mitteleuropa e.V. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa.

alle Fotos auf dieser Seite, sofern nicht anders angegeben:
© Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2021 • Vera Schneider

Der Heiligenhof am ersten Abend der Tagung. Foto: © Vera Schneider, Deutsches Kulturforum östliches EuropaDer Heiligenhof am ersten Abend der Tagung

 

Die Lesungen

 

Buchcover: Thomas Perle: Wir gingen weil alle gingen

Zu den Mitteleuropäischen Nachwuchsgermanistentagungen wird stets auch mindestens eine Autorin oder ein Autor mit biografischen Wurzeln im östlichen Europa und/oder ostmitteleuropäischer Thematik eingeladen, um den Teilnehmenden Einblicke in den Schreibprozess zu ermöglichen. Diesmal eröffnete Thomas Perle, ein 1987 in Oberwischau/Vişeu de Sus in der Marmarosch/Maramureş (Rumänien) geborener Autor, die Tagung. Nach den politischen Umbrüchen war er mit seiner ungarisch-rumänisch-deutschen Familie im Alter von vier Jahren nach Deutschland emigriert, wo er dreisprachig aufwuchs. Er studierte an der Universität Wien Theater-, Film- und Medienwissenschaft. In seinem künstlerischen Schaffen greift er Themen seiner Herkunft und Migration, das Verlassen der Heimat und die Neuankunft auf. Er inszeniert auch immer wieder am Deutschen Staatstheater Hermannstadt/Sibiu.

Perle las aus dem Drama karpatenflecken, das in der Spielzeit 2021/22 am Deutschen Theater Berlin und am Burgtheater Wien uraufgeführt wurde, und aus seinem 2018 erschienenen Prosaband wir gingen weil alle gingen.

In einer Lesung aus seinem poetischen Prager Tagebuch, das im Laufe eines einmonatigen Stipendiums entstanden war, nahm Dr. Peter Becher (München) die Zuhörerinnen und Zuhörer in eine Prager Wirklichkeit jenseits touristischer Fassaden mit. Der feinsinnige Chronist und ausgewiesene Sprachmeister führte das Publikum in Wort und Bild zu verborgenen oder wenig bekannten Plätzen und stellte deutsche und tschechische Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle aus dem Umfeld des Prager Literaturhauses vor. Mit seinem sehr persönlichen Reisebericht verstand es der Autor, für die Stadt an der Moldau zu begeistern.

Dr. Peter Becher während seiner Lesung, mit einem Foto aus dem historischen Empfangsgebäude des Prager Hauptbahnhofs. Rechts das Cover seines BuchesDr. Peter Becher während seiner Lesung, mit einem Foto aus dem historischen Empfangsgebäude des Prager Hauptbahnhofs. Rechts das Cover seines Buches


Die Referate


Dr. Jan Pacholski
(Breslau/Wrocław) skizzierte in der Einführung zu seinem Vortrag »Schlesische Bäder in der Reiseliteratur des ausgehenden 18. Jahrhunderts« die Geschichte und Topografie Schlesiens – vornehmlich Niederschlesiens. Er erklärte die Unterschiede zwischen dem Gebiet Schlesiens als einer historischen Landschaft und den heutigen polnischen Verwaltungseinheiten, wie die Woiwodschaften Niederschlesien, Oppeln und Schlesien (Oberschlesien) oder der historischen preußischen Provinz Schlesien, die einen Teil der Oberlausitz und die einst böhmische Grafschaft Glatz umfasste. Im weiteren Verlauf wurden die wichtigsten historischen Kurorte des Sudeten-Vorgebirges, der Grafschaft Glatz und Österreichisch-Schlesiens genannt.

Nach dieser historisch-geographischen Einführung stellte der Referent die Autoren der zu besprechenden Werke vor, wie Erdmann Friedrich Buquoi, Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Jakob Elias Troschel, Johann Tobias Volkmar, Johann Heinrich Friedrich Ulrich und schließlich E.T.A. Hoffmann. Anhand mehrerer Auszüge von Reiseberichten der erwähnten Schriftsteller wurde das Bild der schlesischen Bäder Flinsberg/Swieradow Zdroj, Altwasser/Stary Zdrój, Charlottenbrunn/Jedlina-Zdrój und Warmbrunn/Cieplice Śląskie-Zdrój im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert rekonstruiert. Der Referent kam zu dem Fazit, dass die später hochgepriesenen schlesischen Bäder um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert noch nicht das europäische Niveau erreicht hatten. Diesen Rang und Ruf erreichten sie erst im Laufe des 19. Jahrhunderts.

Die Wandelhalle im Kurhaus von Flinsberg/Swieradow Zdroj | Foto: © Zenobia Miszewska/WikipediaDie Wandelhalle im Kurhaus von Flinsberg/Swieradow Zdroj | Foto: © Zenobia Miszewska/Wikipedia


Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Schrader
(Genève/Genf) referierte über »Goethe als Gast in den böhmischen Bädern«. Während Goethes Frankfurter Jugendzeit und seine 57 Jahre in Weimar, aber auch die Italienaufenthalte und Schweizer Reisen detailliert erforscht sind, ist die Kenntnis der zusammengerechnet über drei Jahre, die er zwischen 1785 und 1823 auf seinen 17 Bäderreisen in Karlsbad, Teplitz, Franzensbad und Marienbad zugebracht hat, weit weniger verbreitet. Nirgends sonst hat er sich länger im Ausland – hier im zum österreichischen Kaiserreich gehörenden Böhmen – aufgehalten. Ein beträchtlicher Teil seiner poetischen Werke der Reife- und Altersjahre ist hier entstanden, dazu reizvolle Handzeichnungen von Sehenswürdigkeiten.

Hier konnte der Dichter von den Weimarer Verpflichtungen als leitender Minister, Theater-, Bergwerk- und Wegebau-Leiter Abstand gewinnen. Hier förderte er überdies im Austausch mit den Fachleuten aus der Region und unter den Kurgästen auch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten, beschäftigte sich intensiv mit der tschechischen Sprache und Literatur und fand Zeit zu kunstwissenschaftlichen Aufsätzen und weltliterarischen Lektüren. Er knüpfte wichtige Kontakte nicht nur zu den bekanntesten österreichisch-ungarischen Adelsfamilien, sondern auch zu den Mächtigen der deutschen Höfe, zum Kaiser Franz I. und zur Kaiserin Maria Ludovica, mit der er gemeinsam ein Drama (Die Wette) schrieb und aufführte, zum Bruder Napoleons und zum russischen Zaren.

Goethe mit seiner »Muse« Ulrike von Levetzow, Denkmal am Goethewanderweg in Marienbad/Mariánské Lázně unweit der Waldquelle. Foto: © Dmicha/WikipediaGoethe und Ulrike. Denkmal in Marienbad

Hier auch ergaben sich zwanglos Begegnungen mit Künstlerkolleginnen und -kollegen – Beethoven, Körner, Achim und Bettina von Arnim … – zudem periphere, teilweise aber tiefer berührende Liebesaffären, etwa zu Ulrike von Levetzow. Für die Planung des jungen Kurorts Marienbad wurde der Dichterfürst als balneologisch-städteplanerischer Experte beigezogen. Die meisten der späteren berühmten Kurgäste des böhmischen Bäderdreiecks reisten bereits bewusst »auf Goethes Spuren«.

Der bebilderte Vortrag gab einen Überblick über die verschiedenen produktiven Facetten und Wirkungen der Bäderaufenthalt Goethes und versuchte, allerlei auch in der Literatur oft kolportierte Klischee-Überlieferungen quellenkritisch zurechtzurücken.

Anknüpfend an das Referat von Hans-Jürgen Schrader befasste sich der Vortrag »Goethe und Stifter in Karlsbad« von Dr. Peter Becher (München) mit den unterschiedlichen Voraussetzungen und Kontexten der Badereisen von Goethe und Stifter nach Karlsbad. In den achtzig Jahren, die zwischen Goethes erster Reise (1785) und Stifters erster Reise (1865) lagen, hatte sich die europäische Geschichte auf dramatische Weise entwickelt (Napoleonische Kriege, Ende des Heiligen Römischen Reiches, Wiener Kongress, Deutscher Bund). Das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach war ein selbständiger Staat, das Erzherzogtum Österreich ob der Enns ein Kronland des Kaisertums Österreich.

Goethe war mit fast 36 Jahren bereits ein weithin bekannter Schriftsteller und zählte als persönlicher Freund des Herzogs und als Minister zur obersten Schicht des Staates. Er hatte noch fast 46 Lebensjahre vor sich und entfaltete nach der Italienischen Reise (1786/87) ein großangelegtes Werk als Schriftsteller und Naturwissenschaftler. Stifter stand mit seinen fast sechzig Jahren unmittelbar vor seiner Pensionierung. Auch er hatte sich einen Namen als Schriftsteller gemacht, aber auch die Ablehnung seines Nachsommers erleben müssen, er war gesundheitlich stark angeschlagen und hatte nicht einmal mehr drei Lebensjahre vor sich. Schließlich bestanden auch in finanzieller Hinsicht große Unterschiede. Während Stifter, der hohe Schulden hatte, sich die Finanzierung zusammenbetteln musste, wurde Goethe von seinem Herzog großzügig unterstützt. Die Voraussetzungen und Kontexte der Badereisen konnten also kaum unterschiedlicher sein.


Eine filmische Präsentation des Literarischen Reiseführers Böhmisches Bäderdreieck von Roswitha Schieb mit Lesung und Konzert kann auf dem YouTube-Kanal des Kulturforums abgerufen werden.

Dr. Vera Schneider (Berlin) verlas den Vortrag »Das böhmische Bäderdreieck als Inspirationsquelle für die Literatur« von Dr. Roswitha Schieb (Borgsdorf), da die Referentin aus gesundheitlichen Gründen nicht selbst anreisen konnte. Angelegt war das mit vielen Originalzitaten angereicherte Referat als »literarischer Spaziergang« durch Karlsbad, Marienbad und Franzensbad.

Diese drei böhmischen Bäder nehmen, zumindest in der Literatur, eine jeweils andere Färbung an: Karlsbad ist durch die Wucht des männlich-kraftvollen Sprudels ein heroischer Ort mit historischen Tiefendimensionen, ein prachtvolles Bad, an dem das Strahlen, Funkeln und Gleißen der oberen Gesellschaftsschichten zu einem Facettenreichtum von großer Schönheit beitrug. Mit Karlsbad literarisch verbunden sind, neben dem Großgestirn Goethe, unter anderen Lobkovitz von Hassenstein, Herder, Schiller, Adalbert Stifter, Heinrich Laube, Theodor Fontane, Turgenjew, Gogol, Jan Neruda, Karl Marx, Sigmund Freud, Louis Fürnberg, Johannes Urzidil und Karel Čapek.

Das nicht minder schöne, von lieblichen Höhenzügen eingefasste Marienbad dagegen ist stiller und ein wenig melancholischer als Karlsbad – auch, da es von einem Reigen berühmter unglücklicher Liebesgeschichten von Goethe über Chopin bis Kafka und Resnais umflort ist. Allerdings stehen den dünnhäutigen, nervösen Autoren durchaus humorvolle Schriftsteller wie Mark Twain, Gontscharow, Friedrich Torberg und Scholem Alejchem gegenüber.

Franzensbad dagegen ist ein kleines, hübsches, beschauliches Bad in einer flachen, berglosen Moorebene, das nicht-heroisch ist und gern mit amüsierter Milde betrachtet wird, nicht zuletzt, weil es als »Damenbad« galt. Und tatsächlich sind es vor allem drei große Frauennamen, die über das Bad schrieben: Marie von Ebner-Eschenbach, Fanny Lewald und Božena Němcová. Durch die enge Nachbarschaft vieler großer Namen in den böhmischen Bädern wurde ein Netz verdichteter Korrespondenzen über die Orte gespannt, das zum genius loci dieser Bäder maßgeblich beitrug.

Eine filmische Präsentation des Literarischen Reiseführers Böhmisches Bäderdreieck von Roswitha Schieb mit Lesung und Konzert kann auf dem YouTube-Kanal des Kulturforums abgerufen werden.

Der Vortrag »Balnearik und Sommerfrische. Die Berglandschaften und Bäder der Karpaten in der Literatur« von Dr. Markus Bauer (Berlin) handelte von den im heutigen Rumänien liegenden Kurbädern wie Herkulesbad/Băile Herculane, Bad Borseck/Borsec, Moldenmarkt/Slănic Moldova oder Dorna Watra/Vatra Dornei. Ihre Entdeckung und ihr architektonischer, ökonomischer und touristischer Ausbau wurde auf der Basis von zeitgenössischen Texten nachgezeichnet. An diesen ließen sich auch die Wahrnehmung von Natur und die lebensreformerischen Anweisungen ablesen, die mit dem Bäder- und Kurwesen verbunden sind. Das Interesse galt darüber hinaus anderen Formen der Geselligkeit wie der Sommerfrische oder villegiatura in den Donaufürstentümern. Diese fanden ihr Echo in der Literatur, wie etwa bei Calistrat Hogaș, Alexandru Vlahuță, Garabet Ibrăileanu, die insbesondere die moldauischen Karpaten und Kurorte zum Gegenstand ihrer Literatur machten. Illustriert wurden die Topografien dieser Orte durch historische Postkarten aus ihrer Entstehungs- und Blütezeit. Weitere Beispiele für literarische Motive finden sich in Mihail Sebastians Beschreibung von einem Skiausflug in die Karpaten mit ihren Hinweisen auf die touristische Infrastruktur in den 1930er Jahren und vor allem bei Max Blecher, der krankheitsbedingt 1929 bis 1934 eine Odyssee durch zahlreiche Sanatorien und Bäderorte auch im Ausland durchmachte. Der als einer der wichtigsten Vertreter der literarischen Moderne in Rumänien geltende Blecher schrieb eine unvollendet gebliebene Trilogie von Romanen, die seine Erfahrungen in den Kurorten verarbeitete und dem Thema eine spezifische Facette hinzufügte.

Buchcover: Barbara Klicka: Zdrój

Dr. Adrian Madej (Breslau/Wrocław) widmete sich »Barbara Klicka und Zdrój«. Die polnische Autorin wurde 1981 in Płock geboren. Sie ist Dichterin, Dramatikerin, Drehbuchautorin und Kulturanimatorin. Der Gedichtband Wrażliwiec aus dem Jahr 2000 war Klickas Debüt. Für den Lyrikband Nice hat sie 2016 den Breslauer Lyrikpreises Silesius und im gleichen Jahr den Literaturpreis Gdynia gewonnen. Zdrój ist ihr erster Roman, in dem Klicka eine durch ihren Wohnort und ihr Alter geprägte Frau porträtiert, die sich gezwungen sieht, sich den strengen Regeln in einem Sanatorium des polnischen Lehrerverbandes anzupassen. Im Roman setzt sich die Autorin mit den aus ihrer Lyrik bekannten Motiven des weiblichen Körpers und der Krankheit auseinander. Der Ort, an dem sich die Protagonistin erholen soll, ähnelt einem Labyrinth und wird schließlich zu einem Raum, in dem sie sich mit sich selbst, also mit eigenen Ängsten und Gewohnheiten konfrontieren muss. Man kann die These riskieren, dass Zdrój auch eine Auseinandersetzung mit einem rückständigen und provinziellen Bild des Landes Polen ist.

PD Dr. Miroslav Němec (Aussig/Usti nad Labem) griff im Vortrag »Böhmische Novellen von Erwin Guido Kolbenheyer im deutsch-tschechischen Kontext der Zwischenkriegszeit« die Frage auf, warum der Autor immer wieder als ein schlechthin sudetendeutscher Schriftsteller bezeichnet wird. Zuerst stellte Němec die Biografie und das Werk Kolbenheyers vor, dann analysierte er detailliert zwei Novellen, die der Autor Ende 1920er Jahre publizierte: Die Begegnung im Riesengebirge und Die Karlsbader Novelle.

Ein anschließender Vergleich beider Texte zeigte die Grundcharakteristika des literarischen Schreibens von Kolbenheyer, das sehr eng mit seinen weltanschaulichen und politischen Überzeugungen einherging. Diese waren durchaus anschlussfähig an die zwar gebildete, aber deutschnationale und antidemokratische politische Bewegung der Sudetendeutschen und später der nationalsozialistischen Ideologie. Die festgestellten kulturellen und weltanschaulichen Affinitäten und auch seine traditionsbewusste Schreibweise für ein hochgebildetes Publikum wiederum wurden zur Grundlage seiner Popularität.

Dr. Miroslav Němec begann sein Referat mit einem biografischen Abriss zum Leben Erwin Guido KolbenheyersDr. Miroslav Němec begann sein Referat mit einem biografischen Abriss zum Leben Erwin Guido Kolbenheyers.


Prof. em. Dr. Hans-Jürgen Schrader (Université de Genève) hielt einen zweiten Vortrag zum Thema »Lob der mittleren Höhen – Alois Brandstetters ›Sanftes Gesetz‹«. In ähnlicher Weise wie sein Böhmerwald-Landsmann Adalbert Stifter in der Vorrede zur Erzählsammlung Bunte Steine erhebt der aus Oberösterreich stammende Stifter-Preisträger Alois Brandstetter ein Lob der mittleren Höhen und sanften Sensationen zum poetologischen Programm. Gegen alle Verstiegenheiten und die Monumentalklischees von Fremdenverkehrswerbung, Bergsteigerromantik und dem atemberaubenden Höhenpathos des literarischen Montanmarkts setzt er von seinen ersten Kurzprosa-Texten an (vereint im frühen Sammelband Von den Halbschuhen der Flachländer und der Majestät der Alpen, 1980) auf die Darstellung und eine Lebensphilosophie des »juste milieu«.

Buchcover: Alois Brandstetter: Lebensreise

Am systematischsten ausgeführt hat er das im u.a. in seinem Großessay Almträume (1993), in einer intertextuell reich verspiegelten Konfrontation mit Albrecht von Hallers Versepos Die Alpen (1729), dem frühesten literarischen Augenöffner für die Bergwelt. Nicht im Aufsehenerregend-Bombastischen eines übersteigerten Alpinismus, sondern in den unscheinbaren Hügeln und Bodenwellen des Mittellandes zeigt er die tragenden Kräfte der Naturgesetze wie des menschlichen Zusammenlebens. Damit verbindet sich nicht nur das Programm einer neuen un- wie antiheroischen »Heimat«-Literatur (beispielhaft in seiner Anthologie von heimatkritischen Erzählungen Daheim ist daheim, 1973). Das Hohe oder Niedrige der Berge, das Erhaben-Bombastische oder aber Demütig-Bescheidene sind auch Metaphern für Lebenshaltungen, die die Literatur spiegelt: »Im Großen und Ganzen geht es ums Kleine«.

Diese auch politisch antiautoritäre Haltung und dieses Dichtungsprogramm stellte der Referent  an häufig satirischen, kurzweilig-humorvollen und sprachspielerisch-hintersinnigen Textproben aus dem Gesamtwerk bis hin zur autobiographischen Lebensreise (2020) des jetzt 83-jährigen Autors vor, wobei eine bei aller Unterschiedlichkeit der Töne fundamentale Geistesverwandtschaft mit dem doch biedermeierlich erzählenden Stifter zutage tritt.

Prof. Dr. András F. Balogh (Budapest und Klausenburg) machte »Die Berge in der deutschen Literatur des Donau-Karpatenraums« zum Thema seines Vortrags. Er ging von der Überzeugung aus, dass den Bergen in der Identitätsfindung eine Schlüsselrolle zukommt. Bedeutende Ereignisse in der jüdisch-christlich-europäischen Kultur ereigneten sich auf Bergen: So erhielt Moses die zehn Gebote vom Berg Sinai holte und die Leidensgeschichte Christi fand auf diversen Anhöhen statt. Damit entstand ein »Archetyp Berg«, der die Nähe Gottes und den Weg zu ihm bedeutete. Dieser wurde allerdings erst im späten Mittelalter durch Petrarca entdeckt, der bei der Besteigung der Mont Ventoux eine göttliche Schönheit vorfand.

Von Petrarca zog der Referent einen Bogen zu Albrecht von Haller. Dieser Dichter der Aufklärung führte den Topos weiter. Hallers Gegenstand der Dichtung waren die Alpen und generell die Berge. Mit diesem Thema war er der erste in der deutschen Literatur. Sein Gedicht Die Alpen ist ein Hohelied auf die Schönheit, Erhabenheit und Nützlichkeit der Berge.

Sicht vom Schuler/Postăvarul-Gebirge auf einen Teil des Burzenlandes in Siebenbürgen, Rumänien. © L. Kenzel/WikipediaSicht vom Schuler/Postăvarul-Gebirge auf einen Teil des Burzenlandes in Siebenbürgen, Rumänien. Foto: © L. Kenzel/Wikipedia

Die deutsche Literatur aus dem Donau-Karpatenraum – führte Balogh seinen Vortrag weiter – habe diese Sichtweise übernommen und auf die Karpaten übertragen. Die erste Schilderung einer Bergbesteigung findet man im Barockroman von Georg Daniel Speer: Im Kapitel 13 des Ungarischen oder dacianischen Simplicissimus werden die »Karpatischen Berge« bestiegen und überwunden. Dies gilt als die Initiation des Erzählers, der so zu einer erwachsenen und selbstbewussten Person wird.

Zu einem weitverbreiteten Topos werden die Berge dann in der Zeit der nationalen Romantik. Aus dieser Periode wurde ein Autor hervorgehoben: Samuel Bredetzky, der als ein Paradebeispiel der cross-culture galt – slawische Herkunft, österreichischer Patriotismus, ungarisches Selbstbewusstsein und deutsche Schriftsprache. 

Die Analyse des Gedichtes Burzenländer Berge von Adolf Meschendörfer bildete den Höhepunkt des Vortrags. Für den Dichter des modernen siebenbürgischen Ästhetizismus war das Burzenland und die umgebenden Berge eine Verkörperung der menschlichen Weisheit und Schönheit. Diese transponierte er in literarische Strukturen.

Als Ausklang wurden noch weitere Autoren wie Oskar Pastior und Hans Bergel erwähnt, dessen Texte oft in Bergkulissen erscheinen.

Frank Schablewski (Düsseldorf) widmete sich dem Thema »›Ins Leere gesprochen‹. Gedichte von Alfred Margul-Sperber über die Bukowina und ihre Menschen.« Aus dem genannten Band und aus Sinnloser Sang hatte der Rezitator und Interpret Gedichte ausgesucht, die die Menschen der Bukowina, ihre Eigenschaften und Attribute des Lebens beschreiben.

Der Dichter und Rezitator Frank Schablewski fesselte sein Publikum mit Lyrik von Alfred Margul-Sperber, aber auch mit eigenen Werken.Der Dichter und Rezitator Frank Schablewski

Zunächst stellte Schablewski den bukowinischen Lyriker vor, der als Jude die Kriegszeit als Verwaltungskraft in einem Schlachthof überlebte, nach dem Zweiten Weltkrieg in Bukarest strandete, wo er Paul Celan entdeckte und die rumäniendeutschen Autoren förderte. O-Ton Schablewski:

»Das Gedicht ist die Kunst, das Unsägliche zu sagen. Es ist ein Schweigen, in dem das Stumme gerade noch hörbar zu werden scheint. Das Gedicht ist eine Erinnerung an Niedagewesenes, die Hoffnung auf die Verwirklichung des Unerfüllbaren, das Lächeln eines Kindes über die Verworrenheit des Lebens, den Schauer der Vergänglichkeit und des Rätsels des Todes.«

In Gedichten wie Der Briefträger, Der erste Schritt oder Brot setzte Margul-Sperber seinen genauen Blick auf die Wirklichkeit, die sich ihm armselig wie reich vergegenwärtigte, in Verse um, die mit Reim und Metrik arbeiten und dennoch in Beziehung stehen zu den Dichtungen von Rose Ausländer und Paul Celan. Es folgten die Gedichte Tiefbahn, Dunkelstes Lied, Bald I, Der Brunnen, Der krumme Baum, die in ihrer Symbolik biblische Motive mit der Realität der Bukowina in den Jahren 1914 bis 1966 spiegeln. Schablewski zeigte einen Zugang zu Gedichten aus dem vergangenen Jahrhundert und verlebendigte diese für Studenten, die im 21. Jahrhundert geboren waren.

Ralf Höller (Bonn) referierte über »Géza Csáth im zentralslowakischen Bad Turčianske Teplice«. Der ungarische Schriftsteller Csáth war im Hauptberuf Arzt. Eine seiner ersten Stationen bildete das Kurbad Turčianske Teplice in der Mittelslowakei, das bis zum Ersten Weltkrieg als Stubnyafürdő Teil der transleithanischen Hälfte der k.u.k. Doppelmonarchie war und bis 1927 Bad Stuben/Štubňanské Teplice hieß.

In drastischer Sprache und schonungsloser Diktion enthüllte Csáths Tagebuch, von dem nur die Einträge ab Mai 1912 bis März 1913 erhalten sind, eine hinter der mühselig aufrechterhaltenen bürgerlichen Fassade bedrohlich ins Stolpern geratene Existenz. Csáths Leben war bald nur noch seinen Zwängen gewidmet: Sex, Drogen und dem Drang, alles penibel zu dokumentieren. Auch das Schreiben geriet Csáth zum Zwang. Er überlebte den Weltkrieg, doch nach dessen Ende wurde er auf Betreiben seiner Frau Olga Jónas in die geschlossene Abteilung der psychiatrischen Anstalt in Baja eingewiesen. Ihm gelang die Flucht, auf der er seine Frau erschoss und anschließend an jene Budapester Klinik zurückzukehren versuchte, in der er seine ersten Meriten als Mediziner erwarb. An der neuen serbisch-ungarischen Grenze wurde er aufgehalten. Csáth erkannte seine aussichtslose Lage und bat die Soldaten, ihn zu erschießen. Als sie ablehnten, nahm er sämtliche bei einem Apothekeneinbruch erbeuteten Drogen auf einmal. Géza Csáths Leben endete am 11. September 1919.

Die Stationen von Csáths Leben liegen heute in drei verschiedenen Staaten, früher gehörten sie zu Ungarn, das seinen Trianonkomplex bis heute nicht bewältigt hat. Der Autor war in Ungarn komplett in Vergessenheit geraten. In Deutschland hat der Berliner Verlag Brinkmann & Bose einen Teil seiner Werke aufgelegt.

Ralf Höller (Bonn) stellte in seinem zweiten Vortrag »Idylle mit Rissen: Die versunkene Welt des Krumauer Schriftstellers Wolfgang Schmidt« einen Autor vor, der 1923 in Passau geboren wurde und im südböhmischen Krumau an der Moldau/Český Krumlov aufwuchs. Schmidt begann erst mit Siebzig zu schreiben, Die Geschwister ist sein Debüt. In den 1990er Jahren hatte er mit seinem Erstling und zwei weiteren Romanen (Albertines Knie, Sie weinen doch nicht, mein Lieber?) auf dem deutschen Buchmarkt Erfolg. Dann machte ihm ein schweres Augenleiden jede weitere literarische Tätigkeit unmöglich. Im April 2013 setzte er, gemeinsam mit seiner Ehefrau Marianne, seinem Leben ein Ende. Beide waren schwerkrank und sahen keine Möglichkeit mehr, ein Leben in Würde zu führen.

Schmidt bezeichnete sich als »der letzte, der über die deutschsprachige Welt der 1930er Jahre im Böhmerwald geschrieben hat«. Diese Welt war ein Anachronismus. In Deutschland regierten die Nationalsozialisten und hatten mit ihrer Politik und Propaganda den Alltag  durchdrungen. Anders in den überwiegend von Deutschen besiedelten böhmischen Grenzregionen: Hier hatte es mit der Gründung der Tschechoslowakei zwar eine politische Zäsur gegeben, das Alltagsleben in Orten wie Krumau erfuhr aber keine gravierende Veränderung gegenüber der Vorkriegszeit.

Und als fast alle Staaten Mitteleuropas autoritäre Regime bekamen, hielt allein Prag die Fahne der Demokratie aufrecht. Davon profitierten nicht zuletzt die Sudetendeutschen, deren Politiker sich bis 1935 mehrheitlich aktivistisch verhielten und auch in den verschiedenen Regierungen präsent waren. Der Roman Die Geschwister spielt im Jahr 1935, als die Sudetendeutsche Partei bei den Parlamentswahlen stimmenstärkste Partei wurde und in der Folge immer mehr nach rechts rückte.

Themengerechte Snackpause zwischen den Vorträgen: Karlsbader Oblaten, importiert von Dr. Miroslav Němec und als Preis für gute Diskussionsbeiträge ausgesetztThemengerechte Snackpause zwischen den Vorträgen: Karlsbader Oblaten, importiert von Dr. Miroslav Němec und als Preis für gute Diskussionsbeiträge ausgesetzt


Der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Csaba Földes (Erfurt) beschäftigte sich in seinem Vortrag unter dem Titel »Mehrschriftlichkeit in Mittel- und Osteuropa: Schreiben im Spannungsfeld mehrerer Sprachen und Kulturen« mit einem in der Medienlinguistik noch weitgehend unerforschten Zeitungstyp: der Presse deutsch(sprachig)er Minderheiten im Ausland. Seine Ausführungen basierten auf einem von ihm geleiteten aktuellen Forschungsprojekt (www.pressesprache.de), dessen zentrale Inhaltsstrukturen bzw. -elemente sowie die bisherigen Beobachtungen und Ergebnisse er zunächst im Sinne eines Werkstattberichts zusammenfasste.

Anschließend stellte der Referent am Beispiel von drei Minderheitenzeitungen aus Russland (Moskauer Deutsche Zeitung), Kasachstan (Deutsche Allgemeine Zeitung) und Ungarn (Neue Zeitung) charakteristische Züge der Sprachgestaltung auslandsdeutscher Druckmedien vor. Es wurde u.a. festgestellt:

  1. Aufgrund von Mehrsprachigkeit und Mehrschriftlichkeit bildet vor allem eine Bandbreite sprachkontaktinduzierter Phänomene das wichtigste Alleinstellungsmerkmal dieser Zeitungen.
  2. Es liegen viele etwas eklektische und stilistisch-pragmatisch inkonsistente Texte vor.
  3. Inhaltliche und kulturinduzierte Auffälligkeiten prägen das Gesamtbild des untersuchten medialen Mikrokosmos.
  4. Die Kompetenzbesonderheiten der mehrsprachigen Textproduzenten färben auf die Textgestaltung ab.

Das Rahmenprogramm


Ein gewollter Nebeneffekt der Tagung war die länderübergreifende Vernetzung und Festigung von Kontakten der mitteleuropäischen Nachwuchsgermanistinnen und -germanisten untereinander und mit Vertretern bedeutender Institutionen. Dazu trug auch das Begleitprogramm bei. Tagungsleiter Gustav Binder (Bad Kissingen) lud unter dem Titel »Der Typus Kurstadt« zu einer ausgedehnten Stadtführung durch das neue Weltkulturerbe ein und stellte dabei vielfältige Verbindungen zu den anderen Badestädten der Great Spas of Europe her. Der gemeinsame Besuch eines Kurkonzerts, spontane Musikbeiträge am Abend und die Fortsetzung der Gespräche bei den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten schufen zudem einen inspirierenden informellen Rahmen.

Gustav Binder, Studienleiter der Bildungs- und Begegnungsstätte Heiligenhof (2. v. l.), war nicht nur ein treusorgender Gastgeber, sondern wusste auch als kenntnisreicher Stadtführer zu begeistern.Gustav Binder, Studienleiter der Bildungs- und Begegnungsstätte Heiligenhof (2. v. l.), war nicht nur ein treusorgender Gastgeber, sondern wusste auch als kenntnisreicher Stadtführer zu begeistern.


Fazit und Ausblick


Ein Anliegen der Veranstaltung war es, die jungen Germanistinnen und Germanisten zur Beschäftigung mit einschlägigen Quellen und deutschsprachigen Autoren aus dem östlichen Europa anzuregen. Sie sollten Impulse erhalten, den literarischen Beziehungen und Befruchtungen mit anderssprachigen Autoren und Literaturen nachzugehen, etwa im Rahmen einer Seminar- oder Abschlussarbeit. Es wurden zahlreiche Einzelstudien, methodische und theoretische Zugänge vorgestellt, aber auch allgemeine Hinweise zu wissenschaftlichen Arbeitstechniken gegeben.

Das studentische Interesse an der Tagung war spürbar. Die Referierenden und ihr Publikum ergaben eine Arbeitsgemeinschaft, die über den Seminarraum hinausreichte und weiterführende Arbeitskontakte erschloss.

Die Studierenden im angeregten AustauschDie Studierenden im angeregten Austausch